Kein historisches Datum hat in diesem Jahr ukrainische und russische Politiker mehr beschäftigt als der soeben vergangene Gedenktag zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Westliche Beobachter haben ihr Augenmerk fast ausschließlich auf den 9. Mai in Moskau gerichtet: die gigantische Militärparade auf dem Roten Platz, Putins Einladung an Regierungschefs aus aller Welt, das Fernbleiben fast aller westlicher Politiker. Das Gedenken in Kiew und anderswo in der Ukraine hat hierzulande fast niemand beachtet.
Doch stehen die Feierlichkeiten in Moskau und Kiew, Russland und der Ukraine in direktem Bezug zueinander. So beschloss die ukrainische Regierung mit Verweis auf Moskau, in Kiew keine Militärparade abzuhalten, um sich friedfertig und “europäisch” zu zeigen. Umgekehrt veranstaltete die russische Regierung die Militärparade mit so viel Pomp, um den historischen Revisionisten in Osteuropa, maßgeblich in Kiew, aufzuzeigen, wie der Tag des Sieges “richtig” zu würdigen sei. Diese erweiterte Perspektive enthüllt nicht nur wichtige Dynamiken des Konflikts in Osteuropa, sie zeigt auch auf, wie sehr geschichtspolitische Bestrebungen in den verschiedenen Hauptstädten diesen Konflikt weiter speisen.
Das Gedenken am 9. Mai 2014 war von schweren Unruhen überschattet gewesen: dem blutigen Zusammenstoß von ukrainischen Nationalisten und prorussischen Ukrainern am 2. Mai in Odessa, der Dutzende von Menschenleben kostete, und weitere blutige Zusammenstöße am 9. Mai in Mariupol. Landesweit eskalierte der Konflikt aber erst nach dem Mai. Seit dem Sommer 2014 befindet sich die Ukraine im Kriegszustand. Tausende von Rekruten kämpfen im Osten gegen die Separatisten aus den Gebieten Donezk und Lugansk. Unausgesprochen ist es ein Krieg auch gegen Russland, das die Separatisten unterstützt und offen mit Aggressionen gegen Kiew droht.
Der aktuelle Krieg hat das diesjährige Weltkriegs-Gedenken in der Ukraine stark geprägt und es mit neuer Bedeutung aufgeladen. Die nationalen Farben, im letzten Jahr bereits sehr präsent – sie sind nun allgegenwärtig: auf Fahnen, die von Häusern wehen, auf der Kleidung vieler Menschen (gelbes Hemd und Bluejeans, gelbe Bluse und blauer Minirock), auf Schleifen und Haarbändern. Selbst Zäune und Bordsteinkanten erstrahlen im ukrainischen Blau-Gelb. Den kämpferischen Gehalt dieser Farbgebung unterstreichen zahlreiche Plakate zum Gedenktag, die auf den Straßen in Kiew und Odessa zu sehen sind. Sie verkünden eine knappe aber einprägsame Botschaft: “1939-1945. Wir gedenken. Wir werden siegen”. Die Erinnerung an den vergangenen Krieg dient als Ansporn für den Sieg im gegenwärtigen Krieg.
Die Jahreszahlen auf dem Plakat verdeutlichen zugleich, um welchen Krieg es geht. Es ist nicht mehr der “Große Vaterländische Krieg” von 1941-1945, wie er in der Sowjetunion hieß und in Russland bis heute heißt, sondern der Zweite Weltkrieg insgesamt. Der Krieg, der mit dem Hitler-Stalin-Pakt begann und große Gebiete aus dem von den Diktatoren geteilten Polen der sowjetischen Ukraine zuschlug. Ein Krieg mit vielen Fronten, in dessen Verlauf unterschiedliche Ukrainer auf deutscher und auf sowjetischer Seite kämpften. Ein Krieg, der ungleich mehr ukrainische Opfer forderte als es sowjetische Lehrbücher darstellen, die alle ukrainischen Nationalisten dem “faschistischen” Feindlager zurechnen.
Um dieses neue Verständnis des Krieges zu vermitteln, hat die ukrainische Regierung in diesem Jahr mit dem 8. Mai einen zweiten Feiertag neben den 9. Mai, den traditionellen “Tag des Sieges” (und Kulmination des Großen Vaterländischen Kriegs), gestellt. Ganz Europa begehe das Ende des Zweiten Weltkriegs an diesem Tag, heißt es in der Begründung, deshalb solle es die Ukraine ebenfalls tun. Auch sei es nicht mehr zeitgemäß, das Kriegsende allein als einen Sieg zu feiern, wie Moskau es täte. So erklärte die ukrainische Regierung den 8. Mai zu einem “Tag der Erinnerung und der Versöhnung”.
