„Ja, das geht.“
Dieser kleine Satz, geäußert von einer absolut netten Stimme, katapultierte mich, noch während ich zu Hause am Schreibtisch saß und meine Recherche vorbereitete, an einen unmöglichen Ort: in die Vergangenheit und gleichzeitig in die Zukunft. Ich stellte mir vor, wie ich Anfang August auf dem großen Treffen der internationalen sozialistischen Falken-Jugend in Reinwarzhofen mein Zelt aufstellen würde, denn genau darauf zielte dieses verbindlich klingende „Das geht“ ja ab. Wie ich dadurch Zeitreisender werden könnte, denn Sozialismus und Zeltlager und Arbeiterschick sind so Vorkriegszeit oder zumindest siebziger Jahre und beides wollte ich schon immer mal erleben. Dann stellte ich mir vor, wie ich durch diese ganz reale Vergangenheit laufen würde, zwischen Zelten hindurch, in denen über die Zukunft der Menschheit philosophiert würde, so wie das Sozialisten nun einmal tun. Nichts wäre ja passender in diesen wilden Zeiten. All das also stellte ich mir vor, als ich das Telefon auflegte und diese Reportage plante, in der es um schwergängige, tiefschürfende Fragen höchster Bedeutung gehen sollte.
Ich hatte mir vorgenommen, das Große im Kleinen zu finden.
Aber als am ersten Abend des Zeltlagers eine Frau in lila Pudelkostüm ein Interview wortwörtlich bellte, dieses Interview ins Englische übersetzt wurde, und als dann auch noch alle klatschten und lachten (mich eingeschlossen), musste ich meinen Fehler einsehen. Die Stimme am Telefon hätte mir eine Warnung sein müssen: Sie war zu nett für den Klassenkampf. Aber um hier gleich Missverständnissen vorzubeugen: Die Stimme hatte keine Schuld, niemand auf diesem wunderbaren Camp hatte Schuld daran, dass ich nicht den Sozialismus des 21. Jahrhunderts im Vorübergehen entschlüsselt habe.
Ich will eine politische Reportage schreiben – wie vor mir nur Tocqueville in Amerika!
Das Zeltlager fand in einem Dorf bei einem etwas größeren Dorf bei einem kleinen Ort bei Nürnberg statt. Die letzte Station während meiner Anreise, die für mich noch irgendeine entfernte Erinnerung wachrief, war „Roth“, und da war ich mir auch nicht sicher, ob mir das nicht nur deswegen bekannt vorkam, weil der Schnurrbart des gleichnamigen Tagesthemen-Sprechers immer so wieselig wackelt. Ich stieg aus dem Zug aus und es begann zu schütten. Die nette Stimme am Telefon hatte mir angeboten, mich am Bahnhof abholen zu lassen; sie müssten sowieso einen Künstler, der heute Abend im Lager auftritt, einsammeln. Das Angebot hatte ich gerne angenommen.
Nun quetschten wir uns also zu dritt auf die Rückbank eines Kleinwagens, vorne rechts lehnte der Zaubertisch meiner/s magisch begabten Nachbar_in, der/die vielleicht Mitte zwanzig und unbestimmten Geschlechts war. „Gibt es in dem Lager auch andere Trans-Leute?“, fragte er/sie und der Fahrer, ein Mann mit Zopf, pinker Strumpfhose und pink lackierten Nägeln bejahte. „Gut“, fuhr er/sie fort. „Meinen letzten Auftritt hatte ich bei einem Wohnkollektiv, in dem sonst keine weitere Trans-Person lebte. Das war ein bisschen blöd, denn morgens bildeten die Männer einen Meditationskreis und die Frauen einen Meditationskreis und dadurch haben sie mich in eine schwierige Situation gebracht.“
Ich starrte auf die nasse Landstraße; von so etwas habe ich keine Ahnung. Ich wollte mehr von der großen Politik hören. Ich hatte am Telefon erfahren, dass sich das Lager komplett selbst organisierte und das war natürlich interessant. Ich würde sogar so weit gehen: Deswegen war ich hier. Demokratie in Aktion, Engagement, ein bisschen Pathos für den Konsens. Der kann das gerade gebrauchen.
