Düsterbusch ist kein Ort für Helden. Nicht Preußen, nicht Sachsen, ein Kaff am Rande des Spreewalds. Anton wohnt hinter dem Mähdrescherfriedhof und träumt vom großen Leben. Bis er eine glänzende Idee hat: Sein Dorf soll Metropole werden, mit U-Bahn-Anschluss und Leuchtreklamen – und einem Szene-Club nach Londoner Vorbild. Mitten in der DDR.
Die Belegschaft des Kohleplatzes saß im Frühstücksraum des Sozialgebäudes. Eine angekündigte Baumaßnahme, bei der eine neue Betonstraße entstehen sollte, hatte die Betriebsleitung gerade abgeblasen. Das Baukombinat könne die angeforderte Menge Frischbeton derzeit nicht liefern, erklärte uns der große Chef beim Essen. Er war extra mit seiner Sekretärin angereist. Der ganze Beton ging nach Berlin, denn das Wohnungsbauprogramm in der Hauptstadt sollte bis 1990 abgeschlossen sein.
„Die scheiß Berliner Arschlöcher stecken se alles hinten und vorne rein, Junge, Junge du“, schnauzte Koks-Emil und blies mir den Rauch seiner Semper ins Gesicht. Der Rest murmelte Zustimmung. „Wir gucken immer in die Röhre.“
„Also wieder rein in die Kohle, ihr nachgemachten Menschen“, meckerte Hartmann und tätschelte Koks-Emils Rücken.
Ich kroch in einen halb ausgekranten Waggon und begann zu fegen. Dabei beschimpfte ich die Braunkohle. Der Waggonkosmetikeralltag war jetzt noch weniger erträglich als vorher, denn ich hatte ja nun bewiesen, dass ich was konnte. Ich hatte Massen mobilisiert, einen Text geschrieben und eine Party organisiert. Aber an diesem schauerlichen Montag wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass das in diesem Land nichts, aber auch gar nichts galt.
Du hast hoch gepokert und verloren. Ich hatte Baades Worte noch im Ohr. Jetzt war ich auch noch polizeibekannt. Jeden Tag erwartete ich ein Ordnungsstrafverfahren, ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutete. Meine Eltern hatten sicher schon Post bekommen. Seit dem verhängnisvollen Abend war ich erst einmal zu Hause gewesen. Ich hatte heimlich mein Moped und noch ein paar Sachen geholt. Den offiziellen Rausschmiss wollte ich mir ersparen. Ich schrieb einen kurzen Zettel, damit meine Eltern wussten, wo ich war.
Baade nahm mich ohne mit der Wimper zu zucken auf. Das rechnete ich ihm hoch an, obwohl ich immer noch etwas geschockt von seinem Zornesausbruch gegenüber Elke war. Im Gegensatz zu mir entwickelte sich die Schwarz-Weiß-Party für Brechreiz zum Erfolg. Irgendein Typ vom Kreiskabinett für Kulturarbeit hatte unsere Party besucht und war wohl zu ihnen in den „Backstage-Bereich“ hinabgestiegen.
Er bot ihnen an, eine Einstufungsprüfung zu machen. Wenn sie die bestehen würden, dürften sie offiziell auftreten. Ich konnte das gar nicht glauben. Hatte die Zone jetzt, 1984, den Punkrock entdeckt, oder was? Einesteils freute ich mich natürlich, andererseits war ich tieftraurig, denn ich stand mit leeren Händen da. Baade dagegen steckte voller Pläne. Er träumte nicht nur von einem Bandauftritt, sondern von einer Show, die er den „Kulturbolschewisten“ vorsetzen wollte. Er schrieb und textete, verwarf wieder und schrieb aufs Neue. Jeden Abend versammelten sich die Bandmitglieder in seiner Bude, und wir diskutierten.
„Rita führt ’nen Tanz auf wie Anita Berber in Kokain“, streute Baade ein. Alle zeigten sich beeindruckt, bis Rita sagte, dass sie gar nicht tanzen könne.
„Wir machen Puppentheater mit Lou Reed als Fingerpuppe, der das Ende aller Utopien verkündet“, schlug Walther vor. Ich wandte ein, dass das den Kulturbolschewisten vielleicht zu amerikanisch sein würde.
