Florian Nagl selbst nennt sich ‘Zigeiner’, Lebemensch trifft es vielleicht besser. Das wird schnell klar, sobald der 32-Jährige von den vergangenen Reisen erzählt. Ursprünglich kommt er aus Tapfheim bei Donauwörth. Nach Abitur und Bundeswehr zieht er los – was in siebeneinhalb Jahren Backpacking mündet. Australien, Neuseeland, Afrika, Südamerika. Zwischendurch noch ein Studium in Deggendorf: International Business Management.
Während des Studiums kommt Nagl zum Bergsteigen. In Afrika erklimmt er den Kilimandscharo. Das hat sein Leben verändert, sagt er. Nach ein paar weiteren Bergtouren entwickelt Nagl einen Masterplan: Er will von jedem Land dieser Welt den höchsten Berg besteigen. Seine „Mission“, wie er es nennt. In 41 Ländern hat er das schon geschafft.
Bei einer Tour in den Anden werden seine drei Kameraden durch einen herabstürzenden Eisblock getötet. Ein schockierendes Erlebnis, aber keines, das ihn vom Klettern abhält. Nach drei Jahren auf Achse ist Nagl müde. Er will Urlaub vom Reisen und bewirbt sich deshalb auf Jobs. Er findet schließlich zu Google als Online-Marketing-Specialist. In der Firma lernt Nagl andere Kletter-Freaks kennen. Vom Street-View-Team bekommen die Kollegen Equipment geliehen für einige der höchsten Berge dieser Welt. Und irgendwann entsteht die Idee, den Everest zu bezwingen. Der Plan scheitert am 18. April 2014, als sich eine Lawine löst und 16 Nepalesen tötet. Nagls Expedition ist nichts passiert. Der Entschluss aber steht fest: Sie wollen wiederkommen.
Der Everest
„Wir mussten unsere Arbeitgeber wieder überzeugen, uns so lange freizustellen. Diesmal umso mehr, weil jeder wusste, es gibt wirklich ein Risiko. Es kann sich keiner vorstellen, wie viel Vorbereitung da drin steckt. Wie viel Disziplin, wie viel hartes Training. Die Ausrüstung, die Planung. Und wenn du vor Ort bist, musst du gesund bleiben. Du läufst da zwölf Tage hin. Das Klima, das Essen, die Temperaturen. Wenn du eine Erkältung bekommst, ist es vorbei. Wenn du einmal im Basecamp bist, ist die Luft so dünn, da kannst du das nicht mehr auskurieren. Soviel Druck und Stress, der sich über ein Jahr da aufbaut. Ich habe Jahre darauf gespart, auch für die Ausrüstung, die du dir kaufen musst. Das zehrt alles an einem.“
„Dieser Berg ist kein Projekt, das man im Sommerurlaub macht. Das reift in dir. Und du kannst der fitteste Mensch sein, wenn du nicht hundertprozentig willst, dann schaffst du das nicht. Du musst das so wollen, wie nichts anderes. Jedes Mal, wenn ich auf einem Berg stand, dachte ich, ich könnte noch ein bisschen weiterlaufen. Ich will aber an den Punkt, wo es kein ‘weiter’ gibt, an den höchsten Punkt dieser Welt. Ich musste noch nie umdrehen, weil ich nicht mehr konnte, sondern es waren immer die äußeren Bedingungen. Ich wollte sehen, ob der Everest mich ans Limit bringt.“
Das Risiko
„Wenn man am Berg ist, ist vieles einfach Schicksal. Ich glaube daran. Wenn es soweit ist, ist es soweit. So ein Eisblock hängt da oben tausende Jahre. Und in einem Moment fällt er ab. Und wenn du zur falschen Sekunde am falschen Ort bist. Dann war’s das. Schicksal. Wäre die Lawine letztes Jahr eine halbe Stunde früher runtergekommen, hätte es keinen interessiert. Oder eine halbe Stunde später. Bevor ich hier los bin, hat jeder gesagt: ‘So was passiert nicht ein zweites Mal.’ Das es viel schlimmer wird, hätte ich nicht erwartet.“
Das Krachen
