Sieger, Opfer, Täter? Die Ukrainer sind sich nicht mehr sicher
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Sieger, Opfer, Täter? Die Ukrainer sind sich nicht mehr sicher

Ende der Geschichte? Von wegen! Nach dem Ende der Sowjetunion ist der Kampf um die Deutung der eigenen Nationalgeschichten aufgebrochen. Die Frontlinie verläuft zwischen den vom Kommunismus befreiten Ländern in Mittel- und Osteuropa auf der einen Seite und Russland auf der anderen.

Profilbild von Moritz Gathmann

Wer im Dezember 2013 über den Kiewer Maidan wandelte, der spürte, wie sehr die sieben Jahrzehnte entfernte Geschichte ins Heute hineinragt. Porträts der ukrainischen Nationalistenführer aus der Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges hingen dort an prominenter Stelle. Neben ukrainischen und europäischen Flaggen waren mit jeder Woche mehr und mehr schwarz-rote Flaggen der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ aus der Vorkriegszeit zu sehen. Und von der Bühne schallten die Losungen, ebenfalls aus der Vorkriegszeit, wie „Ruhm der Ukraine – den Helden Ruhm“ oder „Ruhm der Nation – Tod den Feinden“.

Diese Slogans hatten zuvor nur Platz in den Fußballstadien des Landes, nun wurden sie salonfähig. „Ruhm der Ukraine“ ist durch den Maidan quasi zum offiziellen patriotischen Gruß des Landes geworden. Aber auch Slogans wie „Ukraine – über alles“ gehören nun zum Standardrepertoire.

Keine Frage: Russland hat in seiner anti-ukrainischen Propaganda die Geschichte von Anfang an instrumentalisiert. Die Maidan-Protestler wurden als „Faschisten“, als Nachfolger jener die Nazis unterstützenden Kollaborateure gezeigt, die nun aus den Gräbern auferstanden seien, um den einst verlorenen Kampf wieder aufzunehmen. Kein Wunder, dass vor den Gebietsverwaltungen des Donbass nach deren Besetzungen Lieder aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“ aus den Boxen schallten – und die Separatisten als Erkennungszeichen das schwarz-orange Sankt-Georgs-Bändchen wählten, ein Symbol, das seit einem Jahrzehnt in Russland zum Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg getragen wird.

Für manchen Beteiligten ist der Krieg im Osten der Ukraine tatsächlich eine Fortsetzung jenes Krieges, der 1945 beziehungsweise mit der Zerschlagung des anti-sowjetischen Widerstandes in der Westukraine Anfang der 50er Jahre unterbrochen wurde.

Russische Erinnerungskultur blendet den Hitler-Stalin-Pakt aus

Für Westeuropäer war die Interpretation des Zweiten Weltkrieges, auch die Frage, ob man ihn am 8. oder am 9. Mai feiert, bis zuletzt nicht sonderlich kontrovers. Für die Osteuropäer ist sie entscheidend für die eigene Identität. Die Russen haben dabei eine klare Position: Im Großen Vaterländischen Krieg siegte die Sowjetunion mit Unterstützung westlicher Alliierter in einem opferreichen Kampf gegen den Hitlerfaschismus und seine Unterstützer. Der Große Vaterländische Krieg begann mit dem Überfall Deutschlands am 22. Juni 1941, das heißt, dass Russland den Hitler-Stalin-Pakt beziehungsweise die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte Aufteilung Osteuropas in seinem Gedenken komplett ausblendet. Eine Diskussion über dieses Thema, das natürlich mit dem Narrativ von den „Befreiern“ überhaupt nicht kompatibel ist, steht dem Land noch bevor.

Die Ukraine sucht seit dem Ende der Sowjetunion, verstärkt seit der Orangefarbenen Revolution von 2004 und noch intensiver seit 2014 ein neues Geschichtsbild. War das Bild über die letzten zwanzig Jahre von einem Zickzack-Kurs zwischen sowjetischen und „nationalen“ Interpretationen geprägt, versucht die Regierung nun zu einem einheitlichen Bild zu gelangen. Das Bild ist höchst politisiert und lässt nur Raum für Helden und Opfer. In jüngster Zeit überschneiden sich dabei verschiedene Tendenzen: die „Entkommunisierung“ der heutigen Ukraine, die Loslösung von Russland, die Übertragung des westukrainischen Geschichtsbildes auf das gesamte Land und die Konstruktion eines Opfermythos.

