Diesen Text habe ich am 6. Oktober 2017 aktualisiert.
Tobias Bollinger ist 20 Jahre alt, als er sich 2005 bei einem Treffen am Rande der UN-Abrüstungskonferenz erhebt, um eine Bemerkung zu machen, die den Diplomaten gegenüber zu Tränen rühren wird.
Bollinger war damals Zivildienstleistender und hatte sich gut auf diese Konferenz vorbereitet. Die Delegierten sollten überprüfen, ob der Atomwaffensperrvertrag eingehalten wird – in dem zum Beispiel steht, dass die Atommächte abrüsten müssen. Doch die Konferenz verliert sich in oberflächlichen Diskussionen, Bollinger ist frustriert. Dem deutschen Diplomaten sagt er: „Wir sehen unsere Zukunft in Gefahr, wenn es weiterhin 30.000 völkerrechtswidrige Atomwaffen gibt. Wir wollen nicht darauf warten, bis unsere Generation mit dem Relikt aus dem Kalten Krieg fertig werden muss. Es ist inakzeptabel, dass Ihre Generation diese Entscheidung so lange vor sich herschiebt, bis sie es nichts mehr angeht.“
Allen im Raum blieb dieser Moment in Erinnerung. Sie sagen, dass er etwas verändert habe, dass sich die Diplomaten danach öfter mit den Aktivisten trafen und offener für ihre Argumente waren.
Es geht ihnen nicht um die Sicherheit von Staaten, sondern um die Sicherheit von Menschen
Die neue Anti-Atomwaffen-Generation geht ähnlich vor wie Bollinger. Sie mobilisiert nicht Zehntausende, um vor den Kasernen zu demonstrieren, sondern spricht mit Diplomaten in Genf. Sie lässt sich nicht auf die Sprache der Kalten Krieger ein, sondern will über Atomwaffen reden wie über jede andere Waffe auch. Sie will zeigen, wie unmenschlich sie sind, wie teuer – und wie nutzlos. Ihr geht es nicht um die Sicherheit von Staaten, sondern um die Sicherheit von Menschen. Diese Generation will Atomwaffen auch nicht abrüsten. Sie will sie einfach verbieten.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 verschwand die atomare Bedrohung aus den Köpfen der Menschen. Berlin war plötzlich sicher. Ideologien waren egal. Die Atommächte rüsteten ab, ausgerechnet der durch den Irak-Krieg verfemte George W. Bush schloss die meisten Abrüstungsverträge mit Russland. Allerdings ist die Gefahr nicht gebannt: Anstatt 1000-mal können die Regierungen der Atomstaaten heute alle Menschen auf der Erde 100-mal umbringen. Die USA, Russland, Frankreich modernisieren für Milliarden Euro ihre Arsenale. Dahinter steckt das Denken des Kalten Krieges: das Gleichgewicht des Schreckens kann und soll die Welt auch heute noch schützen, wenn es nach den Befürwortern der Bombe geht.
Der Schreibtisch der 26 Jahre alten Anti-Atomwaffen-Campaignerin Maria Lohbeck ist fast komplett leer, nur eine Wasserflasche steht darauf. Alle anderen Tische nebenan: auch leer. Von der Decke hängen Verteilerdosen, an den Wänden hunderte bunte Zettel und über dem Kühlschrank die Regeln für die Gemeinschaftsküche. Maria Lohbeck arbeitet in einem Berliner Coworkingspace, zwischen Unternehmern, die hier an ihren neuen Ideen feilen. „Wir sind wohl nicht die typischen Mieter“, sagt Lohbeck. Vielleicht sind sie es doch.
Lohbeck arbeitet bei der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen (ICAN): Als Campaignerin organisiert sie Veranstaltungen, trifft sich mit Entscheidungsträgern zu Lobbygesprächen und begleitet die großen Abrüstungskonferenzen. Sie wird dafür bezahlt. Das ist der Unterschied zu den vielen ehrenamtlichen Aktivisten, die die alte Anti-Atomwaffen-Bewegung der 1980er-Jahre ausmachten. Lohbeck und ihre Organisation wollen mit neuen Methoden den Kampf um die Zukunft dieser Waffen gewinnen. Sie stützen sich dabei auf aktuelle Erkenntnisse der Sozial- und Geschichtsforschung, nach denen Atomwaffen überbewertet und nutzlos sind. Sie argumentieren: Das kaiserliche Japan kapitulierte am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wegen der US-Atombombe, sondern, weil Stalin dem Land den Krieg erklärte. Und weiter: Im Kalten Krieg entging die Menschheit mehrmals nur mit Glück einem Atomkrieg, als Technik, Menschen und die Abschreckungstheorie versagten. Aber entscheidend für Lohbeck ist: Atomwaffen sind unmenschliche Waffen. Wer sie einsetzt, wird zum Kriegsverbrecher.