Während meiner Vorbereitung zu Hause hatte ich mich informiert, wie das Lager aufgebaut sein würde: Die Bewohner würden zu acht oder zehnt in Zelten schlafen, die wiederum zu Dörfern zusammengefasst sein sollten, die wiederum eine Stadt bildeten. Es sollte fünf Städte mit jeweils vier bis sechs Dörfern geben. Die Dörfer würden entscheiden müssen, wie sie den Tag verbringen, welche Workshops sie geben und welche Ausflüge sie machen wollten. Dann sollten sie einen Delegierten wählen, der zusammen mit den anderen Abgeordneten der Dörfer den Stadtrat bildete, der wiederum eine Person ins große Camp-Parlament entsandte, wo die Dinge geregelt wurden, die das ganze Lager betreffen würden.
Hört sich kompliziert an, war aber aufgebaut wie Deutschland: Kommunen, Länder, Bund. Und was ganz oben, beim Bund beziehungsweise Camp-Parlament landete, war wichtig. Im Auto zum Zeltlager fragte ich: „Welche Themen sind denn so im Camp-Parlament bisher gelandet?“ Der Fahrer antwortete: „Den größten Streit hatten wir um die Toiletten.“ „Um die Toiletten?“, fragte ich möglichst neutral und versuchte dabei, möglichst wenig enttäuscht zu klingen. „Gleich zu Beginn des Camps ging das los. Wir hatten nur Männer-und-Frauen-Klos und -Duschen, dagegen haben sich die Trans-Menschen gewehrt, mit Demonstrationen und so. An einem Abend haben sie sogar die Bühne eines Konzertes gestürmt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen”, erklärte der Fahrer. Außerdem gab es keine Beschilderung für genderneutrale Toiletten, und genug waren es auch nicht.
Diese knifflige Situation hatte das Camp gelöst, indem es vier verschiedene Schilder aufgehängt hatte. Ich fragte nun im Taxi voller Wohlwollen, aber scheinbar auch voller Naivität: „Warum macht man nicht einfach Unisex-Toiletten?“ Diese Frage kam bei ihr/ihm links von mir nicht ganz so gut an. Sie/er rutschte näher ans Fenster. „Ja, man muss ja auch noch duschen“, antwortet der Fahrer. Das Argument leuchtete mir ein, dann dachte ich darüber nach und es machte plötzlich keinen Sinn mehr. Und dann doch wieder. Am Ende war ich verwirrt und schwieg. In der Hoffnung, dass diese Fahrt zum Lager nicht stellvertretend für das Ganze stehen würde. Denn als der große politische Reiseschriftsteller Tocqueville in Amerika war, hat er auch nicht über Urinale philosophiert.
Dann endlich: Wir kommen an. Das Lager ist größer als man es sich vorstellt. Hunderte weiße Zelte stehen in großen Kreisen, kleinen Reihen, schiefen Dreiecken und akkuraten Romben auf dem Willy-Brandt-Zeltlagerplatz. Sie gruppieren sich jeweils um einen freien Platz in ihrer Mitte: den Dorfplatz, zu dem immer ein Tor aus Baumstämmen führt. Auf den Dorfplätzen sehe ich Feuerstellen, Mini-Fußballfelder, Sitzkreise, Wäscheleinen und einen aus Stroh und einer Bauplane improvisierten Pool. Am Rand der Städte finden sich jeweils selbst betriebene Cafés. Ich schlafe am hinteren Ende, im Dorf „Grüne Faust“. Im Inneren des Zeltes liegen ein paar Holzpaletten auf dem Boden, darauf Iso-Matten und Schlafsäcke. Meine Zimmergenossen haben ihre Schlafsäcke zusammengelegt, als wären es Bettdecken. Am Zeltende steht ein ungeöffnete Weinflasche auf der Palette, ich stelle sie aufs Gras und rolle meine Iso-Matte aus.
