Merkel bekommt den Friedensnobelpreis (vielleicht)
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Merkel bekommt den Friedensnobelpreis (vielleicht)

Warum es plausibel ist, dass die deutsche Bundeskanzlerin in diesem Jahr zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.

Profilbild von Susan Mücke
Reporterin für Leben und Alltag / Chefin vom Dienst

Grund 1: Die Entscheidung fällt in diesen Tagen. Der Zeitfaktor spielt Merkel in die Hände

Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 alljährlich am Todestag Alfred Nobels, dem 10. Dezember, verliehen. Er geht an eine Person oder Organisation, die in jenem Jahr „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat“, wie Nobel in seinem Testament verfügte. Die Kandidatenliste ist hoch geheim. Wir wissen lediglich, dass in diesem Jahr 205 Personen und 68 Organisationen für den Friedensnobelpreis nominiert sind. Die Zahl hat sich in den vergangenen vierzig Jahren übrigens versiebenfacht. Einige Kandidaten sind jedoch durchgesickert. Dazu zählen Papst Franziskus, Flemming Rose, der als verantwortlicher Redakteur der dänischen Tageszeitung Jyllandsposten die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hat, sowie der NSA-Whistleblower Edward Snowden.

Stichtag für die Nominierung war der 1. Februar dieses Jahres. In jener Zeit machte Merkel als Krisenmanagerin in der Ukraine auf sich aufmerksam. Das Gipfeltreffen von Minsk unter ihrer Führung stand vor der Tür, das einen erneuten Versuch darstellte, den Krieg im Land zu befrieden. Bevor das Komitee den Preisträger wahrscheinlich am 9. Oktober bekannt gibt, tritt es in diesen Tagen und Wochen zusammen, wo Merkel als Managerin der Flüchtlingskrise weltweit Anerkennung findet, um darüber zu beraten. Dabei könnte auch der weiche Faktor im Hintergrund stehen, dass Deutschland am 3. Oktober das Jubiläum 25 Jahre Wiedervereinigung begeht und Merkel als erste Ostdeutsche an der Spitze die Feierlichkeiten anführt.

Grund 2: Das Komitee wird in diesem Jahr von einer Konservativen angeführt

Das norwegische Parlament, das Storting, bestimmt ein fünfköpfiges Komitee, das alljährlich den Preisträger festlegt. Es ist für die Dauer von sechs Jahren gewählt und besteht (bislang nur) aus norwegischen Vertretern. Sie sind keine Abgeordneten des Storting, ihre Zusammensetzung spiegelt aber in der Regel dessen Mehrheitsverhältnisse wider, was immer mal wieder zu heftigen Debatten führt. So kritisierte zuletzt Kristian Berg Harpviken, Direktor des Instituts für Friedensforschung Oslo, die parteipolitische Zusammensetzung und forderte, außerhalb der Parteien nach Kandidaten zu suchen. Dass in diesem Jahr eine Politikerin der norwegischen Konservativen Høyre an der Spitze des Nobelkomitees steht, könnte Merkel zugutekommen.

Diese Fünf entscheiden:

  • Die Konservative: Kaci Kullmann Five führt das Nobelpreiskomitee an, dem sie bereits seit zwölf Jahren angehört. Die ehemalige Vorsitzende der Konservativen Partei ist heute selbstständige Beraterin für Öffentlichkeitsarbeit und Public Affairs.
  • Die Anwältin: Fives Stellvertreterin Berit Reiss-Andersen hat eine Anwaltskanzlei im Herzen Oslos. Sie ist Krimiautorin und von der Arbeitspartei nominiert worden. Sie war in der Jagland-Regierung Staatssekretärin im Justizministerium unter Ministerin Anne Holt (heute ebenfalls Krimiautorin).
  • Der Europapolitiker: Thorbjørn Jagland war Vorsitzender der Arbeiterpartei, norwegischer Ministerpräsident und führt seit sechs Jahren den Europarat an. Nach einer Indiskretion wurde bekannt, dass er im Jahr 2009 als Chef des Komitees all seine Überredungskraft einsetzte, um die Mehrheit davon zu überzeugen, den amtierenden US-Präsidenten Barack Obama mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen.
  • Die Rechte: Inger-Marie Ytterhorn ist mit 74 Jahren nicht nur die Älteste im Kreis, sondern auch die Dienstälteste des Komitees, dem sie seit 2000 angehört. Ytterhorn ist Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, die sie von 1989 bis 1993 im Storting vertreten hat. Ihre erneute Wahl ins Komitee war intern umstritten, weil ihr die Erfahrung in der Außen- und Sicherheitspolitik fehle.
  • Der Friedensforscher: Henrik Syse stimmt in diesem Jahr zum ersten Mal mit ab. Der 49 Jahre alte promovierte Philosoph ist der einzige Nicht-Politiker und Jüngste in der Runde. Er ist Senior Researcher am Institut für Friedensforschung Oslo und hat die norwegische Zentralbank in ethischen Fragen beraten.

Grund 3: Das Orakel hat nur selten Recht.

In diesem Jahr hat das Institut für Friedensforschung wieder fünf Kandidaten auf der Shortlist benannt, die es als starke Anwärter auf den Preis bewertet. Das sind der Priester Mussie Zerai, der Bootsflüchtlinge vor dem Ertrinken rettet, die russische Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“, die Initiative Iraq Body Count, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die zivilen Opfer des Irak-Kriegs zu erfassen, die Article 9 Association, die Krieg als oberstes Recht einer Nation ablehnt, sowie Zainab Bangura und Denis Mukwege, die weltweit gegen sexuelle Gewalt kämpfen.

