Schöner Wohnen mit NS-Opfern
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Schöner Wohnen mit NS-Opfern

Um Käufer zu finden, geben Immobilienunternehmen ihren neuen Wohnanlagen Namen - auch von NS-Opfern wie John Schehr oder Anne Frank. Als Kunde kann man so ein Appartement in „Anne Frank Living“ beziehen. Das ist zynisch.

Profilbild von Juliane Wiedemeier

Exklusive Eigentumswohnungen. Neubaustadtvilla. Hochwertige Ausstattung. Fenster aus Merantiholz, Fassade aus Wittmunder Torfbrandklinker. Hamburg-Blankenese.

Und nun der Name: „Anne Frank Living“.

Manchmal fragt man sich, ob diese Investoren eigentlich noch alle Tassen im Schrank haben.

Dass Neubauten sich nicht mit einem Straßennamen und einer Hausnummer begnügen, um sich von anderen Häusern zu unterscheiden, daran haben wir uns längst gewöhnt. Der moderne Großstädter wohnt nicht in der Max-Mustermann-Straße 13, sondern in „The View“, „Flottwell Living“ oder den „upTownhouses“. Bei der Namenswahl lassen sich die Bauherren mal vom Ort inspirieren wie beim „Alpenglühen“ mit Alpenblick in München, mal vom Namen der Straße wie beim Berger-Palais in der Frankfurter Berger Straße. Wenn der Name jedoch an ein Opfer des Nationalsozialismus erinnert, wird das zum Problem. „Anne Frank Living“ in der Hamburger Anne-Frank-Straße ist dafür nur ein Beispiel.

John Schehr: Vom Kommunisten zum Neubau-Namensgeber

Berlin, Prenzlauer Berg. Leichter Nieselregen fällt auf die John-Schehr-Straße, die definitiv nicht zu den schönsten des berühmten Altbauquartiers gehört. In eine einstige Baulücke hat sich ein eher unprätentiöser Neubau gezwängt: weiße Fassade, grauer Klinker, französische Balkone. Das ist „Johns Home“.

"Johns Home" in Berlin Prenzlauer Berg wurde vor drei Jahren fertiggestellt.

“Johns Home” in Berlin Prenzlauer Berg wurde vor drei Jahren fertiggestellt. Foto: Juliane Wiedemeier

Das letzte Heim des hier so vertrauensvoll geduzten John Schehr war, wenn man es so bezeichnen möchte, das KZ Columbia-Haus. In diesem frühen Konzentrationslager am Rande des Tempelhofer Feldes in Berlin inhaftierte die Gestapo den KPD-Vorsitzenden im November 1933. Um Informationen über den Kampf der Kommunisten im Untergrund zu erhalten, folterten sie ihn. Wenige Wochen später wurde John Schehr in einem Waldstück am Wannsee erschossen.

Heute findet sich seine Lebensgeschichte auf Seite 8 des schick designten Exposés zum Neubauprojekt. Auf den Seiten davor wird die Schönheit der Umgebung beworben („Einmal schnell die Enten füttern gehen? Vor der Arbeit joggen statt im Fitnessstudio zu schwitzen? Grillen mit Freunden, chillen bei Sonnenuntergang oder doch lieber Kino unter freiem Sternenhimmel?“), danach folgt der Grundriss der Drei-Zimmer-Wohnungen.

Das richtige Umfeld, um an die Gräuel der Nationalsozialisten und ihre Opfer zu erinnern, sieht anders aus.

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Lars Pillau von der Berliner Volksbank Immobilien GmbH, die Vertrieb und Finanzierung des Komplexes verantwortet, sieht das pragmatisch. „Natürlich wurde im Vorfeld der Namensfindung ausführlich – und kontrovers – über die Assoziation diskutiert“, sagt er. Zentral beim Verkauf von Wohnungen sei aber deren Lage, da orientiere man sich halt am Straßennamen. „Dass hier John Schehr als Namensgeber der Straße NS-Opfer und Kommunist war, galt es entsprechend zu kommunizieren.“ So sei Schehrs Biografie in der Broschüre gelandet.

Nur emotional aufgeladene Häuser sind gut verkäufliche Häuser

Doch warum braucht ein Haus überhaupt einen Namen? Lars Pillau erklärt das mit seiner Zielgruppe, die er „klassische Volksbankkunden“ nennt. Damit meint er Menschen mit durchschnittlichem Einkommen, die die Wohnungen nicht als Geldanlage nutzen, sondern selbst dort leben wollen. Der Kauf einer Wohnung sei für diese Klientel eine Entscheidung fürs Leben. „Unserer Erfahrung nach ist eine emotionale Darstellung des Bauvorhabens ein wichtiges Identifikationsmittel der Erwerber mit ihrer Wohnung“, so Pillau.