Beim Medienteam will ich wissen: Ihr seid Sozialisten? Und warum?
Als ich wieder draußen bin, wird mir das Medienteam vorgestellt. Drei Mittzwanziger mit offenen Gesichtern (eine Charakterisierung, die in diesem Lager eigentlich nichts taugt, denn wirklich alle haben offene Gesichter) und einer Mission: Sie wollen um sechs Uhr „die Nachrichten“ verteilen, die am Abend in jedem Café ausgestrahlt werden. „Die warten in den Cafés schon immer auf uns und freuen sich“, sagt einer der drei. Wir laufen der Vorfreude entgegen: Für mich eine perfekte Gelegenheit, die drei etwas auszufragen. Wo kommt ihr her? Wie seid ihr zu den Falken gekommen? Was treibt euch an? (Die letzte Frage frage ich so nicht, will ich aber natürlich herausfinden.) Die Jungs antworten: „Berlin“, „Habe in einer Falken-WG in Schwerin gewohnt“, „War früher selbst Falke“. Ich denke: Das läuft ganz gut mit den Jungs. An die will ich mich heute Abend halten und ein bisschen mit denen herumhängen; wenn ich mich ins Bett lege, werde ich wissen, wie man heute noch Sozialist sein kann.
Nun spüre ich auch Vorfreude. Als wir die Tour durch die Cafés abgeschlossen haben, wollen wir essen gehen. Ich muss nochmal auf die Toilette. Die Jungs gehen schon mal vor zum Verwaltungsgebäude des Lagers. In einem Zelt davor essen die ganzen Helfer. Es gibt Nudeln mit gebackenem Fisch und Ketchup. Ich tue mir auf und gerade als ich mich zum Medienteam setzen will, schnappt sich jemand den letzten Platz am Tisch. Ich nehme nebenan Platz, von den Jungs abgetrennt durch zwei Küchen-Mitarbeiter, die leise mampfend Fisch und Nudeln stopfen. Ich höre, wie die Nachbarn sich unterhalten: über Politik! Das große Ganze! Ich freue mich, aber ich verstehe nur die Hälfte: erst reden sie leise, dann auf Französisch. Ich schweige und mampfe auch.
Ein lila Pudel und K.I.Z. vernichten meine Hoffnung
Dann ist das Essen fertig, meine Mampfgesellen sind verschwunden, ein freies Gespräch mit meinen neuen, altbekannten Nachbarn entspinnt, über das bedingungslose Grundeinkommen. Ein wunderbares Thema, um zu erfahren wie jemand so tickt und ein guter Ausgangspunkt, um über die großen Sachen zu sprechen. Ich überlege mir schon die zum Sozialismus überleitende Frage, als die Chefin der deutschen Falken kommt und sich mir gegenüber an den Tisch setzt. Josephin Tischner heißt sie, kurz Josi. Ich freue mich. Wer, wenn nicht sie, kann mir vom Sozialismus erzählen? Dann legt sie los – von ganz allein – mit viel Energie über die Toiletten zu reden: Trans-Proteste, Diskussionen, Klo-Schilder, Kinder, die verwirrt und verängstigt davorstehen und sich in die Hose machen. Ich seufze innerlich, bleibe äußerlich aber reglos.
Wenig später muss sie los, hat noch Termine: einen Auftritt im lila Café und danach eine Podiumsdiskussion. Ich horche auf. „Jaja, über die Rolle der Polizei. Die fährt jeden Tag einmal durchs Camp, deswegen hatten einige Genossen ein Plakat aufgehangen, auf dem Stand ‚All Cops are Targets‘. Ich habe gesagt, dass sie ihre Energie produktiv nutzen sollen, so dass andere vielleicht noch was lernen. Deswegen sprechen wir heute Abend darüber und ich bin eingeladen.“
„Yes!“, denke ich mir und sehe die große Polit-Reportage wieder aus diesem Äther der Ereignisse aufsteigen.
