Denny war ein Nazi. Jedenfalls sah er so aus. Er trug immer eine glänzende grüne Bomber-Jacke mit orangefarbenem Innenfutter. Ich glaube, er war sehr stolz darauf. Manchmal trug er sie sogar beim Aufwärmen vor dem Spiel, aber das hat ihm der Trainer dann verboten. Außerdem trug er immer Jeans und schwarze Springerstiefel. Denny war Stürmer in meiner Fußballmannschaft. Wir waren damals in der C-Jugend, also vielleicht 14 Jahre.
Er hatte aschblondes Haar, das er sich mit der Maschine selber schnitt. Drei Millimeter war zu kurz. Zwölf Millimeter fand er zu lang. Die Haarlänge war Denny sehr wichtig. Wir machten uns oft lustig darüber, wenn er in der Kabine saß, die Wand anstarrte und mit der Hand über seine Haare raspelte. „Wird mal wieder Zeit für ’n Friseur, was?“, neckten wir ihn.
Ansonsten war Denny ziemlich gut aussehend. Braungebrannt, schlank, muskulös, ein bisschen größer als wir anderen. Er hatte eine sichelförmige Narbe unter dem rechten Auge und ganz feinen blonden Flaum im Gesicht. Kein Bart, sondern super dünn e Härchen, die man nur im Gegenlicht sehen konnte. Wie bei einem Pfirsich.
Die Nazi-Sache hat ihm eigentlich niemand abgekauft. Manchmal guckte ein abgewetzter Pappdeckel aus seiner Sporttasche heraus. Darin waren seine Schulaufgaben abgeheftet. Auf den Pappdeckel waren lauter Fenster mit Kugelschreiber gekritzelt. Er hatte Hakenkreuze gezeichnet und später aus Angst vor dem Lehrer Quadrate mit einem Kreuz in der Mitte daraus gemacht. Er hatte die Linien mehrfach nachgezogen und den Stift mit viel Druck aufgesetzt, das konnte man sehen. Alle lachten darüber und sagten, Denny ist ein Windows-Fan.
Er war auch nie mit dabei, wenn wir klauen gingen oder Benzin schnüffelten oder Gras rauchten. Das ist nix für einen ordentlichen Deutschen, meinte Denny. Ich fragte mich dann immer, was ein ordentlicher Deutscher so treibt in seiner Freizeit, neben Haareschneiden und Fußballspielen. Ob ein ordentlicher Deutscher wenigstens beim Fidschi klauen darf, war eine der Fangfragen, mit der wir ihn über die Bedeutung des Deutscheins ausfragten, das außer für Denny für niemandem wichtig zu sein schien.
Manchmal beleidigte er einen kleinen Russen, der bei uns spielte, oder machte Witze über ihn. Edward, der Russe, reagierte aber nie darauf. Er war ein bisschen schwerhörig und sprach ein merkwürdiges Deutsch. Wie Denny redete er eigentlich so gut wie nie. Und wenn Außenseiter über Außenseiter Witze machen, lacht nie jemand.
Edward hörte nach ein paar Monaten im Fußballverein auf. Er hatte meist auf der Bank gesessen. Er fing dann mit Boxen an und bekam ein paar Muskeln und hing nur noch mit seinen Russenfreunden rum. Für ein paar Wochen im Herbst hatten sie die Kontrolle über den Gummi, einen kleinen Sportplatz mit Kunststoffbelag hinter der Sporthalle Neuplanitz. Sie saßen auf einem Frachtcontainer, der am Rand stand.
Sie bestimmten, wer auf dem Platz spielen durfte, und drohten allen Prügel an, die dachten, sie meinen es nicht ernst. Die Russen hatten den Ruf, gut boxen zu können und extrem brutal zu sein, wenn sie einmal loslegen.
Einmal rief mich Denny zu Hause an und fragte, ob ich mich vor dem Training mit ihm treffen will. Ein Freund von ihm hat Geburtstag, sagte er. Wir könnten kurz vorbeischauen, auf ein Bierchen. Ich war überrascht, weil Denny mich noch nie angerufen hatte, aber ich sagte ja.
