Der erste Gegner der NATO ist die eigene Bürokratie
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Der erste Gegner der NATO ist die eigene Bürokratie

Die NATO hat in den vergangenen Jahrzehnten weit über ihre Grenzen hinausgeblickt. Jetzt übt sie wieder, was früher Alltag war: Die Vorbereitung auf eine Verteidigung ihres Bündnisgebiets.

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Vom Präsidentenhügel des Truppenübungsplatzes Zagan im Westen Polens geht der Blick über ein endloses Meer aus Sand und Wald. Fast bis zum Horizont erstreckt sich der Blick über das leicht gewellte Gelände, ideal für die Vorführung von Panzerattacken und schnellen Luftlandungen. Zagan hat sich die NATO ausgesucht, um ihre neue superschnelle Eingreiftruppe, die vergangenes Jahr auf dem Bündnisgipfel beschlossene „Speerspitze“, vorzuführen.

Die Bilder aus Zagan sollen Kampfkraft und Entschlossenheit des Bündnisses demonstrieren. Doch als NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der militärische Oberkommandierende Philip Breedlove und mehrere Verteidigungsminister dort in dieser Woche das Spektakel mit der Vorführung einer Gefechtsübung abnahmen, war die wichtigste Schlacht beim Manöver „Noble Jump“ schon längst geschlagen: Die gewaltige logistische Anstrengung der Allianz bei ihrem ersten Anlauf seit zwei Jahrzehnten, blitzartig eine kampfkräftige Truppe in Marsch zu setzen.

Die neue multinationale Einheit hatten die Staats- und Regierungschefs im September vergangenen Jahres in Wales als neues Instrument geschaffen – unter dem Eindruck der Ukraine-Krise und der Spannungen mit Russland, aber auch der Erfolge des selbst ernannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak. Die „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF) soll innerhalb weniger Tage „auf Herausforderungen vor allem an den Grenzen des NATO-Gebiets“ reagieren können. Das bedeutet eine Einsatz- und Abmarschbereitschaft innerhalb weniger Tage – und ein schnelles Eintreffen an jedem Ort. Bewusst prägte die NATO dafür den Begriff der „Speerspitze“.

Panzerfaust im scharfen Schuss: Deutsche Soldaten in Zagan

Panzerfaust im scharfen Schuss: Deutsche Soldaten in Zagan Foto: Thomas Wiegold

Und da liegt die Herausforderung vor allem für die europäischen NATO-Länder, selbst wenn es nur um eine Verlegung von Truppen innerhalb des Bündnisgebiets geht. In den vergangenen 20 Jahren bestimmten Auslandseinsätze wie in Afghanistan das tägliche Geschäft der Streitkräfte. Auch die mit viel Aufwand für Ausbildung, Ausrüstung und Transport von Soldaten und Gerät – aber mit langen Planungszeiten. Wer als Bundeswehrsoldat in den Einsatz am Hindukusch ging, wusste Monate vorher, wo es hinging. Und die Verwaltung wusste ebenso lange, welches Gerät wann wo bereitgestellt werden musste.

Jetzt sollen die Truppen und ihr Material binnen Wochenfrist bewegt werden können. „Amateure kümmern sich um Strategie, Profis um die Logistik“, lautet ein Bonmot in Streitkräften. Im konkreten Fall zweifellos korrekt: ohne Klimmzüge bei Logistik und Transport käme die größte militärische Allianz weltweit mit ihrer „Speerspitze“ kaum voran.

An dieser Stelle muss vermutlich eine Laien-Ansicht korrigiert werden. Wer mit Militär selten zu tun hat, stellt es sich etwa so vor: Der Soldat ist ohnehin in der Kaserne. Und wenn der Befehl kommt, holt er sein Gewehr aus der Waffenkammer, besteigt auf dem Kasernenhof seinen Schützenpanzer oder Geländewagen und macht sich auf den Weg.

Tatsächlich ist die Verlegung einer Einheit, noch dazu vollständig ausgerüstet, ein komplexer Vorgang, der Wochen dauern kann. Das Problem beginnt schon damit, dass in der über die Jahre verkleinerten Bundeswehr inzwischen kaum noch ein Truppenteil die komplette Ausrüstung vorrätig hat. Für das Panzergrenadierbataillon 371, das den Kern des deutschen Beitrags zur NATO-Eingreiftruppe stellt, musste vieles bei anderen Einheiten des Heeres ausgeliehen werden: von Nachtsichtgeräten über Maschinenpistolen bis hin zu den „Marder“-Schützenpanzern im neuesten Ausrüstungsstand. Für ein Manöver in Norwegen im vergangenen Jahr bekamen die Grenadiere, streng nach Vorschrift, keine Wollmützen aus der Kleiderkammer: Die stehen nach den Regelungen nur Infanteristen zu – formal gehören Panzergrenadiere aber zur Panzertruppe. Der erste Gegner ist die Bürokratie.