Tatsächlich aber standen die offiziellen Feiern zum 8. und 9. Mai in Kiew ganz im Zeichen des gegenwärtigen Kriegs. Am Abend des 8. lud die Regierung die Bevölkerung zu der аus Sowjetzeiten stammenden Kriegsgedenkstätte am Berghang über dem Dnjepr. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand dabei weniger Präsident Petro Poroschenko, der eine kämpferische Ansprache hielt, sondern vielmehr seine Ehrengäste, die unter dem Applaus der Zuschauer auf einer Tribüne Platz nahmen. Den Anfang machten gebrechliche Veteranen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die zum ersten Mal Gäste einer staatlichen Gedenkanverstaltung waren.
Ihnen folgten gebrechliche Veteranen der Roten Armee. Die Ränge hinter den uniformierten alten Herren, die wohlgemerkt in getrennten Blöcken saßen, belegte eine Hundertschaft von jungen Soldaten, die für diesen Tag von ihrem Fronteinsatz im Osten abberufen worden waren. So sollte die Zusammensetzung der Ehrengäste den gemeinsamen Kampf von Großvätern und Enkeln für die Unabhängigkeit der Ukraine ausdrücken.
Die Ehrengäste ausdrücklich würdigend, widmete Poroschenko seine Rede den “Millionen von Landsleuten”, die im vergangenen wie im gegenwärtigen Krieg für die Ukraine gefallen seien.
Neben den Ukrainern erwähnte er pointiert eine weitere Volksgruppe, die im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte: die 1944 von Stalin verschleppten Krimtataren. Es war ein Hinweis darauf, was den Krimtataren heute nach der russischen Annexion der Halbinsel blühen könnte. Über das Schicksal der ukrainischen Juden, geschweige denn die Beteiligung von Ukrainern an deren Ermordung während des Zweiten Weltkriegs, verlor der Präsident kein Wort. Mit einem mehrfach skandierten “Ruhm der Ukraine!“ beschloss er seine Rede.
Um 23:01 Uhr Ortszeit gedachte die versammelte Menge der “ersten Minute des Friedens in Europa”. Ein Chor sang Beethovens Ode an die Freude, die Hymne der Europäischen Union; unter der riesigen “Mutter Heimat”-Statue mit ihrem ausgestrecktem Schwert wehten die Flaggen der Ukraine und der EU. Zum Abschluss des Abends sang die frierende Menschenmenge mehrere Strophen der ukrainischen Nationalhymne.
Am Morgen des 9. Mai leistete am gleichen Ort ein Trupp von jungen ukrainischen Männern vor dem Präsidenten ihren Militäreid ab. Poroschenko schwor sie auf den Befreiungskampf der ukrainischen Nation ein und verkündete zugleich, dass es auf ukrainischem Boden nie mehr einen 9. Mai in der Form geben würde, wie er in Russland praktiziert werde.
Im vergangenen Jahr wirkte die symbolische Sprache des Gedenkens an den vergangenen Krieg improvisiert; in diesem Jahr war sie durchkomponiert. Erst im April 2014 hatte eine Initiative begonnen, die rote Mohnblüte als einheitliches ukrainisches Gedenksymbol einzuführen. Es ging darum, ein Gegensymbol zum schwarz-orangen Georgsband herzustellen, das seinen Ursprung in Russland hatte und bis dahin auch in der Ukraine jedes Jahr am 9. Mai zum Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg getragen wurde. Das Georgsband mutierte im Zuge des ukrainisch-russischen Konflikts zusehends zu einem Bekenntnis für den politischen Kurs Russlands. In den Augen von russlandkritischen Ukrainern war es damit als Gedenksymbol diskreditiert.
Die ukrainische Mohnblüte nimmt ein Motiv auf, das schon seit vielen Jahren in Großbritannien zum Gedenken an die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs dient. Insofern unterstreicht sie einmal mehr das Bestreben der ukrainischen Führung nach einer Europäisierung des Gedenkens. Einige Kritiker haben freilich auch bemerkt, dass das Symbol primär auf die rot-schwarze Fahne der umstrittenen ukrainischen nationalistischen Bewegung verweist.