„Am 25. hat es mittags ein bisschen geschneit. Schlechte Sicht, nichts Ungewöhnliches. Wir saßen unten an unseren Zelten und haben gepackt. Mein ganzes Zeug lag im Zelt um mich herum, in kleine Haufen aufgeteilt. Und auf einmal, sackt der ganze Gletscher einen halben Meter nach unten, schaukelt nach links, nach rechts. Ich bin im Zelt herumgeflogen.“
„Dann bin ich wie vom Blitz gestochen raus, vorn ans Zelt, bin in die Stiefel rein geschlüpft – und stand vorm Zelt. Alle anderen sind auch raus gerannt. Und in dem Moment höre ich es krachen. Das hast du im ganzen Körper gespürt. Und du wusstest nicht, was es ist oder woher es kommt. Du bist in so einem Kessel und das reflektiert um dich herum. Alle gucken auf den Eisfall, weil da die meisten Lawinen abgehen. Aber da war nichts. Ich rede jetzt hier von einer Sekunde oder zwei. Wir wussten: Irgendwas passiert jetzt. Irgendetwas Großes passiert jetzt.“
Die Flucht
„Aus Instinkt habe ich mich umgedreht, bin ins Zelt gesprungen und habe nach Daunenjacke und Handy gegriffen. Das lag auf der Matratze. Als ich wieder aus dem Zelt kam, habe ich es vor mir gesehen. Der ganze Berg, dieser ganze scheiß Berg ist vor mir zusammengebrochen. Die Wolken hingen tief, unter ihnen baute sich eine Wand auf. Wie beschreibt man das? Man kennt aus dem Fernsehen diese Hiroshima-Bombe. Stell dir vor, du stehst da unten auf dem Boden und das Teil kommt auf dich zu.“
„Ohne eine Sekunde zu überlegen, hab ich mich umgedreht und bin gerannt. Um mein Leben. So schnell es ging. Der Gletscher ist wellenförmig aufgebaut. Hinter meinem Zelt ging es ein Stück nach unten. Ich bin mit einem Riesensatz in das Geröll rein gesprungen und bis ganz nach unten gerutscht. Dort habe ich mich dann ganz klein gemacht. In dem Moment feuerte mir das ganze Camp um die Ohren: Zelte, Eisäxte, Helme, Schuhe, Gastanks, Essensbehälter.“
„Ich habe Schnee eingeatmet. Das hat vielleicht eine Minute gedauert, hat sich aber angefühlt wie eine halbe Stunde. Ich habe mich so weit es nur ging an den Felsen gedrückt. Ich wollte eins sein mit dem Felsen, wollte keine Angriffsfläche bieten. Niemand hat es für möglich gehalten, dass eine Lawine das Basecamp erreicht. Ich dachte, das wäre die Schneewolke, die bei einer Lawine alles einstaubt. Mir war nicht bewusst, dass mir gerade Felsbrocken, so groß wie Kühlschränke, um die Ohren fliegen.“
Das Ausmaß
„Im Basecamp waren etwa 1.000 Leute. Es ist über einen Kilometer lang, und man braucht eine Stunde um durch zu laufen. Der mittlere Kilometer war weg, einfach ausradiert. Der ganze mittlere Kilometer. Und wir waren genau mittendrin, im Zentrum. Uns hat es am härtesten erwischt - und die drei, vier Camps um uns. Da war nichts mehr da. Im Zelt links neben mir war Dan, zwei daneben war Michele. Und der hat mir später für sein Leben gedankt. Er war draußen, hat die Lawine gesehen und wusste nicht, was er machen soll. Aber er hat mich gesehen, wie ich wegrenne. Er hat sich gedacht: ‘Wenn Flo davon rennt, renn’ ich auch.’ Er saß dann hinter mir in dieser Mulde. Das habe ich erst gemerkt, als alles vorbei war. Er sagte ‘Flo, stay warm!’. Ich hatte die Daunenjacke noch in der Hand, und das Telefon. Ich war in meiner langen Unterwäsche. Auf fünfeinhalb tausend Metern Höhe war das alles, was mir geblieben war.“
„Dann sind wir den Hügel nach oben, beide zusammen. Wir standen oben – und es war nichts mehr da. Ich habe gesehen, wie die ersten Leute zombiehaft aufgestanden sind. Die Leute haben geschrien. Hilfeschreie. Wir haben nach Dan gesucht. ‘Dan, Dan’ haben wir geschrien.”