„Hast du keenen Arsch mehr in der Hose, Kummer, oder was?“, grölte Baade. Inzwischen hatte er fast den ganzen Bestand seines Pflaumenschnapses allein vernichtet.
Sein Verhalten mir gegenüber änderte sich. Ich war jetzt nicht mehr der wichtige Veranstalter, der vom Blitz Club träumte, sondern nur noch ein trauriges Anhängsel. Neue Ideen kamen und gingen wieder. Manchmal fühlte ich mich fremd, denn sie waren alle fünf bis zehn Jahre älter als ich. Die gegenseitigen Beschimpfungen wurden hart geführt und waren fast immer unter der Gürtellinie. Alles schien existenziell. Ich sehnte mich nach dem pubertären Austausch mit Henryk zurück.
Ich schlief wenig, denn nach uns feierten die Ratten auf Baades Dachboden lautstarke Partys.
„Das sind keine Ratten, Kummer, das sind die Fledermäuse des zwanzigsten Jahrhunderts“, sagte Baade eines Nachts zu mir. Er war bis in die Haarspitzen kreativ, und ich konnte das nicht so richtig mit ihm teilen, denn mein Traum von der Großstadt Düsterbusch war erst mal ausgeträumt.
„Bist du taub, oder was?“, holte mich eine Stimme aus dem Grübeln. Ich drehte mich um, und Hartmann stand vor dem Waggon.
„Ich arbeite.“
„Is ja was ganz was Neues. Deine Pflaume ist am Telefon!“
Ich wusste erst gar nicht, was er meinte. „Conny?“
„Keene Ahnung!“
„Ich sag doch zu deiner Frau auch nicht Pflaume oder?“ Wütend ging ich über den Platz in Richtung Büro.
„Privatjespräche sind verboten!“, sülzte er mir hinterher.
Unterwegs bekam ich den nackten Frust. Ich musste weg von diesen unterbelichteten Proleten. Es sollte allerdings schneller passieren, als mir lieb war.
In Hartmanns Büro lag der Hörer neben der Gabel. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich ranging.
„Hallo?“
„Anton, hier ist Conny.“
Erst mal sagte ich gar nichts. Es war schön, ihre Stimme zu hören. Sie redete weiter.
„War nicht so gemeint mit den Schlägen, aber das war ganz schön fies von dir“, sagte sie.
„Ich will nicht fies sein.“
„Biste aber oft.“
„Hmm.“ Ich war erleichtert. Von Simone hatte sie anscheinend nichts erfahren.
„Willste vorbeikommen?“
Ich stutzte. Hatte ich richtig gehört?
„Kaffee trinken mit deinem Vater?“
„Nee, hab ’ne Wohnung in der Langen Straße. Steht noch nicht viel drin außer ’nem Bett“, sagte sie vieldeutig.
„Klar“, sagte ich. Am liebsten wäre ich sofort nach der Arbeit hingefahren, doch sie vertröstete mich auf den Abend. Conny hatte eine Wohnung! Für einen Moment war mir leicht ums Herz.
Die Skyline von Düsterbusch (Lugau) Foto: Frank Kiesewetter
Nach der Arbeit duschte ich mich mit braunem Wasser. Zum Glück kam überhaupt wieder welches aus den Duschköpfen. Bei Baade waren die Waschmöglichkeiten noch dürftiger. Er hatte nur eine Pumpe. Wir füllten Eimer auf und kippten uns das Wasser gegenseitig über den Pelz. Ich fuhr zu einem Konsum und kaufte eine Flasche Goldbrand. Baades Selbstgebrannter war alle, und ich wusste, dass der Stoff seine Laune belebte. Dazu Quark, Wurst und Konsumbrötchen.
Auf der Ranch angekommen, wollte ich gerade in das Atelier gehen, als ich laute Stimmen hörte. Baade stritt sich mit Walther.
„Du musst noch zwanzig Filme Jugendweihe entwickeln“, sagte der.
„Scheiß-Jugendweihe. Du kannst mich mal!“, antwortete Baade.