Aber zunächst ins lila Café, das eigentlich „The Violet Pudel Café“ heißt und mir von einem, den ich nach dem Weg fragen muss, mit „Ja, da geht die Post ab“ empfohlen wird. Drinnen steht die Luft und sitzen Dutzende Kinder an Bierbänken. Vorne auf der Bühne hockt ein, ja was? Es ist eine etwas fülligere Frau mit einem Papprohr auf der Nase, Müllsäcken an den Beinen und Armen und einem witzigen Textil-Knäuel auf dem Kopf: Es ist der Namenspatron des Cafés, der lila Pudel. Ich muss wie die Kinder lachen. Lustig sieht er ja aus, dieser Hund.
Aber als der Moderator verkündet, dass ihm zu Ehren hier gleich eine Talentshow stattfinden wird, drehe ich mich um und schätze den Abstand von meinem Sitzplatz zum Ausgang und die Menge an Kindergliedmaßen, die ich zur Seite schieben müsste – um schließlich anerkennen zu müssen, dass ich keine realistische Chance habe, ohne mich so unbeliebt zu machen wie der Inhaber eines Tiergeschäfts, der das Streicheln verbietet. Ich bleibe. Ein Junge singt „My Heart Will Go On“, vier Mädchen klopfen Rhythmen mit ihren Plastikbechern, Chefin Josi spielt Gitarre und eine Gruppe Helfer kommt auf die Bühne und singt ein Lied der Rapgruppe K.I.Z, dessen Refrain so geht: „Und wir singen im Atomschutzbunker: ‚Hurra, diese Welt geht unter!‘“
Ist natürlich alles Ironie, ist natürlich auch ein schnuppe Song, ich feiere ihn ja selbst, aber in diesem Moment würde ich gerne einen Satz in mein Notizbuch schreiben: „Die jungen Sozialisten von heute sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“ Und damit wäre das Thema abgeschlossen und gut. Tocqueville kann mich mal. Könnten K.I.Z. nicht einen Song über ihn machen? Und über den Pudel?
Und dann finde ich in einem Zelt doch noch die große wichtige Diskussion
Aber eine Stunde später bin ich Zeuge eines wichtigen Wortwechsels um ganz zentrale Werte der jungen Menschen, die sich in diesem Lager getroffen haben. Die Organisatoren der Podiumsdiskussion haben in das Café der orangenen Stadt geladen; es gibt Mate, sehr angenehm und sehr hilfreich. Denn es ist neun Uhr noch was am Abend und in den nächsten zweieinhalb Stunden werden sie hier diskutieren. Wer Englisch und Deutsch kann, muss jeden Redebeitrag zweimal hören wegen der Übersetzung, was zu dem paradoxen Gefühl führt, einer unglaublich zähen, leidenschaftlichen Diskussion beizuwohnen.
Die Lager sind klar: Auf der einen Seite stehen jene, die nicht wollen, dass die Polizei einmal am Tag Streife im Lager fährt. Sie sagen, dass es genau diese Polizei ist, die „mich vor zwei Wochen in Duisburg noch verprügelt hat“, dass die Polizei „Teil eines rassistischen Systems“ sei, dass sie hier auf dem Zeltplatz vielleicht noch etwas anderes will als für Sicherheit zu sorgen, nämlich „ein paar Notizen über die Teilnehmer machen“.