Der Freund
„Ich habe nicht realisiert, dass die Zelte weg sind. Ich habe es gesehen, aber mir war es nicht so bewusst. Erst in den Minuten danach ist mir klar geworden: Das war ein Erdbeben, das eine Lawine ausgelöst hat. Und nicht andersherum.“
„Michele und ich haben geschrien. Dan war neben uns im Zelt gewesen – und war jetzt nicht mehr da. Das war einer der schlimmsten Momente in meinem Leben. Ich habe Paul gefunden, einen aus unserer Expedition, ein Ire, der hatte das Becken gebrochen und den Arm, eine Wunde im Bauch. Er hat sehr viel Blut verloren. Unser Guide hatte schon erste Hilfe geleistet. Wir haben dann weiter gesucht. Vielleicht fünf Minuten nach der Lawine schreit Michele etwas entfernt um Hilfe. Etwa 150 Meter unterhalb vom Camp, in Richtung Eisfall, liegt ein riesiger Felsbrocken. So groß wie ein Wohnwagen. Direkt davor: ein Knäuel von Farbe. Zeltfetzen, Matratze. Ich rannte so schnell ich kann hin, bin auf die Knie gefallen und sah Dan in diesem Knäuel liegen. Tot. Ich vermute, er hat es nicht aus dem Zelt geschafft. Jeder, der in seinem Zelt war, hat es nicht überlebt. Die Druckwelle hat sein Zelt gepackt, 150 Meter weit. Unsere Zelte waren an Steinen befestigt, die so groß waren, wie Medizinbälle. Die sind mit geflogen. Die Schnüre und Steine waren noch dran, an den Zeltfetzen. Ihn hat es gegen den Felsen geschmettert. Dann ist er seinen Kopfverletzungen erlegen.“
„Er war ein Kollege von mir, aber vor allem ein verdammt guter Freund. Er war auf vielen Expeditionen dabei. Wir waren zusammen in Russland, in Papua, am Everest. Wir waren das beste Team. Wir drei: Dan, Michele und ich. Freundschaft für die Ewigkeit.“
„Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet. Wir waren nicht im Eisfall oder am Gipfeltag, wo du mental fokussiert bist. Wir waren im Zelt. In einer halben Stunde hätte es Mittagessen gegeben. Wir waren relaxed, haben gepackt und dann… Wumm – aus dem nichts bricht die ganze Welt zusammen. Du bist im Schock, leer, hast keine Gefühle. Stehst einfach nur da. Die ersten Tränen kamen drei Tage später, als alles vorbei war.“
Die nächsten Stunden
„Gott hat dir Adrenalin gegeben, um zu überleben. Das pumpt dich. Wir standen da und wussten nicht, ob da noch was kommt. Wir sind zurück gerannt und haben eingesammelt, was noch da war. Überall waren Verletzte. Wir haben sie versorgt und versucht, Jacken zu finden, um die Leute warm zu halten. Ich hatte nur ein paar Schrammen vom Geröll. Sonst nichts. Michele und mir war nichts passiert. Wir haben uns angeschaut und wussten, was wir für ein Scheißglück hatten.“
„Die zwei größten Camps direkt unten am Gletscher – denen ist nichts passiert. Und die hatten die meisten Leute am Berg oben, auf Camp 1 oder 2. Die hatten einen Haufen Ressourcen. Die kamen sofort und haben geholfen. Sie haben Leitern gebracht, Tragen gebaut. Sie haben alle Verletzten eingesammelt. Die meisten Camps wurden umgewandelt in notdürftige Krankenhäuser. Zum Glück war es hell. Es gab Licht und man konnte helfen. Und zum Glück waren viele Leute am Berg an diesem Tag und nicht bei ihren Zelten. Da wurden Camps ausradiert, in denen nur drei Leute waren. Nachts hätte es hunderte Tote gegeben. So schnell kommst du gar nicht raus aus dem Zelt. Wir hätten keine Chance gehabt.“
Odyssee der Rückreise