„Du bist bei mir angestellt, dann musst du auch zur Arbeit kommen.“
„Jeden Tag deine Kleinbürgerfotos, da kommt mir die Galle hoch.“
„Ich kann nichts dafür, wenn du deine Sachen nicht verkaufst.“
„Dann schmeiß mich doch raus!“
„Und dann, Baade …?“ Walthers Stimme nahm einen drohenden Unterton an. „Dann kommen die Bullen und wollen dich einknasten, weil du nicht knuffen gehst. Oder du fängst wieder in der Niete als Ingenieur an. Da sind die Kleinbürger nicht nur auf den Fotos, da sitzen se dir wieder gegenüber.“
Baade antwortete nicht. Er hatte mal in der Niete gearbeitet? Als ich dachte, die Gemüter hätten sich beruhigt, trat ich ein.
„Entschuldigung.“
„Entschuldige dich nicht immer so blöde, wenn du hier reinkommst“, pöbelte mich Baade an. Ich wollte mich nochmals entschuldigen, verkniff es mir aber.
„Überleg’s dir!“, sagte Walther und ging.
Auf dem Plattenteller lag Jah Wobbles Betraya I, die Baade in letzter Zeit rauf und runter hörte. Ich packte meinen Einkauf auf den Tisch.
Baades Miene hellte sich auf. „Der Kummer hat ’ne Granate dabei. Is ja interessant.“ Er nahm die Flasche in die Hand, während ich mir eines der Konsumbrötchen mit Quark bestrich.
„Ich wusste gar nicht, dass du auch in der Niete warst.“
„Hast wohl jelauscht?“
„Ging nicht anders“, sagte ich.
„Nach dem Maschinenbaustudium ’n halbes Jahr.“
„Was machen denn Ingenieure?“
„Ach, das sind unbedeutende Kittelträger, war Zeitverschwendung. Irgendwann hab ich jekündigt und bin gleichzeitig aus der Partei ausgetreten.“
Ich verschluckte mich und hustete. Baade war in der Partei gewesen? Er knallte mir seine Pranke auf den Rücken.
„Da war das Theater groß. Mein Alter war ja Politoffizier.“
Ich hustete noch mal. Richard Baade war also ein Kind der DDR mit allen Voraussetzungen, eine sozialistische Persönlichkeit zu werden.
„In den Siebzigern war das anders, da hatten wir noch Idealismus.“
„Jetzt sag nicht, du hast auch Puhdys jehört?“
„Nee Puhdys nich, aber Stern Meißen, Klosterbrüder, Renft. Denen sind wa schon hinterhergefahren. Hatten ja auch geile Texte. Da war noch Veränderungsstimmung angesagt. Nicht wie jetzt, wo alles im Arsch ist.“ Baade guckte aus dem Fenster, und sein Blick wirkte das erste Mal melancholisch. Er strich sich über die Glatze. „So, und jetzt ist Schluss mit dem Verhör, Herr Unteroffizier.“ Er nahm einen kräftigen Schluck Goldbrand. Dann betrachtete er die Pulle. „Ich hab da ’ne Idee. Willste nicht mitmachen bei unserer Einstufung?“
Sofort war ich hellwach. „Na, klar. Was soll ich tun?“
„Es gibt da so ’ne tote Stelle nach dem Anfangsakkord vom Öler. Da könntest du ’ne Bierpulle auf dem Fußboden zerschmettern. Wir proben das heute Abend mal.“
„Heute Abend bin ich mit Conny verabredet.“
„Die Offizierstochter?“
Ich nickte.
„Ich dachte, du fickst mit Simone?“
Ich wurde rot. „Ach, das war nur mal so.“
Baade lachte meckernd. „Ja, da musste dich entscheiden – Pantoffeln oder Rockstar, Kummer, du Penner. Halb neune gehts los.“
„Das schaff ich.“
Gegen sieben fuhr ich zu Conny nach Kirchhausen. Ich düste an der geschlossenen Zentrale vorbei, grüßte sie ehrfürchtig und dachte wehmütig an meine frühe Jugend zurück. Dann hielt ich vor einer Reihe dreistöckiger Sechzigerjahre-Platten mit Parkplätzen davor. Auch hier wohnten Armeeangehörige und Zivilangestellte der NVA. Mein Moped stellte ich auf dem Bürgersteig ab. Vom nahen Bahnhof hörte man Stimmenfetzen der Zugansagerin, die mit den dunklen Schichtwolken am Himmel herüberflogen. Kein Mensch war zu sehen, als ich die einzige Klingel drückte, auf der noch kein Name stand.