Auf Leute, die ihn nicht kannten, konnte er schon einschüchternd wirken. Manchmal ging ich mit ihm nach dem Training noch zum Supermarkt, und wir tranken irgendwo ein Bier, das wir dort gekauft hatten, und rauchten Zigaretten. Dann hoffte ich immer, dass mich jemand mit ihm sieht und dann denkt, ich hätte brutale Freunde.
Andererseits konnte es mir niemand von meinen Hip-Hopper-Freunden übelnehmen, wenn ich mit Denny, dem Nazi, abhing. Es war ja nur der harmlose Denny aus meiner Mannschaft. Er war mal sitzengeblieben, und deswegen hielten ihn alle für ein bisschen dumm. Aber er schoss eine Menge Tore, also war es egal.
Ich traf mich mit Denny an der Haltestelle am Baikal. Das Baikal ist ein Einkaufszentrum. Es gibt da einen Supermarkt, einen Blumenladen und ein Sonnenstudio, einen Friseur und eine Sparkasse. Damals bin ich mit meinen Freunden in fast jeden Supermarkt in der Nähe gegangen, um Alkohol und Zigaretten zu klauen oder irgendwas Anderes. Das klingt, als wäre das alles ewig her, dabei war das vor vielleicht noch bis vor zwei Jahren so.
Wir klauten fast alles, Chips und Schokolade und Limo und Feuerzeuge und Frauenunterwäsche. Manchmal bildeten wir Zweier-Teams. Einer trug den Rucksack und achtete auf die Supermarkt-Mitarbeiter. Der andere lief dahinter und stopfte alles schnell in den offenen Rucksack. Wenn wir erwischt wurden, was häufig vorkam, sind wir einfach weggerannt. Nur im Baikal bin ich nie mit gewesen, weil dort der Vater eines Schulfreundes Marktleiter war, der auch meine Eltern kannte.
Denny und ich liefen zu einem sechsstöckigen Neubaublock, der schräg gegenüber vom Baikal lag. Ich trage dort Zeitung aus, und erst jetzt ist mir aufgefallen, dass die meisten Wohnungen leer sind. Ich habe immer ein bisschen Angst, dass der Typ, bei dem wir gleich klingeln sollten, einmal zufällig auftaucht, wenn ich gerade die Zeitung bei ihm in den Briefkasten stecke. Ich will ihn auf keinen Fall wiedersehen.
Denny klingelt. Eine Männerstimme sagt Ja. Denny sagt, Denny hier. Dann summt die Tür und Denny drückt sie mit der Schulter auf. Wir gehen bis in den dritten Stock. Im Treppenhaus riecht es nach Herbst und Hundefutter. Dann kann man hören, wie eine Tür aufgeht. Laute, schnelle Rockmusik dringt ins Treppenhaus, ziemliches Geschrammel. In dem Lied geht es um Bomben über Dresden, ich kann nicht viel vom Text verstehen, weil der Sänger meist schreit, aber die Zeile „Keine Chance zu entkommen“ dringt klar und deutlich heraus, wie ein Warnruf.
Als wir oben ankommen, steht ein Typ mit Glatze, roter Bomberjacke und Springerstiefeln in der Tür. Als wir den Treppenabsatz erreichen und auf die Wohnungstür zulaufen, kann ich eine Hakenkreuzfahne erkennen, die die ganze Stirnseite des Flurs bedeckt. Ich würde jetzt ganz gern abhauen, aber das geht nicht mehr.
Denny und der Typ geben sich auf Nazi-Art die Hand. Dann hält der Geburtstags-Nazi auch mir die Handinnenflächen zum Einschlagen hin und ich sage ihm auf Nazi-Art Hallo. Genauer gesagt sage ich „Hi“, was mir gleich ziemlich dumm vorkommt. Er hat blaue Augen wie Denny und mustert mich kurz. Ich trage eine weiße Jeans, die an den Hosenbeinen aufgeschnitten ist, Adidas-Hallenfußballschuhe und eine rot-blaue Puma-Trainingsjacke. Er dreht sich um und geht durch den kurzen Flur Richtung Wohnzimmer.