Auf der anderen Seite steht: nur Josi. Sie ist in diesem Zelt, in dem 40 Mann sitzen, stehen, fläzen, die Einzige, die die Präsenz der Polizei verteidigt. „Uns haben vor der Veranstaltung Eltern angerufen, die Angst hatten wegen der Anschläge, die hier ganz in der Nähe stattgefunden haben“, sagt sie. Deswegen haben sich die Organisatoren entschlossen, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. „Mmh“, meldete sich ein junger Engländer, der am Eingang lehnte. „Warum organisieren wir das nicht selbst? Das Motto dieses Lagers ist es, eine andere Welt zu schaffen. Wir sollten deswegen genau hier anfangen.“ Darauf Josi: „Wir mussten heute die Jugend-Ecke früher schließen, weil wir nicht genug Freiwillige für die Sicherheitsmannschaft haben. Das will ich nur mal so in den Raum stellen.“
Oha! Plötzlich sind wir mittendrin: Polizeigewalt gegen Schwarze, Terror von rechts und links, das Wohlergehen der einen Teilnehmer gegen das Wohlergehen der anderen Teilnehmer. Dit is Politik, irre spannend! Während der Diskussion sagte ein Mann auf dem Podium mit erstaunlicher Eierhaftigkeit: „Mein Ziel ist es, die BRD abzuschaffen.“ Da ich in letzter Zeit nur von Rechten gehört habe, die just dieses Ziel verfolgten, nehme ich mir vor, ihn später nochmal bei einem Bier darauf anzusprechen und mir das erklären zu lassen mit der Abschaffung der BRD. Er war auch derjenige, der vor zwei Wochen in Duisburg noch mit der Polizei aneinandergeraten war. Ich habe viele Fragen!
Aber nach der Diskussion ist er zu schnell verschwunden: Ich finde mich plötzlich in einer Gruppe von Engländern wieder, die weiter über die Polizei diskutiert. Sie sind jung und wild entschlossen zu irgendwas. Zwei Veteranen der Bewegung stehen dabei. Man erkennt sie an den Dutzenden Aufnähern, die ihren grünen Umhang zieren – und an dem Gehstock. Die Gruppe beschließt, zur „Bar“ zu gehen, einem Zelt, in dem Bier verkauft wird. Ich folge ihnen, wir plaudern, kaufen Bier – und da sehe ich in der Bar wieder den BRD-Abschaffer. Ich will mich loseisen von den Engländern und zu ihm, aber es gelingt mir nicht, weil just in diesem Moment der Scheinwerfer des Gruppeninteresses auf mich, meine Herkunft, politische Sozialisation und sonstiges Small-Talk-Inventar schwenkt. Da stehe ich nun und rede und gehe mit diesen netten Engländern raus und ich will mich gerade verabschieden: Plötzlich springt einer von ihnen euphorisiert auf, es ist der Junge, der während der Diskussion über die Polizei im Eingang stand, und sagt: „Ich muss weg, es gibt einen Rave in einer Höhle“ und ist weg.
Ich schalte nicht schnell genug und springe deswegen nicht mit auf, sondern bleibe sitzen und muss einen Weg finden, mich höflichst vom Tisch wegzumogeln, die Fragen an den BRD-Abschaffer fest im Blick, als ich auf den alten Toiletten-Trick verfalle, auch weg bin, im Zelt bin und ihn dort nicht mehr sehe, nur Reihen von Teenagern, die sich argwöhnisch neckend bewusst ignorieren.