Im vergangenen Jahr war der Rote Mohn auf ukrainischen Straßen und Plätzen kaum zu sehen. Weithin sichtbar hingegen war das Georgsband, besonders in den russisch geprägten Städten Odessa und Charkiw, ganz zu schweigen von Donezk. An diesem 9. Mai 2015 hingegen waren einige ukrainische Städte mit roten Mohnblüten regelrecht zugedeckt. Junge Leute, Schüler oder Studenten, die T-Shirts mit dem Motiv trugen, verteilten Anstecker an die Menschenmenge, die zu den städtischen Gedenkstätten zogen. Auf Nachfrage sagte einer von ihnen, dass das Geld für die Aktion aus der Poroschenko-Stiftung stamme.
In Kiew wurde der Klatschmohn von vielen tausend Menschen angenommen.
Selbst der “Mutter-Heimat”-Statue war ein gigantisches Blütenband um den Kopf gewickelt worden. Junge Leute, die wir befragten, fanden das gut: Die neue Symbolik nehme der Statue ihre abstoßende sowjetische Form. Umgekehrt bezeichneten viele ältere Menschen das Blütenband als eine Schändung der “Mutter Heimat”. Viele Menschen trugen die Mohnblüte am Revers zusammen mit einer blau-gelben Schleife. Zu sehen waren auch Veteranen, die sowohl die Blüte und die ukrainischen Farben wie auch das Georgsband an ihre Uniformjacken geheftet hatten. Nur wenige Menschen in Kiew zeigten sich allein mit dem Georgsband.
Zu ihnen gehörten Anhänger des “Unsterblichen Regiments”, einer in Russland gegründeten Bewegung, die sich dem Gedenken an die überwiegend schon verstorbenen sowjetischen Kriegsteilnehmer verpflichtet. Jedes Jahr am 9. Mai marschieren Angehörige mit großformatigen Fotos ihrer Vorfahren durch die Straßen ihrer jeweiligen Stadt.
So vielfältig die Symbole, so unterschiedlich waren auch die ihnen zugeschriebenen Inhalte. Den Klatschmohn deuteten nur wenige der Besucher in der von der Regierung intendierten Form, als ein Bekenntnis zur britisch-europäischen Gedenkkultur. Weit mehr erblickten in ihm eine nationale Pflanze: die blumenreiche Ukraine komme darin zum Ausdruck, ihre Friedfertigkeit. Ein uniformierter junger Soldat, der mit Mühe ging, sah im schwarzen Blütenkern das Einschussloch einer Gewehrkugel und in den roten Blättern das von ihr vergossene Blut. Er kritisierte seine Regierung auf das heftigste und verurteilte das sinnlose Sterben im gegenwärtigen Krieg ebenso wie den sinnlosen Massentod im Zweiten Weltkrieg.
Nach dem Georgsband befragt, sagten viele, dass sie es seit der russischen Annexion der Krim als ein Symbol russischer Aggression ablehnten. Andere bekannten, dass sie das Band weiterhin nur mit dem Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg assoziierten und es auch weiterhin tragen würden, wenn es nicht so viele Missverständnisse und Ablehnung in der Öffentlichkeit erregen würde.
In Odessa sprachen wir mit einer Mutter und ihrem Sohn, die beide die Mohnblüte an ihre Kleidung geheftet hatten. Sie waren, wie sich herausstellte, Flüchtlinge aus Donezk. Eine Bewohnerin von Odessa, die das Georgsband trug, mischte sich in das Gespräch ein. Warum sie sich den Mohn angeheftet hätten, fragte sie die Flüchtlinge spitz. Damit sähen sie aus wie Drogensüchtige. „Wegen Ihres Georgsbands haben wir unser Heim in Donezk verloren“, antwortete die Mutter.
Wenn in der Menge Streit aufbrach, waren in Kiew und Odessa Milizionäre schnell zur Stelle, die die Konfliktparteien zur Besonnenheit ermahnten. Ihre Mahnungen galten besonders jenen, die sich zum Georgsband bekannten. Sie wurden daran erinnert, niemanden verbal zu provozieren.
Die wenigen noch lebenden Veteranen des Kriegs, die zum 9. Mai auf den Straßen erschienen (es waren ausschließlich Veteranen der Roten Armee), wurden mit großer Verehrung begrüßt. Menschen standen Schlange, um Blumen zu überreichen und sich gemeinsam ablichten zu lassen.