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Doch in den vergangenen fünf Jahren stand nur einmal ein Kandidat auf der Shortlist, der den Preis dann auch tatsächlich erhielt: 2014 Malala Yousafzai. Gleichzeitig wäre es in diesem Jahr nach Ansicht der Buchmacher wieder an der Zeit, das Engagement einer einzelnen starken Persönlichkeit zu würdigen, nachdem zuletzt mehrere Personen zusammen und Organisationen gewürdigt worden sind.

Grund 4: Häufig waren Entscheidungen heftig umstritten

Martin Luther King, UNICEF oder Carl von Ossietzky haben den Preis ohne Zweifel nach Ansicht der meisten Menschen verdient. Doch schon häufig wurden Kriegstreibende später als Friedensstifter geehrt, wie US-Außenminister Henry Kissinger 1973, weil er – zumindest war es damals der Eindruck – den Vietnam-Krieg beendet hatte. Zuvor hatte er jedoch die Flächenbombardements in Kambodscha zu verantworten. Auch Jassir Arafat, der 1994 gemeinsam mit Schimon Peres für seine Anstrengungen zur Lösung des Nahostkonflikts ausgezeichnet worden ist, war umstritten, ist doch seine Fatah für unzählige Terroranschläge verantwortlich.

Andere wiederum wie Mahatma Gandhi, die nach Überzeugung einer großen Mehrheit Friedensapostel sind, gingen leer aus.

2012 sorgte die Vergabe an die Europäische Union für Kritik. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise. Auch die Auszeichnung Barack Obamas 2009 sorgte für Irritationen. Obama war gerade erst US-Präsident geworden und führte Krieg in Afghanistan und Irak. Hohe Erwartungen waren mit seiner Auszeichnung verbunden. Ihm wurde der Preis verliehen „für seine außergewöhnlichen Bemühungen, die internationale Diplomatie und die Zusammenarbeit zwischen den Völkern zu stärken“, wie es in der Begründung hieß.

Rechtfertigt das allein den Friedensnobelpreis? Die Entscheidung für Obama gilt bis heute als eine der umstrittensten in der Geschichte des Komitees. In der Konsequenz setzte das Gremium übrigens zum ersten Mal in seiner Geschichte kurzerhand seinen Vorsitzenden Jagland ab, der heute nur noch einfaches Mitglied des Komitees ist.

Die Entscheidungen der fünf Norweger leuchten nicht immer ein, regen häufig auf und zu Debatten an. Doch weil das Komitee zur Verschwiegenheit verpflichtet ist und weder seine Entscheidungen erklären noch seine Debatten protokollieren muss, werden wir die wahren Hintergründe wohl nie erfahren. Die Geheimhaltungsfrist dauert mindestens 50 Jahre, so dass die Jurymitglieder die meisten Geheimnisse mit ins Grab nehmen.

Grund 5: Merkel hat ihn womöglich tatsächlich verdient

Nimmt man Nobels Testament ernst, dass derjenige den Preis erhalten solle, der im vergangenen Jahr „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker hingewirkt hat“, dann ist Merkel eine ernsthafte Anwärterin. Die weltweite Flüchtlingskrise ist das bestimmende Thema und eine der größten politischen Aufgaben in diesem Jahr. Merkel hat nicht nur Rassisten und Fremdenfeinde im eigenen Land gegeißelt („Es gibt keine Toleranz gegen die, die die Würde anderer Menschen infrage stellen. Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die nicht bereit sind, zu helfen, wo rechtlich und menschlich Hilfe geboten ist “), sondern sich bei denen bedankt, die helfen. Sie hat an entscheidender Stelle signalisiert, dass Deutschland bereit ist, mehr Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Und sie hat die Vision eines offenen Europas formuliert, das geprägt ist von einer Willkommenskultur und nicht von Xenophobie.

Schon häufig wurden Menschen oder Organisationen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, deren Engagement antizipiert wird, deren Verdienst erst in der Zukunft gemessen werden kann. Menschen, die eine Vision haben und in der Lage sind, durch ihre Macht weltweit friedenstiftende Bewegungen in Gang zu setzen. Menschen die nicht mit großer Geste agieren, sondern mit leiseren Tönen bewegen.

Die Flüchtlingskrise ist die große Herausforderung unserer Zeit. Jetzt werden fundamentale Weichen gestellt, wie wir künftig leben wollen, ob wir die Grenzen weiter dicht halten oder darauf hinwirken wollen, dass sich die Völker im Nobelschen Sinne verbrüdern.

International ist man sich einig, dass Merkel den politischen Mut und die Macht hat, die Krise zu gestalten und die Vision einer Welt mit offenen Grenzen und menschlichem Antlitz tatsächlich umzusetzen. Merkel traut man es zu. „Angela Merkel’s humane stance on immigration is a lesson to us all“, titelt der Guardian. Und weiter: „The German leader has stood up to be counted. Europe should rally to her side.“ Und der Economist schreibt: „The chancellor has taken a brave stand. (…) In a crisis where Europe has little to be proud of, Mrs Merkel’s leadership is a shining exception.“

„Merkel gibt als europäische Führerin die richtige Antwort auf die globale Flüchtlingsfrage, die nur heißen kann, nicht Mauern zu errichten, sondern einzureißen“, so würde das Nobelkomitee in seiner Auszeichnung vielleicht formulieren.


Foto:„Nobel Prize“ von Jonathunder. CC-BY-SA 4.0 / Wikimedia Commons