Ein Teil der Wahrheit ist so eindringlich, dass man sie gar nicht explizit beschreiben will. Exkremente bedecken das Badezimmer im Haus der pflegebedürftigen Mutter von Günter Vogt*, dazu Erbrochendes, umgekippte Möbel - das gesamte erste Stockwerk ist verwüstet.
Die Ursache dafür ist nicht etwa die Seniorin, sondern Donata*, ihre Pflegekraft aus Litauen. Die befindet sich in einem Alkohol-Delirium. In den letzten vier Tagen hat sie 13 Flaschen Wein getrunken, die sie im Keller des Hauses gefunden hat. „Sie stand nachts ständig am Bett meiner Mutter und hat nichts mehr registriert“, sagt Vogt. „Um meine Mutter zu schützen, habe ich dann im Haus geschlafen.“
Über einen Bekannten hatte Vogt die Frau angeheuert und sie schwarz als sogenannte Care-Workerin beschäftigt, damit seine Mutter nicht ins Pflegeheim ziehen muss. Dafür bekommt Donata: 250 Euro pro Woche, bar auf die Hand.
„Als sie ankam, war sie ein bisschen komisch, wirkte schon apathisch - da hat sich herausgestellt, dass sie schon total betrunken war“, sagt Vogt. „Das war zu Beginn ihres dritten Einsatzes, die ersten beiden Male haben wir nichts bemerkt.“
Vogt weiß sich mit Donata nicht zu helfen. Die Care-Workerin (auf Deutsch: Heimbetreuerin) fordert immer wieder Alkohol, weint und jammert. Eine Krankenversicherung hat sie nicht. Schließlich fährt Vogt die Frau zum Flughafen in Dortmund, kauft ihr ein Ticket und setzt sie in eine Maschine Richtung Vilnius. „Wir haben später erfahren, dass sie schon vor Jahren Alkoholprobleme hatte“, sagt Vogt. „Vielleicht ist zu Hause etwas passiert, und sie ist rückfällig geworden - oder sie dachte vorher, ich schaffe das nicht.“
Gut möglich, denn vielen der Care-Workerinnen aus Osteuropa geht es nicht gut in Deutschland. Sie fühlen sich schlicht überfordert.
„Ich habe mich manchmal wie eine Sklavin gefühlt“, sagt die 56-jährige Malgorzata. „Ich habe die ganze Woche durchgearbeitet. Mein Patient konnte keine fünf Minuten alleine bleiben.“ Über Monate pflegt die alleinstehende Polin einen 75-Jährigen in Bayern. Der Mann ist dement und aggressiv, leidet unter Darmkrebs und kann nicht mehr alleine laufen. Eine pflegerische Ausbildung hat Malgorzata nicht vorzuweisen, aber immerhin zwei Semester Medizinstudium vor 30 Jahren.
„Ich musste den Popo drei bis vier Mal täglich saubermachen, Pipi ist gelaufen. Er hatte Angst.“ Malgorzata spricht mit starkem polnischem Akzent. Die Sätze sprudeln nur so aus ihr heraus.
Sechs Monate ohne freien Tag
„Ich durfte keinen Kontakt zu anderen polnischen Frauen in dem bayerischen Dorf haben. Meinen ersten freien Tag hatte ich nach sechs Monaten. Das war ein komisches Gefühl - einfach in einem Cafe sitzen, Leute sehen. Ich dachte, ich werde verrückt. Das war, als ob ich auf einen anderen Planeten geflogen bin.“
So wie Malgorzata geht es vielen der rund 200.000 osteuropäischen Care-Workerinnen und Care-Worker, die deutsche Senioren pflegen, weiß Sylwia Timm. Der Großteil von ihnen: Frauen. Timm arbeitet bei der Beratungsstelle „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der überwiegende Teil der Frauen, die sich hier melden, sind aus Polen. Andere kommen aus Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien oder Ungarn. Die Probleme, weswegen sie anrufen, ähneln sich.