Unter der Bomberjacke trägt er ein eng anliegendes weißes T-Shirt, unter dem sich ein Körper abzeichnet, wie ihn Kickboxer haben. Wir stellen unsere Sporttaschen im Flur ab und folgen ihm ins Wohnzimmer. Dort sitzen schon zwei andere Nazis auf der Couch. Sie sind ein bisschen fetter, tragen aber auch Bomberjacken und Springerstiefel und Glatze.
Der Geburtstags-Nazi setzt sich in den Sessel und zündet sich eine Zigarette an. Wir setzen uns auf die Couch, holen unsere Zigarettenschachteln raus und fangen auch an zu rauchen. Auf einmal brüllt der Geburtstags-Nazi „Wo bleibt ’n die Bowle?“ in Richtung Küche. Kurz darauf kommt ein Mädchen mit einer großen Glasschüssel Sektbowle, in der Dosen-Mandarinen schwimmen, herein, mit ihr ein kleiner Junge auf einem Plastiktraktor.
„Sollen wir die Scheiße aus der Schüssel saufen, oder was? Wir haben Gäste, hast du mitbekommen, oder? Hol Gläser.” Das Mädchen starrt den Nazi kurz an und geht dann wieder in die Küche, Gläser holen. Sie stellt sie ab und taucht eine große Schöpfkelle in die Bowle. Die Schüssel, die Gläser und die Kelle sind aus Glas und gehören zu einem Set. Meine Eltern haben das gleiche.
Dann nimmt sie den kleinen Jungen, der auf dem Boden sitzt und mit einem Stück Linoleum spielt, das sich vom Fußboden löst, und trägt ihn weg.
Ich weiß nicht mehr genau, über was wir uns unterhalten haben an diesem Nachmittag. Ich war froh, dass wir einen Grund hatten, nicht lang zu bleiben. Wir hatten ja später das Fußball-Training. Und ich versuchte, nix Falsches zu sagen. Also nichts, was ich bereuen würde, weil es Nazi-Zeug war, und nichts, was mir hier Ärger einbringen würde.
Das Gespräch drehte sich um Bullen und Ausländer. Der Typ mit der roten Bomberjacke redete die meiste Zeit. Er hatte etwas sehr Überzeugendes in seiner Art und konnte gut reden. Die anderen hörten ihm meist nur zu und sagten manchmal: „Ja, Mann, stimmt! Diese Affen!“ oder: „Die Kanaken und die Wessis reißen sich hier alles unter den Nagel“ oder sowas ähnliches.
Aber der Geburtstags-Nazi war eindeutig der Anführer, und ich versuchte mir auszumalen, was sie wohl so alles Nazi-mäßiges anstellten, ob sie richtige Aktionen planten und wen sie als nächstes verprügeln würden.
Nach einer Stunde sagt Denny, wir müssen jetzt gehen. Alle stehen auf, und wir klatschen ab und halten uns dabei an den Schultern. Der Geburtstags-Nazi bringt uns zur Tür und sagt zum Abschied, wir sollen sauber bleiben.
Dann ging ich mit Denny zum Training. Ich war ein bisschen angetrunken von der Bowle, und wir redeten nicht viel. Ich dachte darüber nach, wie oft Denny mit diesen Typen rumhing und ob er selbst schon mal jemanden richtig verprügelt hatte. Wir redeten auch später nie darüber. Denny redete, wie gesagt, allgemein nicht sehr viel.
Am Abend, nach dem Training, lief ich wieder zur Haltestelle am Baikal. Ich hatte etwas Zeit zu überbrücken, bis mein Bus kam, also ging ich in den Supermarkt. Ich blätterte durch ein paar Zeitschriften und schaute mir die Kassettenhüllen der Videos an, die erst ab 18 waren.