Zu welchen Paradoxen das Bemühen in einem Land führt, in dem nach Angaben des Präsidenten neun Millionen Menschen in der Roten Armee kämpften, zeigt ein zum „Tag des Sieges“ vom Parlamentsabgeordneten Dmitry Tymchuk produzierter Clip:

https://www.youtube.com/watch?v=eQk6UupEJuA

Die Uniformjacke mit Orden behängt, betrachtet der ukrainische Opa sich gerade im Spiegel, als das Telefon klingelt. Es ist der Enkel, der ihm zum „Tag des Sieges“ gratuliert. Auch er ist in Uniform, offenbar irgendwo im Osten des Landes. „Danke, dass du dich erinnerst“, antwortet der Großvater. Einen Weltkriegsorden hat der Enkel dem Großvater von der Jacke stibitzt, er trägt ihn jetzt in seiner Uniform „links, unter dem Herzen“, wie er ihm erklärt. „Ruhm der Ukraine“ spricht der Großvater dann mit fester Stimme, und sein Enkel setzt sich den Helm auf und rennt zu seinem Schützenpanzer. „Wir sind stolz, wir erinnern uns, wir werden siegen“, heißt es am Ende. Eingeblendet werden dazu die Jahreszahlen 1939-1945.

Der Clip zeigt scheinbar unüberwindbare Paradoxe.

Denn der Krieg des Enkels wird als Fortsetzung des Kampfes des Großvaters gezeigt. Aber hat dieser nicht mit den Russen gegen die Nazis gekämpft? Und hat er nicht nach der Zerschlagung der Nazis die national-ukrainischen Partisanen rund um Lemberg bekämpft, bis diese aufgeben mussten? Und nun kämpft der Enkel gegen die ehemaligen Waffenbrüder, und der Großvater spricht „Ruhm der Ukraine“, den Slogan der ukrainischen Nationalisten. Aber warum werden dann die Zahlen 1939-45 eingeblendet, wenn der Großvater doch eindeutig im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft hat? Das Paradox will der Film offenbar damit auflösen, dass die Ukrainer seit mindestens 70 Jahren um die eigene Unabhängigkeit kämpfen mussten, in unterschiedlichen Koalitionen und gegen verschiedene Gegner, aber eben immer zum „Ruhm der Ukraine“.

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Ukraine grenzt sich vom russischen Gedenken ab

Mit allen Mitteln versucht sich die Ukraine zum anstehenden 9. Mai vom triumphalen russischen Gedenken an den „Tag des Sieges“ abzugrenzen. Das ist nachvollziehbar, denn das Land befindet sich de facto im Krieg mit dem großen Nachbarn.

Es gibt zum 9. Mai keine Parade, und neben dem „Tag des Sieges“ begeht das Land den 8. Mai seit diesem Jahr als „Tag der Erinnerung und der Versöhnung“ zu Ehren aller Opfer des Zweiten Weltkrieges von 1939-1945.

Statt des schwarz-orangen Sankt-Georgs-Bändchens, das die Separatisten im vergangenen Jahr zu ihrem Erkennungszeichen machten, tragen die Ukrainer seit 2014 eine stilisierte Mohnblüte, dazu den Spruch „Nie wieder“. Damit haben sie die britische Symbolik leicht abgewandelt übernommen – dort werden die Blüten zum „Remembrance Day“ im Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges getragen. Neben den 9. Mai als „Feiertag“ wird also ein „Erinnerungstag“ für die Opfer gestellt.

Für ihr neues Symbol zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg orientiert sich die Ukraine an der britischen „Remembrance Poppy“.

Für ihr neues Symbol zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg orientiert sich die Ukraine an der britischen „Remembrance Poppy“.

„Nationalistische Selbstviktimisierung“ nicht nur in der Ukraine

Die Ukraine ist kein Einzelfall. In allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Paktes setzte spätestens 1991 eine Revision der Nationalgeschichte ein, in deren Mittelpunkt die Umdeutung der Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg stand. Viele der „verspäteten“ Nationalstaaten suchten sich in ihrer Geschichtspolitik zweifelhafte Helden, etwa politische Führer aus der Zwischenkriegszeit oder Figuren, die eng mit den Nazis kollaborierten. In mehreren Fällen diagnostizieren Historiker wie der Münchner Zeithistoriker Jürgen Zarusky dabei eine „nationalistische Selbstviktimisierung“: „Das Opfer ist unschuldig und kann für den Verlauf der Geschichte in keinerlei Weise verantwortlich gemacht werden“, schreibt Zarusky.

Auf diesem Weg scheint sich auch die Ukraine zu befinden, zumindest was die offizielle Geschichtspolitik betrifft.