Der 93-jährige Veteran in Kiew, mit dem wir sprachen, bezeichnete den 9. Mai als leuchtenden Tag des Sieges über den Faschismus. Er verwahrte sich gegen das Bemühen seiner Regierung, sowjetische Veteranen und ehemalige Kämpfer der UPA zusammenzuführen. Einem deutschen Soldaten würde er die Hand reichen, schließlich sei das der militärische Gegner gewesen. Die UPA-Männer hingegen seien Heckenschützen und Verräter. Der Veteran war in Begleitung seiner Enkelin und deren zehnjährigem Sohn. Für die Enkelin drückte der 9. Mai den Kampf um die ukrainische Unabhängigkeit gegen jede Form von totalitärer Herrschaft aus. Genau so wurde der Veteran auch von den meisten jungen Menschen begrüßt. Sie dankten ihm nicht für den Sieg über den Faschismus, sondern für den Einsatz für “ihr Land” – für die Unabhängigkeit der Ukraine.
In Kiew und Odessa zogen hunderttausende Menschen zu den Kriegs-Denkmälern, um der Toten des Zweiten Weltkriegs zu gedenken. Das unerwartet sonnige und warme Wetter verstärkte den Zulauf womöglich. Die Stimmung war gelöst – ganz anders als im vergangenen Jahr, als der Schock des Blutbads vom 2. Mai viele Odessiten und Kiewer am 9. Mai zu Hause hielt. Für den Nachmittag hatte die Stadt kostenlose Suppenküchen und Konzerte in den Parks organisiert. Der Andrang war riesig.
Ganz anders verlief der Feiertag weiter im Osten des Landes. Die südöstliche Industriestadt Mariupol liegt nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu dem von den Separatisten kontrollierten Gebiet. Am 9. Mai herrschte in der Stadt eine drückende Stille. Auf den öffentlichen Gedenkveranstaltungen fanden sich mehr Politiker und beteiligte Akteure als Zuschauer ein. Die Akteure – das waren ukrainische Soldaten, die in Uniformen der Roten Armee aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gekleidet waren und damit zum Ausdruck geben sollten, dass sie wie ihre Vorväter zu kämpfen bereit waren – gegen die (pro-sowjetischen) Separatisten.
Danach befragt, warum sie den 9. Mai nicht feierten, gaben sich Bewohner von Mariupol fatalistisch und kriegsmüde.
Die separatistische Hochburg Donezk war die einzige Stadt in der Ukraine, die zum 9. Mai die traditionelle Militärparade abhielt. Um kurz nach zehn Uhr morgens ertönten zwei Artilleriestöße. Die im Stadtzentrum versammelten Menschen reagierten nervös, doch wich niemand vom Platz. Später stellte sich heraus, dass diese Salven den Anfang der Parade markierten. Es war nicht eine zum Feiertag befürchtete Provokation der ukrainischen Armee.
Unter strömendem Regen zogen Infanteristen durch die Straßen, gefolgt von rumpelnden Panzern, unter begeistertem Jubel der Bevölkerung. In ganz Donezk war nicht eine einzige Mohnblüte zu sehen, das Georgsband dagegen flatterte überall, häufig zusammen mit roten Fahnen oder der russischen Trikolore.
Einwohner der Stadt drängten sich darum, zusammen mit Soldaten der Donezker Volksrepublik fotografiert zu werden.
Das mit frischen Blumen überschüttete Denkmal für die “Opfer des Faschismus” im Stadtzentrum zog im Verlauf des Tages viele Besucher an. Viele, mit denen wir sprachen, bekundeten ihre Trauer über die im Großen Vaterländischen Krieg verlorenen Familienmitglieder. Einige sprachen im gleichen Atemzug von den Opfern des jetzigen Kriegs – Opfern der “faschistischen” Regierung in Kiew. So bot Donezk ein Spiegelbild zu Kiew: Hier wie da wurden die Toten des heutigen Kriegs unter die Toten des vergangenen Kriegs subsumiert, hier wie da wob sich ein geradliniger Faden vom Großen Vaterländischen Krieg beziehungsweise dem Zweiten Weltkrieg zum heutigen Konflikt. Dass die Regierung in Kiew den 8. Mai als neuen Gedenktag eingeführt hat, kommentierten einige Donezker mit bitteren Worten als Versuch, ihnen den Tag des Sieges zu nehmen.