Kurz darauf kam jemand die Treppe runter, ein Schlüssel drehte sich im Schloss und Conny strahlte mich an. Sie trug Rollkragenpulli, milchweiße Strumpfhosen und Hauslatschen. Wir küssten uns, sie nahm mich an der Hand und führte mich durch das Treppenhaus. Das typische Bratkartoffel-Korridor-Aroma verflüchtigte sich, als sie ihre Wohnungstür hinter mir schloss, und es roch angenehm nach Farbe.
„Sonnabend bin ich schon dran mit Hausreinigung.“ Sie lachte unbekümmert. In mir zog sich was zusammen. Ich dachte daran, dass wir nie Zeit gehabt hatten, uns über banale Dinge auszutauschen. Sie konnte gar nicht wissen, dass dieser dahingesagte Satz mich verstörte. Ich sah mich schon den Flur wischen, während mir Offiziersstiefel auf die Hand traten.
Es war eine große Wohnung, sie hatte sogar zwei Räume: ein Wohnzimmer und ein winziges Schlafzimmer mit einem riesigen alten Bett darin.
„Das ist von Oma aus Sachsen“, sagte Conny.
Ich war geschockt, als ich den Wohnraum betrat. An den Fenstern hingen schon schwere Stores mit Übergardinen wie bei uns zu Hause. Ein verschnörkelter Couchtisch war auch vorhanden. Meine Kleinfamilienhorrorvision wurde Wirklichkeit.
„Und, wie findste es?“ Conny schaute mich erwartungsvoll an.
„Ja … ja, kann man machen.“
„Komm, wir setzen uns in die Küche.“ Dort gab es bis jetzt nur eine Spüle, einen Herd und zwei Stühle. Ich folgte ihr und setzte mich. Sie zog den Korken aus einer halb vollen Flasche Sliven. Anscheinend sollte das der Auftakt zu ausschweifendem Sex sein, aber mir war nicht nach ficken zumute.
„Darfste denn jetzt noch trinken?“, fragte ich vorsichtig.
„Gläschen schadet doch nicht, oder?“
„Da kenn ich mich nicht so aus.“
„Noch nicht.“ Conny streichelte meinen Handrücken.
Wir schwiegen und tranken. Draußen holperte ein Zweitakter am Wäscheplatz vorbei.
Sofort spürte ich die Beschwingtheit, die das süße Gesöff in mir auslöste. Der Hauslatsch war von ihrem Fuß gerutscht. Durch ihre milchweißen Strumpfhosen schimmerten lackierte Fußnägel, und mein Schwanz wurde bretthart.
„Weiß es deine Mutter schon?“, fragte Conny in die Stille. Die Geilheit versiegte wieder.
Ich atmete durch. „Das kann ich ihr nicht sagen, Conny.“
Ich stand auf und guckte durch die Gardinen auf die Wäscheleinen hinter dem Haus. An Klammern befestigte braune NVA-Trainingsanzüge versuchten erfolglos, dem nahenden Regensturm zu entfliehen.
„Sie hat ein Recht darauf. Es ist ihr Enkelkind, Anton.“
Ich drehte mich zu ihr um. „Sie will aber nicht Oma werden.“
„Dafür ist es ja nun zu spät.“
„Ja, aber ich hab’s nicht gewollt, Conny“, sagte ich mit Nachdruck und zog mich an.
„Du, du, du! Dreht sich alles immer nur um dich, was?“ Sie stand auf und fing an, wie wild in einer Pappkiste herumzukramen, die auf dem Fußboden stand. Sie holte zwei Strampler heraus und hielt sie mir unter Tränen entgegen.