Atomwaffen abzuschaffen ist nicht so weit hergeholt, wie es klingt
Für Lohbeck und ihre Kollegen ist es wichtig, das zu betonen. Sie wollen zeigen, was Atomwaffen mit den Menschen machen. Viele andere diskutierten das ja nur auf einer abstrakten Ebene, sagt sie. Sie nennen das die „humanitäre Strategie“. Sie wollen damit ausbrechen aus den sicherheitspolitischen Großerzählungen und ein Gegennarrativ etablieren. Der Clou: Nicht das Denken der störrischen Militärs und Politiker muss sich unbedingt ändern. Sondern das der ganz normalen Menschen. Das reicht schon. ICAN und ihre Bundesgenossen wollen den Besitz von Atomwaffen tabuisieren, indem sie viel stärker deutlich machen, wie unmoralisch diese Waffen sind. Die Hoffnung ist, dass sich die Atommächte am Ende dem moralischen Druck der Weltöffentlichkeit beugen und auf ihre Waffen verzichten.
Das ist nicht so weit hergeholt, wie es zunächst klingen mag. Denn es war mit Barack Obama ein amerikanischer Präsident, der die Vision einer atomwaffenfreien Welt skizzierte. „Global Zero“ heißt das Ziel, und ihm haben sich im vergangenen Jahrzehnt namhafte Militärs und Sicherheitspolitiker angeschlossen, etwa der ehemalige US-Außenminister und überzeugte Realpolitiker Henry Kissinger oder der ehemalige Generalinspekteur des deutschen Heeres, Klaus Naumann. Beide Gruppen eint das Ziel, aber unterscheidet die Methode: Während Kissinger, Obama und Co. auf den seit den Hochzeiten des Kalten Krieges bewährten Prozess der schrittweisen Abrüstung setzen, wollen die Aktivisten die Waffen mit einem internationalen Vertrag ächten. Denn sie glauben nicht an die pragmatische Methode.
„Wir können nicht darauf warten, dass die Atommächte sich herablassen, etwas zu tun”
Deren wichtigste Grundlage ist der Atomwaffensperrvertrag. Wie schon Tobias Bollinger zehn Jahre zuvor, war auch Lohbeck dieses Jahr in New York bei der Überprüfungskonferenz des Vertrages und beobachtete, wie die EU versuchte, eine gemeinsame Position zu formulieren. Die Nicht-Atomwaffen-Staaten stritten sich mit den Atommächten Großbritannien und vor allem Frankreich über die Wortwahl: Sie wollten, dass von den „katastrophalen Folgen“ eines Atomwaffeneinsatzes gesprochen wird. Die Atomwaffenstaaten forderten hingegen den Satz zu ändern. Es solle nur von den „schwerwiegenden Folgen“ die Rede sein. So stritten die Staaten, ohne sich dem eigentlichen Problem zu widmen, einer schnelleren Abrüstung mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. „Ich glaube, dass wir über diese Waffen reden müssen wie über alle anderen Waffen auch. Wir können nicht darauf warten, dass die Atommächte sich herablassen, etwas zu tun“, sagt Lohbeck.
Am anderen Ende der Welt sahen das zwei alte Studienfreunde 2012 genauso. David Krieger und Tony de Brum büffelten zusammen an der Universität von Hawaii. Krieger gründete später die „Nuclear Age Peace Foundation“ und kämpft seitdem gegen Atomwaffen und hat schon über 50 Auszeichnungen für seine Arbeit erhalten. Tony de Brum wurde Außenminister seines Landes und kämpft für das gleiche Ziel. Denn de Brum stammt von den Marshallinseln, einer Inselgruppe im Pazifik, die lose an die Vereinigten Staaten angebunden sind. Von dort kamen auch die Atom- und Wasserstoffbomben, die „Inseln zum Schmelzen“ brachten und seine Heimat verseuchten. Jeder Dritte seiner Landsleute stirbt an Krebs.
Krieger und er überlegten, was die kleinen Marshallinseln tun könnten, um gegen dieses Unrecht zu protestieren. Das Land hat nur 70.000 Einwohner. 70 Prozent des Haushaltes finanzieren die USA und auch allgemein ist man sehr weit weg von den Medienzentren der Welt. Also entschieden sie sich, den Kampf dorthin zu tragen, wo ihnen garantiert zugehört werden wird: in die Weltöffentlichkeit. Sie verklagten die USA. Und Russland. China, Frankreich, Großbritannien. Pakistan, Indien, Israel. Und auch Nordkorea vergaßen sie nicht. Das neuntkleinste Land der Welt wollte es mit den neun Atommächten aufnehmen.