Der Name soll also helfen, Käufer zu finden. „Ein NS-Opfer für solche Zwecke zu instrumentalisieren, ist zynisch“, meint Oliver Ibert.

Der Professor für Wirtschaftsgeographie an der FU Berlin sowie Mitarbeiter des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung kennt sich aus mit Häusern und Namen. Früher, im Mittelalter, sei es schon einmal üblich gewesen, diese zu benennen, erzählt er. „Das hatte ganz pragmatische Gründe: Es ging darum, Orte wiederzufinden.“

Solange die Siedlungsstrukturen überschaubar waren, reichten Beschreibungen wie „Haus zum Walfisch“ oder „Haus zur steinernen Glocke“ aus, um diese an ihrer markanten Fassadengestaltung zu erkennen. „Erst mit dem Anwachsen der Städte wurde diese Praxis rationalisiert und durch Straßennamen und Hausnummern ersetzt“, erklärt Ibert. Wenn heute Häuser wieder eigene Namen bekämen, sei das schlichtweg ein Mittel des Marketings. „Es geht darum, unterscheidbar zu sein und aus dem unüberschaubaren Markt herauszustechen.“

Wiedererkennbarkeit um jeden Preis

Diesen Aspekt räumt auch die Immobilienbranche freimütig ein. „Das Neubauprojekt erhielt seinen Namen zur Erlangung eines Wiedererkennungseffekts in der Vielzahl aktueller Bauprojekte“, sagt Tobias Frank, Sprecher für den Hamburger Projektentwickler Evoreal. Das von ihm verantwortete „Bänsch-Quintett“ - fünf Neubaublöcke im Berliner Stadtviertel Friedrichshain – wurde gerade fertiggestellt.

Derjenige, der heute dem Komplex „von haptischer Materialqualität sowie zurückhaltender und zeitloser Architektursprache“ (Quelle: Projektwebsite) seinen Namen leiht, wurde 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. 35 Jahre alt war Willi Bänsch damals; elf davon hatte der Kommunist und Schlosser aus Berlin im Widerstand gegen die Nationalsozialisten verbracht. Bezahlt hat er dafür mit Gefängnis und Arbeitserziehungslager. Als er nach der Flucht aus Letzterem wieder aufgegriffen wurde, machten die Nazis kurzen Prozess.

Natürlich kenne man Bänschs Geschichte, aber bei der Namenswahl habe sie keine Rolle gespielt, meint Frank. „Uns geht es ausschließlich um den Wiedererkennungseffekt des Straßennamens.“

Für Immobilienfirmen ist der Name Mittel zum Zweck. Den Opfern des Nationalsozialismus wird das nicht gerecht.

Aus „Anne Frank Living“ wird AF99

Beim eingangs erwähnten „Anne Frank Living“ scheint diese Erkenntnis doch irgendwann eingetreten zu sein. Anders als John Schehr und Willi Bänsch, denen man nicht unbedingt im Geschichtsunterricht begegnet, ist das Schicksal Anne Franks aber auch weltweit bekannt. Ein Neubauprojekt nach ihr zu benennen und es ausgerechnet mit dem Zusatz „Living“ zu versehen, ist daher besonders gewagt.

Im Herbst des vergangenen Jahres wurde das Objekt in der Hamburger Anne-Frank-Straße noch unter diesem Namen beworben. Mittlerweile ist die Website offline, Bruchstücke von ihr lassen sich nur noch über die Wayback-Machine des Internet Archive finden.

Wenn man bei Sören Münzner vom Hamburger Finanzkontor anruft, der im Impressum als Verantwortlicher steht, will dieser von dem Projekt nichts mehr wissen. Das sei längst abgegeben, damit habe er nichts mehr zu tun. Das gleiche hört man auch aus dem Büro der einst zuständigen Maklerfirma CK Immobilien.

Auf deren Facebookseite findet sich eine letzte Spur des Neubaus – unter dem Namen AF99.

https://www.facebook.com/ckimmobilien/posts/380750785415173

Anne Frank musste für dessen Verkaufswerbung nicht mehr herhalten. Anderen Opfern des Nationalsozialismus bleibt das nicht erspart.


Aufmacherfoto: Juliane Wiedemeier. „Johns Home“ liegt in einem Viertel, in dem die Straßen nach Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime benannt wurden.