„Hier, das ist jetzt die Realität. Da drin wird unser Kind schreien und lachen.“
Dann warf sie mir die Babysachen an den Kopf und stürzte halbnackt aus dem Zimmer. Ich zog mich an und folgte ihr genervt. Sie stand in der Küche an der Spüle und starrte auf die weiße Wand gegenüber. Ich setzte mich neben sie und umfasste mit meiner rechten Hand ihre Schulter.
„Ich hab mir das anders vorgestellt“, sagte sie tonlos. „Ich dachte, du kommst zur Vernunft, jetzt, wo alles schön sein könnte.“ Dann drehte sie sich zu mir. „Die Wohnung ist doch nur vorübergehend. Lass uns hier weggehen.“
„Hat eben alles scheiße angefangen“, erwiderte ich, ohne wirklich was zu empfinden.
„Kannst dir also nicht vorstellen, erst mal hier einzuziehen?“ Ihre Stimme bebte, als sie mich ansah.
„Ich krieg das mit deinem Vater nicht aus dem Kopf“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass das nur eine Ausrede war.
„Hör doch mal auf mit meinem Vater, das ist doch alles vorbei.“
Ich seufzte. „Aber ich wollte das nie … hier, Lange Straße. Das war schon immer der Horror.“
„Ja, du wohnst lieber in Düsterbusch bei deiner Mutter, da kann dir nichts passieren.“
„Ich wohne bei Baade.“ Ich blickte auf die Uhr. „Wir haben jetzt auch gleich Probe“.
Sie schaute mich mit großen Augen an. Dann brach sie in hysterisches Gelächter aus und machte einen Schritt zur Wohnzimmertür. „Weißte was, dann geh doch zu Baade oder zu irgendwelchen Huren. Aber ich sag dir eins, die geben alle ’nen Scheißdreck auf dich, wenn es drauf ankommt.“
„Du hast se doch nicht mehr alle“, sagte ich und trat in den dunklen Korridor. Sie wollte mich zurück zerren, doch ich riss mich los.
Conny zitterte vor Wut. „Und eins sag ich dir auch noch, irgendwann ist diese Tür hier verschlossen für dich, du Arschloch.“ Sie knallte das Brett ran, und ich stand allein im dunklen Treppenhaus. Aufgewühlt verließ ich die Platte. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind zerrte immer noch lautstark an Mülltonnen und Trabi-Türen.
Als ich kurz nach halb neun bei Baade ankam, war ich erleichtert, mich wieder dem Wahnsinn hingeben zu können.
„Na, Kummer, zeig mal, was für ein Musiker in dir steckt“, grölte Baade, der bereits das Tamburin schwang. Fenske und Zenker feixten.
Ich brauchte beim Werfen drei Bierflaschen, um den Takt zu finden, aber dann hatte ich es endlich geschafft und die Pulle zersprang an der richtigen Stelle. Die Probe endete in einem großen Besäufnis, und wir fieberten alle dem kommenden Sonnabend, dem Tag der Einstufung, entgegen.
Am verhängnisvollen Tag zog ich mich um und fuhr, so schnell ich konnte, zum Haus der Arbeit, einem riesigen Kulturpalast, in dem die Einstufung stattfinden sollte. Ich kam etwas zu spät. Die anderen standen schon im Foyer auf dem knarrenden Parkett und warteten darauf, dass es losging.
„Ah, der wichtigste Mann“, spottete Fenske, und ich lächelte säuerlich. Baade beachtete mich gar nicht. Er war total angespannt. Alle trugen die Kluft vom Auftritt in der Linde, waren allerdings nicht geschminkt. Nur Rita hatte ihre Titten mit einem schwarzen Netzteil verhüllt, durch das man trotzdem alles sah.
Die Tür wurde geöffnet, und eine blonde Frau Anfang dreißig steckte ihren Kopf heraus. Sie hatte eine spießig-erotische Ausstrahlung.