Im Mittelpunkt von Wiktor Juschtschenkos Präsidentschaft (2005 bis 2010) standen in erster Linie die „nationale Selbstviktimisierung“, die Kanonisierung und eine internationale Kampagne zur Anerkennung des „Holodomor“ als Völkermord. Mit diesem Begriff, der an den „Holocaust“ erinnern soll, bezeichnen ukrainische Historiker eine von der sowjetischen Regierung und insbesondere Stalin in den Jahren 1932 bis 1933 verschuldete Hungerkatastrophe. Aus Kiewer Sicht war der „Holodomor“ eine Strafaktion Moskaus gegen die rebellischen Ukrainer.

Doch die Sichtweise ist wissenschaftlich nicht haltbar. Denn die Hungerkatastrophe spielte sich ebenso in Kasachstan, in Südrussland und im Kaukasus ab, eben überall dort, wo die Sowjetmacht bei der Kollektivierung auf Widerstand der Landbevölkerung getroffen war. Nach aktuellem Forschungsstand kamen dabei in der gesamten Sowjetunion 6 bis 7 Millionen Menschen ums Leben, darunter bis zu 3,5 Millionen Ukrainer. Unter Juschtschenko schließlich wurde ein nationales Denkmal errichtet, der „Holodomor“ spielt in der nationalen Erinnerung seitdem die Rolle eines „Holocaust der Ukrainer“.

„Entkommunisierung“ und die neuen Helden

Gleichzeitig machte sich die Ukraine unter Juschtschenko auf die Suche nach neuen Helden, welche die nach dem Ende der Sowjetunion vakant gewordenen Plätze auf den Sockeln der Lenin-Denkmäler einnehmen sollten. 2010, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, verlieh Juschtschenko dem wichtigsten ukrainischen Nationalistenführer Stepan Bandera den Titel eines „Helden der Ukraine“. Die gleiche Ehre war schon drei Jahre zuvor dem Nationalistenführer Roman Schuchewytsch widerfahren, der als Vizekommandeur der SS-Division Nachtigall weit mehr als Bandera mit den Nazis kollaborierte.

Seit der Orangefarbenen Revolution wurden im Westen des Landes mehrere Dutzend größere und kleinere Denkmäler für Stepan Bandera errichtet. Hier zu sehen die Eröffnung des Denkmals im Zentrum der Stadt Lemberg im Jahr 2007.

Seit der Orangefarbenen Revolution wurden im Westen des Landes mehrere Dutzend größere und kleinere Denkmäler für Stepan Bandera errichtet. Hier zu sehen die Eröffnung des Denkmals im Zentrum der Stadt Lemberg im Jahr 2007. Foto: Wikipedia

Umstrittener Forscher koordiniert das ukrainische Gedenken

Ließ sich bis Ende 2013 mit Ausnahme der Westukraine nur metaphorisch davon sprechen, dass die Sockel der Denkmäler vakant geworden waren, wurde dies nun mit landesweiten „Lenin-Stürzen“ (Leninopad) Wirklichkeit: Angeführt von nationalistischen Aktivisten, will sich das Land nun von der „totalitären Vergangenheit“ befreien – und meint damit in erster Linie die kommunistische Vergangenheit. Das antikommunistische „nation-building“ wird dabei ideologisch untermauert von jungen, westukrainischen Akademikern wie dem 1977 in Lemberg geborenen Historiker-Aktivisten Wolodimir Wjatrowitsch. Der umstrittene Forscher wurde im März 2014, bald nach dem Sieg des Maidans, zum Leiter des „Ukrainischen Instituts des Nationalen Gedenkens“ berufen, ein unter Juschtschenko gegründetes Institut, dessen Aufgabe in der „Konsolidierung der ukrainischen Nation“ besteht.

Unter Wjatrowitsch formulierte das Institut die jüngst vom ukrainischen Parlament im Paket verabschiedeten Gesetze, die den Kommunismus und den Nationalsozialismus als totalitäre Ideologien auf eine Ebene stellen und ihre Propaganda verbieten. Wjatrowitsch begründet die Notwendigkeit einer radikalen „Entkommunisierung“ damit, dass gerade ihr Ausbleiben nach 1991 „zum Teil verantwortlich für das revanchistische neosowjetische Regime Janukowitschs“ gewesen sei. Die totalitäre Vergangenheit stehe der Entwicklung der Ukraine zu einem europäischen, demokratischen Staat im Wege. Für den Niedergang des ukrainischen Staates sind eine Reihe von Faktoren verantwortlich, in erster Linie die Korrumpierung des politischen Personals, ob unter Kutschma, Juschtschenko oder Janukowitsch. Welchen Beitrag die mangelnde „Entkommunisierung“ geleistet haben könnte, ist äußerst fraglich. Schon Juschtschenko hatte sich während seiner Amtszeit mehr und mehr der Geschichtspolitik zugewandt, anstatt das Land zu reformieren.