Die Daumenschrauben anziehen, den Besitz von Atomwaffen noch stärker ächten
Anwälte der Friedensbewegung unterstützten de Brum und reichten insgesamt zehn Klagen gegen die Atommächte ein. Neun vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, noch eine in San Francisco. Die USA verklagten sie zweimal, „weil sie so wichtig sind“, so Krieger. Sie stützten sich dabei auf einen Bericht des Gerichtshofes von 1996. Damals hatte die UN-Generalversammlung die Richter um ihre Einschätzung gebeten: Verstößt der Einsatz von Atomwaffen gegen geltendes Völkerrecht? Ja, meinten die Richter und forderten die Atommächte auf, zu verhandeln und dann abzurüsten.
Dieser Text ist Teil des Zusammenhangs: „Was du über Atomwaffen wissen musst“
Das US-Gericht, das sie angerufen hatten, fühlte sich nicht zuständig und wies die Klage ab. Die Marshallinseln werden Berufung einlegen. In Den Haag läuft es besser, das Gericht behandelt die Fälle, im Frühjahr 2016 sollen die ersten Anhörungen beginnen. Allerdings werden nur drei der Atommächte vor Gericht erscheinen. Für Krieger ist das zweitrangig: „Die Marshallinseln wollen ja keine Entschädigungszahlungen. Sie wollen nur, dass der Gerichtshof bestätigt, dieses Mal in echten Urteilen, dass die Atommächte verpflichtet sind, abzurüsten.“ Krieger will die Daumenschrauben anziehen. Den Besitz dieser Waffen noch stärker ächten als bisher.
„Diese Strategie ist grandios zum Scheitern verurteilt“, sagt Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Er ist einer der wenigen, deutschen Befürworter der nuklearen Abschreckung, die sich mit dieser Position auch in die Debatte trauen. Er hat vier Jahre lang für die Nato gearbeitet, in einem Sammelband der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung nannte er es „ethisch zweifelhaft“, Atomwaffen mit anderen Waffen gleichzusetzen. Denn konventionelle Waffen hätten viel mehr Menschen getötet. Atomwaffen sind zur Abschreckung da.
„Staatspersönlichkeiten haben ein Interesse am eigenen Überleben“, sagt er. Sie wären nicht so dumm sie einzusetzen. „Wenn Atomwaffen einer zivilen Kontrolle unterliegen, gut gesichert sind und man im Falle eines Angriffes glaubhaft mit einem Gegenangriff drohen kann, schrecken Atomwaffen ab.“ Deswegen habe es keinen Weltkrieg seit dem Zweiten Weltkrieg mehr gegeben, so Masala. Deswegen seien Atomwaffen „politische Waffen“. Verschrotten könne man sie eigentlich nur, wenn es eine ähnliche Waffe gebe, die den gleichen Zweck erfüllt.
Masala setzt aber lieber auf das Prinzip der „Minimalabschreckung“: „Wer das relativ klug macht, sind die Chinesen. Denn sie haben im Vergleich zu ihrer Macht ein kleines Arsenal. Sie haben folgendes Argument: Es reicht uns doch, wenn wir einem US-Präsidenten androhen können, Los Angeles, New York City und eine dritte Stadt zu zerstören. Diese Logik finde ich sehr überzeugend.“
114 Staaten verpflichten sich, Atomwaffen zu verbieten
Masala gehört mit dieser Ansicht fest ins Establishment. Wenn Maria Lohbeck und ihre Mitstreiter erfolgreich sein wollen, müssen sie der Skepsis etwas entgegensetzen. Sie verweisen dann auf den Fall der Landminen. 1997 unterschrieben zunächst 40 Nationen einen Vertrag, der deren Einsatz untersagte. Es war der erste Abrüstungsvertrag der Welt, der nicht von einem mächtigen Player organisiert wurde, sondern von einer vielfältigen Koalition aus Zivilgesellschaft, NGOs, Klein- und Mittelstaaten und von Prominenten. Legendär sind die Aufnahmen der englischen Prinzessin Lady Di, die mit Schutzausrüstung durch ein Minenfeld läuft und sanft lächelnd die Staaten geißelt, die Landminen nutzen. Tabuisierung, Ächtung, Delegitimisierung. Das zentrale Element der neuen Anti-Atomwaffen-Strategie stammt aus diesen Kampagnen. Politikwissenschaftler nennen solche neuen Verträge „Humanitäre Sicherheitsregime“ und konnten beobachten, dass sie wirken: Nachdem ein internationaler Vertrag Laserwaffen verbat, die Menschen erblinden lassen, ließen die USA verlauten, dass sie „nicht vorhaben, Geld für die Entwicklung einer Waffe auszugeben, die wir dann nicht nutzen dürfen“. Dabei könnten die USA diese Waffe durchaus nutzen, denn sie haben den entsprechenden Vertrag nicht unterzeichnet.