„Guten Tag, ich bin Angela Bachmann, die Leiterin des Kreiskabinetts. Sie sind jetzt dran.“
Wir traten ein. An einem langen Tisch saßen zwei Frauen und vier Männer mit Kladden vor sich. An der holzgetäfelten Wand dahinter ein schwarz-weißes Plakat mit der Aufschrift „VII. Werkstattwoche der Jugendtanzmusik“. Zwei Männer trugen FDJ-Hemden, waren aber schon Mitte, Ende dreißig und vollbärtig. Ein dritter versteckte sich in einem grauen Jackett. Die Haare links und rechts seines Mittelscheitels hingen schlaff herunter. Ein Rock-für-den-Frieden-Sticker steckte an seinem Revers. Die zweite Frau neben Angela Bachmann schätzte ich auf Mitte sechzig. Sie trug eine weiße Spitzenbluse. Ein vierter Vollbärtiger in selbst gestricktem Pullover und Latschen saß etwas abseits und wurde uns als Vertreter des Bezirkskabinetts für Kulturarbeit vorgestellt. „Das ist Palitsch, der wichtigste Mann“, hatte uns Baade vorher eingeschärft.
Alle sechs sahen uns gewichtig an. Ich bekam die gleiche Beklemmung wie bei den Auftritten mit Mutters Kabarettgruppe. Baade begrüßte die Prüfer mit Handschlag und versuchte, ein paar launige Scherze anzubringen. Er wirkte wie verwandelt. Wir stellten uns hinter die Anlage, die etwa zehn Meter von der Einstufungskommission entfernt auf dem Parkett stand.
Palitsch meldete sich wie in der Schule.
„Eine Frage habe ich da noch mal nach dem Namen. Was wird mit Brechreiz ausgesagt?“
Ich sah Baade das erste Mal rot werden. „Das ist einfach ein Gefühlsausbruch, in dem sich junge Leute heutzutage befinden“, erklärte er diplomatisch.
Palitsch nickte. „Na, dann legt mal los.“
Jetzt siegte bei mir die Nervosität. „Der Öler“ war gleich der erste Song. Baade begann, das Tamburin zu schwingen. Dann setzte Zenkers Gitarre ein, und ich bekam von Fenske mit den Augen ein Zeichen. Ich schleuderte die leere Flasche auf den Fußboden, dabei rutschte sie mir vor Aufregung aus der Hand. Sie zerschellte nicht sondern schlitterte über das Parkett auf die Kommission zu. Palitsch konnte gerade noch die belatschten Füße heben. Die Pulle sauste unter dem Tisch durch und zerschellte geräuschvoll an der Wand dahinter. Baades vernichtender Blick traf mich, bevor er mit Rita zu singen begann und Fenskes Schlagzeug einsetzte.
„Zu blöd, ’ne Pulle zu zerschmeißen, Mann, Kummer ey“, fauchte mich Baade nach dem Auftritt an, bei dem ich ansonsten die ganze Zeit blöd an der Anlage herumgestanden hatte. Niemand von der Kommission hatte eine Miene verzogen, nur dieser komische Palitsch hatte ab und zu mit einem Bein unter dem Tisch mit gewippt.
„Hättest es doch selber gemacht“, brach es aus mir heraus.
„Weißte überhaupt, wem du das zu verdanken hast, dass du da standst?“
„Ja, ja, dir habe ich natürlich alles zu verdanken“, antwortete ich sauer. Die übrigen Bandmitglieder schlugen sich inzwischen gegenseitig auf die Schultern und lobten sich für ihren genialen Auftritt. Ich war Luft. Ich machte mich vom Acker, setzte mich in die Mitropa, zischte ein paar Bier und schaute den Zügen hinterher.
Drei Tage später kam ich von der Arbeit, kaufte in Frankenwalde Käse, Konsumbrötchen und eine Pulle, denn der Proviant in Baades Haus schmolz rapide. Zusammen würde uns sicher einfallen, was jetzt zu tun wäre. Als ich gegen zehn die Ranch erreichte, sah ich Zenkers alten Wartburg und Fenskes Motorrad auf dem Hof. Probten die schon wieder? Ich betrat das Atelier, und da saßen sie zu dritt um den großen Tisch herum. Nur Rita fehlte, sie war schon vor Tagen zurück nach Berlin gefahren.
Autor Alexander Kühne als DJ (1983) Foto: Henri Manigk
Walther stand zwischen den Bücherregalen und warf Dartpfeile auf eine Scheibe, die mit dem Gesicht von Egon Krenz bespannt war. Nur das Ploppen der spitzen Dinger, die sich in Egons Kartoffelnase bohrten, war zu hören.