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Und die schlägt erst recht zu, wenn es aus dem Kasernentor hinausgeht. Wer gefährliche Güter - und Munition für Gewehre, Panzer und Geschütze ist fraglos ein gefährliches Gut - quer durch Europa transportieren will, muss das anmelden. Für den Lufttransport von Munition sechs Wochen vorher, sagt Major Stefan S., der Nachschuboffizier der „Marienberger Jäger“, des Panzergrenadierbataillons 371.

Verladung der deutschen Schützenpanzer für den Bahntransport

Verladung der deutschen Schützenpanzer für den Bahntransport Foto: NATO Photo/Gueiting/Public Domain

Für Bahn- und Landtransport sind die Fristen kürzer, aber immer deutlich über der Zeit, die die NATO für die Verlegung des Großteils der VJTF fordert. 14 bis 30 Tage muss der Major regelmäßig einplanen: „Wie das auf Dauer geregelt werden soll, weiß ich nicht.“

Die Vorschriften für Gefahrguttransporte haben gute Gründe. Aber für die Bundeswehr – und verbündete Streitkräfte – gelten die gleichen Regelungen wie für den zivilen Gütertransport. Wäre Krieg, also hätte in Deutschland der Bundestag den Verteidigungsfall ausgerufen, wäre zwar alles ganz anders. Doch zum Glück ist kein Krieg, und die Truppe muss sich an die üblichen Friedensvorschriften halten: Ein Mittelding, so etwas wie beschleunigte Verfahren in einem Krisenfall, sehen Gesetze und Regelungen eben nicht vor. Und selbst in einer EU mit einem Binnenmarkt gelten für den grenzüberschreitenden Transport sehr umfangreiche Regeln.

Deshalb füllt Major S. vor jedem Marsch seiner Truppe über eine Grenze auch Unmengen von Zollformularen aus – für die Ein- und Ausfuhr von militärischen Gütern: 14 Schützenpanzer „Marder“ aus Marienberg nach Polen, später 14 Schützenpanzer „Marder“ wieder zurück, das Gleiche für Transportpanzer, Lkw, Spähwagen, Gewehre und natürlich Munition. Als wäre er bei einer zivilen Spedition. „Zolldokumention ist das, was keiner auf dem Schirm hat“, sagt der Logistikoffizier achselzuckend. Für seinen Verband allerdings inzwischen „eine normale Sache“, wenn auch zeitraubend: „Mit einem Acht-Stunden-Tag können Sie das nicht regeln.“

Dabei hatte die NATO schon mal Prozeduren für den schnellen Transport von Gerät, Waffen und Truppen quer durch ihr Territorium. Früher, in den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als das Bündnis auf eine Verteidigung gegen Truppen aus dem Warschauer Pakt eingestellt war. „Das haben wir gemacht in Divisionsgröße, aber nach Ende des Kalten Krieges war die Situation natürlich eine andere“, erinnert sich Generalleutnant Volker Halbauer, Kommandeur des Deutsch-Niederländischen Korps, das die VJTF befehligt. „Wenn wir schnell werden wollen, dann brauchen wir gemeinsame Standards, auf deren Grundlage wir arbeiten. Diese Standards entwickeln wir.“ Denn „heute im Friedensbetrieb brauchen wir einen gewissen Vorlauf“.

Dass die Bürokratie anders ist als im Kalten Krieg, hat nicht allein mit der veränderten politischen Lage nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des Warschauer Pakts zu tun: Etliche Länder, vor allem in Osteuropa, gehörten vor 25 Jahren noch nicht der NATO an. Und viele Bestimmungen wurden von der EU neu erlassen – in dem Verständnis, dass es keinen Grund gebe für schnelle Truppenbewegungen über Landesgrenzen.

So melden nicht nur die Deutschen ihre Transporte rechtzeitig vorher an. Auch die Norweger und die Niederländer, zusammen mit der Bundeswehr Teil der ersten „Speerspitze“, reichten ordnungsgemäß Wochen vorher die Unterlagen für die Verlegung ihres Kriegsgeräts zunächst nach Deutschland und dann weiter nach Polen ein.

Zoll und Transportgenehmigungen sind nicht die einzige administrative Schlacht, die die NATO-Nationen für die neue Eingreiftruppe schlagen müssen. Bei der Zusammensetzung experimentieren alle Länder noch. Bis hin zu der Frage, wie bei einer solchen Eingreiftruppe der Mix aus Kampftruppen, so genannten Unterstützungstruppen wie Pionieren und eben Logistik aussehen soll – und die Stärke von Sanitätseinheiten.