Noch etwas beobachteten die Politikwissenschaftler: Für den Erfolg dieser Kampagnen braucht es immer einen Staat oder eine ganze Gruppe, der für sie auf dem internationalen Parkett wirbt. Im Fall der Atomwaffen war das neben dem kleinen Norwegen das genauso kleine Österreich. Norwegen richtete im März 2013 in Oslo die erste Konferenz zu den humanitären Folgen von Nuklearwaffen aus. Damals war Alexander Kmentt dabei, Leiter der Abteilung für Abrüstungsfragen im österreichischen Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres. Er sagt, dass diese Konferenz mit ihren Vorträgen über die direkten und indirekten humanitären Folgen von Atomwaffenexplosionen ein „Eye-Opener“ gewesen sei für die internationale Gemeinschaft. Nukleare Abrüstung war plötzlich kein sicherheitspolitisches Thema mehr. Da war es, das Gegennarrativ.
Die Atommächte schauten hilflos zu, Deutschland blieb tatenlos
„Die humanitäre Strategie ist nicht neu, die Sorge darüber ist nicht neu, es steht in allen Verträgen drin, aber sie war nie der Fokus der diplomatischen Arbeit“, sagt Kmentt. Danach organisierte Kmentt mit seinen Leuten selbst eine Konferenz in Wien, und sie wurde schon im Vorfeld zu einer kleinen Sensation. Denn die USA und Großbritannien entsandten zum ersten Mal Delegierte. Ihre ablehnende Haltung hatte sich zwar nicht grundlegend geändert, aber „letztlich haben die USA erkannt, dass es für sie schädlich ist, wenn sie bei diesem Diskurs, der immer mehr Anhänger findet, nicht dabei sind. Es war ein politisches Kalkül: Sie wollten zeigen, dass sie das nicht ignorieren.“ Russland und Frankreich nannten die Amerikaner und Briten nach der Konferenz „Streikbrecher“, berichten einige Teilnehmer. Die Atomwaffenstaaten schauten hilflos zu, wie sich nach der Wiener Konferenz inzwischen 114 Staaten im sogenannten Austrian Pledge verpflichteten, „die Rechtslücke zu schließen“ und Nuklearwaffen zu verbieten.
Wer auch zuschaute: die Bundesrepublik Deutschland. Trotz der Abrüstungsinitiativen, die 2009 der damalige Außenminister Guido Westerwelle gestartet hatte, konnte sich das größte Land Europas nicht zu einer Unterschrift durchringen. Berlin favorisiert die schrittweise Abrüstung, den althergebrachten Stil. „Deutschland soll sich emanzipieren von der NATO und feststellen, dass man immer noch ernstgenommen wird, wenn man ein friedenspolitischer Akteur ist. Alles, was Außenminister Steinmeier zu Atomwaffen sagt, ist sehr schwach. Wir erwarten von Deutschland mehr Initiative“, sagt Maria Lohbeck von ICAN.
Die Abschaffung von Atomwaffen soll in der Diskussion bleiben – ob die Atommächte nun ihre Bestände modernisieren oder nicht. „Es ist uns erstmal egal, was die Militärs besprechen. Die Sklaverei wurde auch nicht abgeschafft, weil die Sklavenhalter plötzlich sagten: Oh, das ist falsch. Sondern, weil es eine große Gegenbewegung gab“, sagt Maria Lohbeck. Letztendlich seien die Militärs die Idealisten, die an das Gleichgewicht des Schreckens, an eine Vorstellung glaubten, die so einfach nicht existiert.
Und was seid ihr, Maria? „Realisten.“
Nachtrag: Im Sommer 2017 ist es der Bewegung gelungen, tatsächlich ein Verbotsvertrag bei den UN durchzusetzen. 122 Staaten unterschrieben einen entsprechenden Vertrag. Für diesen Erfolg erhielt ICAN im Herbst 2017 den Friedensnobelpreis.
Aufmacher-Foto: Rico Grimm
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