Dann kaufte ich mir ein paar grüne Gummi-Spaghetti und wollte gehen. Am Supermarkt-Ausgang kamen mir zwei Typen entgegen, die ich kannte. Sie waren zwei oder drei Jahre älter und gehörten zur Hip-Hopper-Clique. Ich hatte nie was mit ihnen zu tun, aber alle fanden sie cool und ich auch.
Sie blickten sich kurz an und liefen dann direkt auf mich zu. „Na, was läuft so, Großer?“, fragte der eine. „Du spielst doch bei Süd, oder?“, der andere. „Ja“, sagte ich. „Und, klauen gewesen?“, fragte der andere, von dem ich zum ersten Mal bemerkte, dass er einen Zopf trägt.
Nein.
Nicht? Aber wir haben dich doch gesehen.
Ich sagte, das kann gar nicht sein, aber in dem Moment steckten sie mir eine Packung mit Walkman-Kopfhörern in die Tasche meiner Trainingsjacke. Sie hakten sich beide bei mir ein, drehten mich um, und der eine, der mir die Kopfhörer zugesteckt hatte, sagte, sie würden jetzt mit mir zum Marktleiter gehen.
Wenn man jemanden beim Klauen erwischte und es zur Anzeige brachte, bekam man 100 D-Mark Belohnung. Das stand auf einem Schild über jeder Kasse. Ich hatte es schon oft gelesen, aber mir nie etwas dabei gedacht. Eigentlich eine ziemlich clevere Art, Geld zu machen, dachte ich und war gleichzeitig ein bisschen beleidigt, weil sie sich ausgerechnet mich als Bauernopfer ausgesucht haben, denn ich hatte mir ausgemalt, ich würde irgendwann, wenn ich 16 bin oder so, auch mit ihnen abhängen.
Ich versuchte wegzulaufen, hatte aber nicht viel Hoffnung. Die beiden waren um einiges stärker als ich und krallten ihre Hände so fest in meine Oberarme, dass meine Unterarme taub wurden. Ich versuchte noch einmal mich loszureißen und bekam einen Arm frei. Dabei blickte ich zum Ausgang. Genau in diesem Moment kamen die drei Nazis zum Supermarkt rein, mit denen ich am Nachmittag Bowle getrunken hatte.
Der Typ mit der roten Bomberjacke rief laut „Ey, Robert“, als er mich erkannte. Die Drei kamen dann auf uns zugelaufen und fragten mich, was los ist. „Nichts, man, was soll denn sein, der Robert hier, den kennen wir vom Fußball, ham nur so gequatscht“, sagte der Typ mit dem Zopf.
Sah aber nach was anderem aus.
“Quatsch, Mann. Wie auch immer, wir ham noch besseres zu tun als mit dir zu plaudern“, sagte der, der mir die Kopfhörer zugesteckt hatte und die beiden Hip-Hopper gingen gerade so schnell raus, dass es noch nicht wie rennen aussah. Ich fragte mich, ob sie die Kopfhörer irgendwann zurückverlangen würden. Die zwei dicken Nazis wirkten ziemlich angetrunken, sie kriegten sich gar nicht mehr ein vor Lachen.
Der Geburtstags-Nazi sagt, wenn ich Lust habe, kann ich nochmal mit zu ihm kommen.
Alle im Text verwendeten Fotos sind Standbilder aus einem fiktiven Dokumentarfilm von Henrike Naumann. Die 1984 in Zwickau geborene Künstlerin hat in ihrer mehrfach preisgekrönten Videoinstallation Triangular Stories die Jugendzeit von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt thematisiert, als das Trio sich noch nicht „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte. Mit ihrer aktuellen Arbeit, Museum of Trance, ist Naumann zur 4. Ghetto-Biennale nach Haiti eingeladen. Ein Warm-Up Event findet am 23. Oktober in Berlin statt.