Die Bandmitglieder schoben alle einen Gonzo, und der Grund dafür lag in Form eines Schriftstücks auf dem Tisch. Ich stellte meinen Einkauf daneben ab.
„Darf ich?“
„Frag doch nicht immer so blöde!“, ätzte Zenker.
„Ich bin eben gut erzogen.“ Niemand reagierte. Ich schnappte mir den Brief und las.
„Einstufung als Amateurtanzmusikkapelle: Gruppe ‚Brechreiz’
Sehr geehrter Herr Baade,
leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass nach Ihrem Auftritt eine Zulassung als Amateurtanzmusikkapelle nach unserem Wertungsprinzip nicht möglich ist.
Die Bewertungsmaßstäbe des volkskünstlerischen Amateurschaffens setzen eine musikalische Unverwechselbarkeit und schöpferische Inhalte nach dem Wesen sozialistischen Zusammenlebens voraus. Beide Kriterien treffen auf das Programm Ihrer Gruppe nicht zu. Neben der Inhaltsferne Ihrer Texte in Bezug auf das Aufwachsen junger Menschen in unserem Land war auch Ihre musikalische Darbietung äußerst dürftig. Ihr Auftritt blieb im bloßen Plagiat anglo-amerikanischer Modestile stecken. Insgesamt fehlt Ihnen auch noch die persönliche Reife, um in öffentlichen Veranstaltungen aufzutreten. Bei einer Änderung des Programms und Ihres Namens ist es möglich, dass Sie sich in zwei Jahren erneut für eine Einstufung bewerben können.
Gezeichnet: Bachmann
Leiterin Kreiskabinett für Kulturarbeit
Ich legte das Pamphlet mit spitzen Fingern wieder auf den Tisch zurück. „So schnell?“, fragte ich in die Runde.
Walther drehte sich um und grinste schief. „Bei Absagen sind se immer flink, Kummer.“
Dann rutschte mir der verhängnisvolle Satz heraus. „Na, bloß gut, ich bin nicht schuld.“
Baade, der bislang noch kein einziges Wort von sich gegeben hatte, zuckte zusammen. „Verschwinde Kummer. Nimm deinen Kram und verschwinde!“, sagte er tonlos und schaute dabei aus dem Fenster. Nur Walther warf mir einen mitleidigen Blick zu.
Ich schnappte mir meine „Station to Station” und sah, dass auf ihr Kerzenwachs zerlaufen war. Bowies Gesicht war kaum noch zu erkennen. Richtige Wut stieg in mir auf. Am liebsten hätte ich Baade das Cover an den Kopf geworfen, aber ich traute mich nicht, aus Angst, dass er mich dann verkloppen und mein Idol damit endgültig zerbrechen würde. Ich ging, ohne was zu sagen, packte meine Sachen und verließ das Haus. Mir fiel noch ein, dass ich den Schnaps vergessen hatte. Ich drehte um und nahm die Pulle vom Tisch, genau in dem Moment, als Baade danach greifen wollte. Eine schwache Welle der Genugtuung schwappte in mir hoch. Auf dem Hof packte ich meinen ganzen Kram in zwei Bilka-Tüten, hängte sie links und rechts an den Lenker und fuhr ab.
Der Text ist ein Kapitel aus Alexander Kühnes Roman „Düsterbusch City Lights” (Heyne Hardcore, 384 Seiten), erschienen am 29. Februar 2016. Alex wuchs in Lugau, heute Brandenburg, auf. Nach der Lehre in einer Schraubenfabrik arbeitete er auf einem Kohleplatz, bei der Staatlichen Versicherung und verkaufte Modelleisenbahnen. Gleichzeitig organisierte er mit Freunden in seinem Heimatdorf Konzerte mit Bands der DDR-Punk- und New-Wave-Szene. 1990 zog er nach Berlin und machte eine Ausbildung zum Fernsehjournalisten. Er schreibt für Film, Fernsehen und Zeitschriften.
Aufmacherbild: Publikum bei einem Konzert in Lugau, 1985. Foto: Frank Kiesewetter.