66 Männer und Frauen aus dem Sanitätsdienst haben zum Beispiel die Bundeswehr-Planer für den knapp 1.000 Soldaten starken deutschen Gefechtsverband vorgesehen: Ärzte, Rettungssanitäter, Krankenpfleger. Ob das reicht? Oberfeldarzt Tim S., der Chef der Sanitäter-Truppe, verweist diplomatisch auf die Unterschiede bei einem Einsatz der Eingreiftruppe zu der Mission am Hindukusch: „Afghanistan ist eine Stabilisierungsoperation. Was wir hier üben, sind Operationen Angriff und Verteidigung, Operationen, in die wir hoffentlich in nächster Zeit nicht live kommen werden. Das sind allerdings Operationen, die allerdings selbstverständlich höhere Verwundetenzahlen produzieren würden, als wir in Stabilisierungsoperationen (…) jetzt erleben.“ Ob die 66 Soldaten da reichen? „Das wird sich langfristig zeigen.“

Ein Dummy zum Üben lebensrettender Maßnahmen in der Rettungsstation

Ein Dummy zum Üben lebensrettender Maßnahmen in der Rettungsstation Foto: Thomas Wiegold

Ein Blick in die Rettungsstation des Oberfeldarztes weckt Zweifel. Für fünf Schwerverwundete ist sie ausgelegt, auch das eine Erfahrung aus Afghanistan: Dort gab es nach Anschlägen mit Sprengfallen zwar äußerst schwer verwundete Soldaten – aber in überschaubarer Zahl. Die Gefechte, auf die sich eine NATO-Eingreiftruppe in einem Kampf mit einem konventionellen Gegner, also einer anderen regulären Streitmacht, einstellen muss, könnten das grundlegend ändern.

Hinzu kommt, dass der Oberfeldarzt und seine Kameraden mit dem Rotkreuz-Zeichen am Arm an die „Speerspitze“ nur ausgeliehen sind. Anders als die Panzergrenadiere, Pioniere oder Nachschubspezialisten gehören sie der Eingreiftruppe nur im Nebenjob an – und sollen eigentlich als Truppenarzt oder Leiter eines regionalen Bundeswehr-Sanitätszentrums den Normalbetrieb der ärztlichen Versorgung in der Bundeswehr sicherstellen. Auf die Frage, ob das für ein Jahr durchzuhalten ist, den Zeitraum, in dem die Soldaten der schnellen Eingreiftruppe in Bereitschaft stehen, hat Oberfeldarzt S. eine klare Antwort: „Nein.“

Ein gepanzerter Sanitätstransporter der Bundeswehr vom Typ "Boxer"

Ein gepanzerter Sanitätstransporter der Bundeswehr vom Typ “Boxer” Foto: Deutsch-Niederländisches Korps / Eric Morren

Mit all diesen Details befassen sich die Politiker kaum, die in Zagan die Gefechtsübung von mehr als 2.000 Soldaten, von Kampfpanzern, Schützenpanzern, Luftlandetruppen, Spezialeinheiten und Hubschraubern als Kulisse für ihre politische Botschaft nutzen. Sie wollen das Bild vermitteln: Die NATO hat eine schlagkräftige Truppe, die als Abschreckung überall an den Grenzen der Allianz bereit steht.

Die Kleinarbeit kommt jetzt auf die Kommandostäbe und auf die Truppe zu. In den nächsten Monaten, ahnt Generalleutnant Halbauer, werden wohl große Massen Papier produziert werden. Denn das politische Signal des Bündnisses soll auch einen realen Hintergrund haben.

Auch wenn es erst mal vor allem um die Botschaft geht – denn Psychologie ist im neuen Wettstreit vor allem zwischen der NATO und Russland mehr als die halbe Miete. Da bekommen auch alte Planungen eine ganz neue Bedeutung: Schon im Januar und im Februar hatte die U.S. Army in Europa angekündigt, im Osten der Allianz, im Baltikum und in Polen, nach Standorten für Kampfpanzer und anderes Gerät zu suchen, das schon mal dort in Depots eingelagert und bei Bedarf von eingeflogenen US-Soldaten in Betrieb genommen werden soll.

Vier Monate nach dieser Ankündigung lancierten politische Kreise in den baltischen Staaten diese Nachricht erneut – über die New York Times. Als scheinbar neues Zeichen der Entschlossenheit von NATO und USA.Was schon lange bekannt war, aber neu schien, führte wieder zu scharfen Reaktionen Russlands: Die Ankündigung, ebenfalls an ihrer Grenze zur NATO mehr Militärgerät zu stationieren. Und die Zahl der Interkontinentalraketen für Atomsprengköpfe zu erhöhen.


Titelbild: Norwegische CV90-Schützenpanzer auf dem Truppenübungsplatz Zagan. Foto: Thomas Wiegold


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