Der diesjährige 9. Mai bietet ein gemischtes Bild. Es beeindruckt, wie gelassen Menschen in weiten Teilen der Ukraine die ihnen verordnete Sicht der Dinge aufnehmen, wie Streit über geschichtliche Symbole friedlich endet und die Vernunft an vielen Orten immer noch über den Hass siegt. Wer den Blick weitet, erkennt ähnliche Anzeichen in Moskau und anderswo in Russland. Die Aktion des „Unsterblichen Regiments“ besteht seit 2012. In diesem Jahr feierte sie ihren bislang größten Erfolg. Am 9. Mai zogen Hunderttausende von Moskauern mit den Bildern ihrer verstorbenen Väter und Mütter, Großvätern und Großmütter durch die Innenstadt. Die Menschenmenge überstieg um ein Vielfaches das Aufgebot der von der Regierung veranstalteten Militärparade auf dem Roten Platz, und sie überraschte in ihrem Ausmaß alle Beteiligten. Ähnliches spielte sich in anderen russischen Städten ab.
Das „Unsterbliche Regiment“ ist eine grenzüberschreitende Initiative, die überall in der Welt Menschen aus der früheren Sowjetunion erreichen und in der Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg verbinden möchte.
Viele Ukrainer unterstellen der Initiative russisch-imperiale Ambitionen. Doch mag die Aktion mit ihrem Akzent auf Familienarchive und die Lebensgeschichten einzelner Menschen auch zur Ausbreitung einer individualisierten und pluralen Erinnerungskultur in Osteuropa beitragen. Zuletzt zeigt sie auch auf, wie Erinnerung weitergetragen wird, wenn die Generation der Weltkriegsüberlebenden von der Bühne tritt.
Auf die geschichtspädagogische Frage, wer dann die Lehre des Holocaust tradieren oder die Erfahrung des Kampfes gegen den Faschismus weiter geben kann, gibt diese Graswurzelinitiative eine bedenkenswerte Antwort.
Andererseits ist ebenso deutlich, dass die Erinnerung an den Weltkrieg in der Ukraine ebenso wie in Russland beispiellos politisiert wird. Viele der beteiligten Machthaber, ob in Kiew, Donezk oder Moskau, nutzen das Gedenken an die Opfer vergangener Gewalt als eine Waffe zur Rechtfertigung von mehr Gewalt. Bekenntnisse zur eigenen Friedfertigkeit klingen vor diesem Hintergrund hohl. Solange Nachbarn sich zu historischen Feinden erklären und tiefe Erklärungen für gegenwärtige Konflikte suchen, so lange - und noch viel länger - wird der Krieg nicht aus der Region weichen. Es ist ebenso paradox wie traurig, dass das Gedenken an den 8. oder 9. Mai 1945, die ersten Friedenstage nach dem größten Krieg der Weltgeschichte, so viel neuen Sprengstoff in sich birgt.
Mitarbeit: Tatjana Pastuschenko und Viktoria Naumenko (Kiew), Dmitri Titarenko (Donezk), Dmitri Durnew (Mariupol), Jelena Petrova und Jelena Tscheban (Odessa).
Jochen Hellbeck lehrt russische und europäische Geschichte an der Rutgers University (USA). Er erforscht zusammen mit einem Team von Forschern aus Russland, der Ukraine und Weißrussland die sowjetische Erfahrung der NS-deutschen Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion. Die an diesem Projekt beteiligten Historiker aus der Ukraine arbeiten seit 2014 zusammen mit Hellbeck an einem zweiten Projekt: der Dokumentierung des Kriegsgedenkens in der heutigen Ukraine.
Das Team Ukraine ist Teil eines seit 2013 laufenden internationalen Projekts zur Erforschung des “Tags des Sieges” im postsowjetischen und postsozialistischen Raum (Leitung: Mischa Gabowitsch, Cordula Gdaniec und Ekaterina Makhotina, unterstützt von der Stiftung Aufarbeitung und der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien München-Regensburg). Teile dieses Projekts sind zur Zeit in einer Ausstellung des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst zu sehen. Letztes Jahr hielt sich das Team Ukraine in Kiew, Lemberg, Odessa, Charkiw und Donezk auf.
Letzte Veröffentlichung von Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. S. Fischer 2013. Hellbeck unterhält auch eine Website mit Porträts und Stimmen von deutschen und sowjetischen Veteranen der Schlacht von Stalingrad: facingstalingrad.com. In der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Hellbeck einen Aufsatz zum 9. Mai in Russland veröffentlicht.
Aufmacherfoto: Boris Bukhman
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