Reden sind langweilig. Reden über die EU noch langweiliger. Politikerreden über die EU das Schlimmste. Das glauben viele, und doch könnte am Mittwoch ein Politiker eine Rede über die EU halten, die interessant sein wird. Denn dann tritt Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor das Europäische Parlament, um die „Lage der Europäischen Union“ darzulegen. Dieses Ritual hat die EU vor fünf Jahren nach US-amerikanischem Vorbild eingeführt, um sichtbarer zu werden, und 2015 ist das erste Jahr, in dem die Bürger Europas der Rede tatsächlich Beachtung schenken sollten. Dafür gibt es drei Gründe:
1. Nie war die EU-Kommission mehr gefragt
Drei Themen haben Europa im vergangenen Jahr beschäftigt: der Krieg in der Ukraine, die Flüchtlingskrise und die Verhandlungen über ein neues Hilfspaket für Griechenland. Keines der drei Themen ist vom Tisch. Im Gegenteil: Im August flammten neue, heftige Gefechte in der Ostukraine auf. Das Minsker Abkommen, das für eine Waffenruhe sorgen sollte, ist brüchig. Das griechische Parlament hat zwar den Bedingungen des dritten Hilfspakets zugestimmt, aber ob die Regierung des Landes diese auch umsetzt, ist eine andere Frage. Der inzwischen zurückgetretene Ministerpräsident Alexis Tsipras hat schon angekündigt, nach einem eventuellen Wahlsieg neu verhandeln zu wollen. Und die Flüchtlingskrise ist gerade aktuell wie nie.
Allen drei Krisen ist gemein, dass sie fundamentale Fragen zur Europäischen Union und ihrem Selbstverständnis aufwerfen: Wie weit soll die Solidarität zwischen den Mitgliedern gehen? Welches Gewicht hat Osteuropa in der EU, die schließlich als ein Club westeuropäischer Nationen begann? Was passiert mit Ländern, die sich nicht an die zuvor vereinbarten Regeln halten? Sei das nun Griechenland, das Reformen nicht umsetzt, oder die so genannte Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn), die die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen?
Keine der drei Krisen ist unlösbar, aber wenn sie gleichzeitig auftreten, könnten sie eine Sprengkraft entfalten, die die EU überfordert. Daher muss sie langfristige Antworten finden, auf die sich ihre Politiker im Zweifel verlassen können. Juncker wird in seiner Rede diese Fragen nicht bis ins letzte Detail beantworten können, er wird aber Leitlinien vorgeben wollen, nach denen sich seine Behörde richten soll und muss. Die Rede zur „Lage der Union“ ist damit deutlich wichtiger als zum Beispiel die jährlichen Weihnachtsansprachen der machtlosen Queen in Großbritannien, aber wiederum nicht ganz so wichtig wie die Rede, die der US-Präsident in jedem Januar hält. Der US-Präsident hat schlicht mehr Befugnisse.
Aber beim derzeit wichtigsten Thema, der Flüchtlingskrise, hat Jean-Claude Juncker das Glück, auf Vorschläge zurückgreifen zu können, die er und seine Mannschaft schon im Frühjahr ausgearbeitet hatten. Sie basieren auf fünf Eckpunkten:
- Die EU soll einen dauerhaften Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge bekommen.
- für zwölf Monate kann sich ein Land diesem Mechanismus entziehen, muss dafür aber in einen Fonds einzahlen.
- Die Liste der sicheren Herkunftsstaaten soll europaweit einheitlich werden.
- Pro aufgenommenem Flüchtling soll ein Land 6.000 Euro erhalten.
- Mit 1,8 Milliarden Euro sollen afrikanische Staaten unterstützt werden, mit denen die EU über ein Rücknahmeabkommen verhandelt.
2. Diese Rede ist abgestimmt mit vielen politischen Verantwortlichen und erhält deswegen mehr Gewicht
Wenn Juncker am Mittwoch sprechen wird, wird er auch Worte wählen, die nicht seine eigenen sind. Das ist gewollt und steigert noch einmal das Gewicht, das diese Rede bekommt. Denn im Vorfeld karrte er seine 28 Kommissare in ein Dorf außerhalb von Brüssel, um zwei Tage lang über den Inhalt zu beraten, traf sich mit den wichtigsten Parlamentariern der EU, um ihnen Mitsprache zu gewähren, und konnte erste Formulierungen bereits testen, als er im August in Dutzenden europäischen Zeitungen Meinungsartikel veröffentlichte. Nachdem Juncker gesprochen hat, antworten ihm die Fraktionschefs, auch Politiker wie der britische EU-Skeptiker Nigel Farage werden zu Wort kommen. Juncker selbst darf dann noch einmal antworten, ehe die Sitzung geschlossen wird. Am Mittwoch redet nicht nur ein einzelner Mann, sondern da debattiert tatsächlich die ganze EU.
3. Juncker ist der erste echte politische Kommissionspräsident
Juncker kommt dabei zugute, dass er der erste wirklich politische Kommissionspräsident ist. Anders als sein Vorgänger José Manuel Barroso wurde er vom Europäischen Parlament nach einem Wahlkampf gewählt, zunächst gegen den Wunsch von Kanzlerin Angela Merkel. Junckers Legitimität ist deswegen größer. Anders als der eher gesetzt auftretende Barroso, der sich oft in technischen Details verlor, spricht Juncker in klaren und einfachen Worten, bei denen wenigstens die theoretische Chance besteht, dass sie die Bürger der Europäischen Union erreichen.
Juncker hat seit seinem Amtsantritt im November 2014 schon mehr Profil gewonnen als sein Vorgänger. Fast jede Krise nutzte er, um mit Vorschlägen zur Vertiefung der Europäischen Integration in die Debatte einzugreifen. Ukraine-Krise? Die EU braucht eine eigene Armee. Finanzkrise? Milliardeninvestitionsplan und während der Griechenland-Verhandlungen war es Juncker, der dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble immer wieder widersprach, wenn der mal wieder einen Ausschluss Griechenlands aus der EU ins Spiel brachte.
Der erfahrene Politiker Juncker weiß, wie weit er gehen kann. Bei einer Pressekonferenz empfing er den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán mit den Worten: „Ah, the dictator is coming.“ Ein Scherz natürlich, vielleicht wohl kalkuliert. Aber immerhin einer der seltenen Momente, der die EU menschlicher erscheinen ließ.
https://www.youtube.com/watch?v=1hl83Jpd_OI
P.S.: Und wem das alles immer noch zu dröge ist, hier geht es zu den Regeln des JunckerBullshitBingos.
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Aufmacher-Foto: European Parliament/CC BY-SA 2.0