„Am dritten Tag nach dem Erdbeben bin ich vom Helikopter evakuiert worden. Wir wussten noch nicht, wie das Tal aussieht. Wir hatten Gerüchte gehört, dass viele Dörfer kollabiert waren. Als es die Chance gab, sind wir geflogen. Nach Lukla. Da hat sich alles gestaut. Das Wetter war schlecht und die Maschinen dort fliegen nur auf Sicht. Die fliegen dann nur zwei, drei Mal am Tag. Hunderte wollten da weg. Keiner hat mehr durchgeblickt - Schwarzmarktpreise und Korruption. Wir dachten uns, wir kommen eh nicht aus Kathmandu raus, der Flughafen dort wird geschlossen sein, da ist viel mehr Chaos – und bevor wir in Kathmandu eine Last sind, bleiben wir hier. Wir haben uns hinten angestellt und irgendwann war dann das Wetter konstant so gut, dass alle Leute ausgeflogen werden konnten.“
„In Kathmandu hat es vier Tage gedauert, bis ich einen internationalen Flug bekommen habe. Wir haben uns gedacht: Was machen wir hier noch so lange? Wir wollten helfen, wo es geht. Wir haben uns einen Lastwagen gemietet, haben den vollgemacht mit paar Tausend Flaschen voller Trinkwasser und haben die im Krankenhaus verteilt. Vom letzten Jahr hatten wir noch Kontakte zu einem Waisenhaus. Das wurde ziemlich zerrüttet. Da sind wir noch vorbei gefahren und haben Kleinigkeiten verteilt: Kekse, Säfte, Zahnbürsten, Zelte, Bälle.“
Zukunft
„Ich war die letzten zehn Tage zu beschäftigt, um darüber nachzudenken. Ich werde jetzt erst Mal kürzere Trips machen. Aber irgendwann kommt bestimmt wieder das Verlangen. Ganz aufhören würde ich aber nicht. Du kannst auch am Strand liegen in Thailand, und da kommt ein Tsunami aus dem Nichts. Ich bin dem Berg nicht böse.“
Die Kur
„Ich mache jetzt etwas, das nenne ich ‘Weißwurst-Kur’. Erstmal gar nichts machen, Wetter genießen. Ich habe ein bisschen Schiss vor der Ruhe. Ich habe mich mit Absicht beschäftigt und abgelenkt in den letzten Tagen. Mein Kopf rast nur, wenn ich abends im Bett liege. Ich hab Schiss vor dem Moment, wenn ich alles fallen lasse, dass es dann kommt, dass es mich dann einholt.“
Meine erste Mail an Florian Nagl schrieb ich zwei Tage und ein Jahr vor dem Erdbeben vom 25. April in Nepal. Ich hatte bei einer Recherche einen Mann getroffen, der mir von ihm erzählte. Dass er 360-Grad-Bilder für Google auf den höchsten Bergen dieser Welt machen würde. Ich wollte ihn für ein Interview treffen. Aber auf eine Antwort habe ich fast ein halbes Jahr gewartet.
Seitdem standen wir lose in Kontakt, haben es allerdings nie geschafft uns zu treffen.
Genau eine Woche nach dem Erdbeben bekam ich eine Mail von ihm, wieder aus dem Nichts. Er sei in Kathmandu und habe das Erdbeben im Everest Base Camp überlebt. Er will mir davon erzählen.
Im Gespräch wirkt er merkwürdig gefasst. An manchen Stellen zittert seine Stimme. Ich lasse ihn hier zu Wort kommen, weil ich es wichtig finde, weil ich es unglaublich finde, was da passiert ist – und diese Geschichte die Auswirkungen des Erdbebens aus einer sehr speziellen Richtung zeigt.
Nepal ist heute erneut von einem schweren Erdbeben erschüttert worden, dem zweiten in zweieinhalb Wochen. Wieder ist neben der Hauptstadt Kathmandu auch das Gebiet um den Mount Everest betroffen. Das Beben erreichte nach offiziellen Angaben eine Stärke von 7,3. Bei einem Beben der Stärke 7,8 waren am 25. April mehr als 8.150 Menschen getötet worden.
Illustration: Veronika Neubauer