„Die Pflegekräfte sind oft 24 Stunden im Einsatz. Sie leben isoliert, halten nur Kontakte zu ihren eigenen Familien über Skype und Telefon. Viele sprechen kein Deutsch. Deswegen gleiten sie sehr häufig in Depression und Hoffnungslosigkeit ab. Es geht diesen Frauen wirklich nicht gut“, sagt Timm und sieht dabei sehr müde aus.
Ihr Büro liegt in einem grauen Gebäudekomplex nahe dem Kurfürstendamm in Berlin. Während des Interviews klingelt immer wieder ihr Telefon - sie nimmt an, wimmelt die Anruferinnen auf Polnisch ab, bittet sie, sich in den nächsten Tagen noch einmal zu melden. „Ich habe einfach viel zu viel zu tun“, sagt Timm. Nur sechs Anlaufstellen wie ihre gibt es in ganz Deutschland. Die Beratung ist vor allem juristisch. Dabei bräuchten viele Frauen ergänzend psychologische Betreuung.
Einige Care-Workerinnen schicken Timm Bilder ihrer Unterkünfte. Sie zeigen heruntergekommene Klos und Kellerräume mit Bett oder ungeheizte Dachböden. Immer wieder hört Timm Geschichten von Frauen, die vor dem Bett pflegebedürftiger Senioren auf dem Boden schlafen müssen. „Die werden zum Teil behandelt wie Leibeigene“, sagt Timm. Einige, erzählt die Beraterin, müssten Anti-Depressiva nehmen. Fragt man bei Familien nach, die osteuropäische Care-Workerinnen beschäftigen, hört man immer wieder, dass überdurchschnittlich viele der Frauen trinken. Was in Artikeln zum Thema und in Forschungsarbeiten selten thematisiert wird, ist ein offenes Geheimnis.
Tausend vermeintliche Pflichten, aber kaum Rechte
Die Einsamkeit, das ständige Arbeiten ohne Ausgleich treibt auch Malgorzata in die Krise. Kurz vor Weihnachten weiß sie nicht mehr weiter. „Ich war psychisch total erledigt“, sagt sie. Von ihrem eigentlichen Arbeitsgeber, einem Pflegedienst, bekommt sie keine Hilfe, sondern Druck. „Als ich einen freien Tag wollte, sollte ich den bezahlen“, klagt Malgorzata. Aber um gegen die Ausbeutung vorzugehen, fehlen ihr zunächst Kraft und Mut.
Vielen Frauen, die sich über dubiose Agenturen an die Familien Pflegebedürftiger vermitteln lassen, geht es ähnlich. Sie haben tausend vermeintliche Pflichten, aber kaum Rechte. Frauen, die eigentlich für hauswirtschaftliche Tätigkeiten eingestellt sind, müssen plötzlich Windeln wechseln oder Spritzen geben, examinierte Krankenschwestern sollen kochen, bügeln, putzen. Viele Firmen vermitteln Care-Workerinnen ohne jegliche Vorkenntnisse oder nach einem kurzen Crashkurs an manchmal schwerkranke Menschen.
„Diese Agenturen überlassen die Frauen sehr oft ihrem Schicksal“, sagt Sarah Schilliger von der Universität Basel. Die Soziologin hat über Care-Migration promoviert. „Viele haben eine riesige Verantwortung, sind aber gar nicht qualifiziert und deswegen überfordert.“
Den meisten Agenturen scheint das egal zu sein. Das Geschäft mit der Vermittlung von Pflegekräften ist lukrativ, der Markt kaum überschaubar. Hunderte Agenturen, zum Teil dubiose Briefkastenfirmen, werben Frauen an und beschäftigen diese oft an der Grenze zur Illegalität. Viele Care-Workerinnen lassen sich aber auch durch Mund-zu-Mund-Propaganda vermitteln und verdienen gänzlich schwarz. Mal pendeln die Frauen für je drei Monate nach Deutschland, mal bleiben sie für ein Jahr oder länger.