In der Party-Höhle schiebe ich vorsichtshalber das Bier tiefer in die Jacke
Ich kaufe mir ein Bier und beschließe, dem Jungen zur Höhle zu folgen. Das Hindernis, nicht zu wissen, wo die Höhle ist, überwinde ich durch ein paar Fragen. Es verschwindet aber auch völlig, als ich auf dem Weg in den Wald dem halben Sicherheitsteam des Camps begegne. Fünf oder sechs alte Falken in Warnwesten, manche von ihnen mit Taschenlampen, alles selbst mal junge Falken gewesen, schlurfen den matschigen Waldweg hinab zur Höhle, die still am Hang zu liegen scheint, sich aber nach ein paar Schritten tatsächlich als eine Kammer des Rave entpuppt. In ihr feiern vielleicht 30 Mann, der Sound kommt aus schrottigen Bluetooth-Boxen, das Bier ist billig. Also eigentlich wirkt alles Bestens. Am Anfang lassen sich die Feiernden nicht von den Sicherheitsleuten beeindrucken, aber irgendwann geht einer der Alten auf sie zu und sie müssen sich stellen. Eine Diskussion entbrennt: Wortführer ist der Junge, mit dem ich vorhin an der Bank saß. „Das geht so nicht“, sagt das Sicherheitsteam. „Warum?“, fragt er zurück. „Wenn ihr in der Nacht betrunken über den nassen Waldweg zurückmüsst, das können wir nicht verantworten!“
Da ich der Einzige bin, der hier wirklich völlig unbeteiligt an der Situation ist, bin ich wohl auch der Einzige, der die Ironie bemerkt: Gerade haben sie noch über Polizei, Kontrolle und eine andere Welt geredet. Und nun steht hier schon wieder das Sicherheitsteam wie zwei Schupos auf der Punker-Party und weiß nicht recht weiter. Ich schiebe vorsichtshalber mein Bier tiefer in die Jackentasche.
Während sie vorne diskutieren, wechseln sie hinten im Kerzenschein die Musik. Sie machen jetzt Dizzee Rascals „Bonkers“ an und drehen völlig frei: „Some people think I’m bonkers / But I just think I’m free / Man, I’m just livin’ my life / There’s nothin’ crazy about me“, schallt es aus den Boxen, alle grölen mit. Selbst der Chef-Diskutant der Gruppe muss sich kurz verabschieden und eine Runde im Kreis springen, ehe er die Verhandlungen über die Zukunft dieser Party-Höhle wieder aufnehmen kann, die zugegebenermaßen zu diesem Zeitpunkt bereits von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt sind. Da kommt von hinten sein Kumpel angesprungen, ein anderer Engländer und sagt: „Wo steht eigentlich geschrieben, dass wir das nicht dürfen?“ Und die Helfer haben keine Antwort, wissen auch nicht, was nun, einigen sich aber mit den Feiernden auf einen gesichtswahrenden Kompromiss: Alle Minderjährigen müssen mit.
Blöd nur: Sie wissen nicht, wer minderjährig ist, also beruht das Ganze auf Freiwilligkeit und eine Handvoll Jungs traben pflichtbewusst ab. Zurück bleibt nur ein umso euphorisierter feiernder Haufen von Teenagern, dem ich noch kurz zusehe, ehe ich selbst rausgehe auf den matschigen Weg, durchaus angeschäkert und wissend, dass meine Polit-Reportage nun völlig im Eimer ist. Aber auch egal, ich habe Dizzee Rascals Stimme im Ohr.
Am nächsten Morgen setze ich mich zum Frühstück zu den Sicherheitsleuten, wir besprechen die Situation in der Höhle. Eine Sache ist ihnen sehr wichtig: „Die Kids kamen dann in der Nacht um drei noch zu uns und haben sich entschuldigt.“ Ich denke mir wieder: Die sozialistische Jugend von heute, sie ist auch nicht mehr das, was sie mal war.
Und eigentlich wäre das auch der lässig-ironische Schlusssatz dieser Reportage geworden, wenn ich nicht während des Schreibens noch über lange Listen voller wunderbarer, weitsichtiger und mutiger Workshops gestolpert wäre, die in den zwei Wochen vor meinem Besuch stattfanden: „Kapitalismus, soziale Ungleichheit und die Beziehung zwischen Tieren und Menschen“, „Schlechter Feminismus – die aggressive Seite“, „Sind Genossenschaften sozialistisch?“ oder „Memes erschaffen, um die Welt zu verändern“.
Workshops, die ich einfach ignoriert habe und deswegen auch nur noch einen ehrlichen Schluss zulassen: Ich habe es verbockt.
Das wäre Tocqueville sicherlich nicht passiert.
Aufmacherfoto: Rico Grimm, Falken-Zeltlager 2016 in Reinwarzhofen.
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