Zwei Euro oder weniger pro Stunde
Für ihre Einsätze bekommen die meisten zwischen 1.000 und 1.500 Euro pro Monat. Das ist viel im Vergleich zu den Löhnen in den Heimatländern, aber Dumping im Verhältnis zu Verantwortung und Arbeitsaufwand. Berechnet man die Einsatzstunden konsequent, verdienen nicht wenige gerade mal zwei Euro oder weniger. Viele sind nicht einmal sozialversichert und zahlen auch keine Steuern. „Eigentlich“, sagt Sylwia Timm, „müssten die Frauen seit dem 01. Januar mindestens 8,50 Euro pro Stunde bekommen - bei einem Acht-Stunden-Tag. Und zusätzliches Geld für Bereitschaftsdienste.“ Das ist von der Realität aber weit entfernt.
Ein Drei-Schicht-System können und wollen sich die meisten Angehörigen nicht leisten. Dabei wäre das für alle Seiten besser. „Menschen, die stark pflegebedürftig sind, kann man nicht alleine betreuen“, sagt Juliane Karakayali. Sie ist Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin und hat über Biografien von polnischen Pflegefrauen habilitiert. „Da geht es ja nicht nur darum, zu waschen oder einzukaufen, es geht auch darum, mit den Alten fernzusehen, den Arztbesuch zu organisieren oder den Kuchen für die Nachbarin zu backen. Man muss für sämtliche Anforderungen auf Stand-by geschaltet sein.“ Für viele Care-Workerinnen gilt das über Monate.
Oft haben die Frauen nicht den Mut, sich gegen die Ausbeutung zu wehren, und werden von Agenturen und Familien ausgenutzt. „Viele haben schlicht Angst, ihren Job zu verlieren“, sagt Ingeborg Haffert. Die Journalistin hat für ein Buch Care-Workerinnen interviewt und daraus konkrete Hilfestellungen für Familien und angestellte Pflegekräfte abgeleitet. Ihr Fazit: Die ideale Konstellation gibt es nicht. „Aber Angehörige können viel verbessern, wenn sie mit den Pflegekräften reden.“
„Die Frauen brauchen eine feste Anstellung, nicht das Kuvert in der Hand“
Vertraglich geregelte Arbeitszeiten, klar definierte Aufgaben, ein eigenes Zimmer, das abschließbar ist und ein Internetzugang - schon mit diesen Basics könne man den Care-Workerinnen das Leben leichter machen. „Es gibt durchaus Frauen, die mit ihrer Situation zufrieden sind, wo das Gefühl des Ausgebeutetseins nicht so groß ist“, sagt Karakayali. „Aber das Problem ist, dass das zufällig passiert.“ Haffert sieht deswegen vor allem auch die Familien der Pflegebedürftigen in der Pflicht. „Die Frauen brauchen eine feste Anstellung, nicht das Kuvert in der Hand. Mein Appell: Kümmert euch um die Eltern und die Pflegekraft.“
Unterstützung von den Angehörigen hätte auch Malgorzata sehr geholfen. Aber die beriefen sich bei Beschwerden auf den Vertrag mit einem Pflegedienst. Dort war Malgorzata offiziell angestellt, allerdings anders als üblich, nur für einen einzigen Patient. Ihren deutschen Vertrag, sagt sie, hatte sie nicht verstanden. Bis heute weiß sie nicht, ob sie versichert war. Nach einem Gespräch mit Sylwia Timm beschließt sie, vor dem Arbeitsgericht zu klagen. „Das war wie im Film ‘Allein gegen die Mafia’, sagt sie, ohne dabei zu lachen. “Alle sind total nett und lieb, wenn wir billig sind und alles machen. Aber wenn wir Hilfe brauchen, ist es zu viel.” Gebracht hat ihr die Klage nur wenig Geld, aber ein kleines Stück Befriedigung.
*Name von der Redaktion geändert
Illustration: Veronika Neubauer
Wer eine seriöse Vermittlungsagentur sucht und Pflegearbeiterinnen fair beschäftigen möchte, dem empfehlen Expertinnen wie Ingeborg Haffert das Diakonie-Projekt „FairCare“ in Baden-Württemberg und das Caritas-Angebot „Caritas24“ in Nordrhein-Westfalen.