Gleichzeitig verleiht ein weiteres Gesetz des nun angenommenen „Pakets“ den Mitgliedern der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) den Titel „Kämpfer für die Unabhängigkeit“ und stellt sie damit auf eine Ebene mit den Soldaten der Roten Armee. Schon im vergangenen Herbst wurde der traditionelle „Tag des Vaterlandsverteidigers“ am 23. Februar abgeschafft – ursprünglich Tag der Rotarmisten, in der verbreiteten Alltagstradition eine Art Männertag. An seine Stelle trat der 14. Oktober, bislang ein rein „westukrainischer“ Feiertag, an dem die Nationalisten traditionell die Entstehung der UPA im Jahr 1942 begehen.

Agit-Plakate auf dem Maidan. Rechts ein Kämpfer der UPA mit dem Slogan "Gerojam Slawa" - den Helden Ruhm. Darunter liegen im Blut Hakenkreuz sowie Hammer und Sichel.

Agit-Plakate auf dem Maidan. Rechts ein Kämpfer der UPA mit dem Slogan “Gerojam Slawa” - den Helden Ruhm. Darunter liegen im Blut Hakenkreuz sowie Hammer und Sichel. Foto: Moritz Gathmann

Für die Gesetze erntete die Ukraine heftige Kritik, selbst von ihren engsten Verbündeten in Europa – den Polen. Präsident Bronislaw Komorowski erklärte, die Gesetze seien eine „Bedrohung für die polnisch-ukrainische Versöhnung“ und für Polen „nicht akzeptabel.“ Denn die UPA ist verantwortlich für Massaker an mehreren zehntausend Polen im Gebiet Wolhynien im Jahr 1943, ein bis heute äußerst schwieriges Kapitel in den polnisch-ukrainischen Beziehungen. Öffentliche Kritik an der Kanonisierung der „Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit“ stellt das Gesetz unter Strafe.

Insbesondere der letzte Punkt veranlasste eine Reihe namhafter Historiker aus dem Westen und der Ukraine zu einem öffentlichen Aufruf an den ukrainischen Präsidenten: Wie sollte es in Zukunft möglich sein, sich kritisch mit der Geschichte von OUN und UPA auseinanderzusetzen, wenn gesetzlich verboten sein soll, den „Kämpfern für die Unabhängigkeit“ gegenüber „öffentlich eine respektlose Beziehung“ zu zeigen? Ob die Gesetze in Kraft treten, liegt nun in den Händen des Präsidenten: Am 30. April 2015 wurden sie ihm zur Unterschrift übergeben.

Ausländische Schützenhilfe wie das „Bloodlands“-Konzept

Auffallend ist, wie stark ausländische Forschungsdiskurse in die Ukraine hineinstrahlen. So galt der britische Historiker und Romancier Robert Conquest mit seinem 1986 erschienenen Buch „Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929–1933“ den Schreibern der „neuen“ ukrainischen Geschichte als Kronzeuge für den ethnischen Charakter des Holodomor. Von Historikern im In- und Ausland wurde das Buch in der Folge in wichtigen Punkten korrigiert. An der Völkermord-These hält die Ukraine jedoch bis heute offiziell fest.

Noch wichtiger für den ukrainischen Geschichtsdiskurs war und ist jedoch der amerikanische Historiker Timothy Snyder, der mit seinem Buch „Bloodlands“ (2010) den theoretischen Überbau für die neue Sicht auf die eigene Geschichte gab. Snyder hat sich seit Beginn der Maidan-Proteste immer wieder öffentlich für die Ukraine zu Wort gemeldet und internationale Konferenzen im Land organisiert. Seine weitgehende Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus, welche ein riesiges Gebiet in Osteuropa mit der Ukraine im Zentrum in „Bloodlands“ verwandelten, passt hervorragend in das ukrainische Narrativ, in dem die Ukrainer zu Opfern zweier verbrecherischer Regime wurden.

Zum „Tag der Befreiung der Ukraine“ am 28. Oktober 2014 erklärte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, sechs Jahre lang sei die Ukraine „die Arena der Spiele zweier totalitärer Regime und später besonders heftiger und umfassender Kämpfe“ gewesen. Fast wörtlich übernimmt Poroschenko das von Snyder vorgeschlagene Bild der „Bloodlands“: das Land als Arena, in der sich blutige Ereignisse abspielen. Poroschenko erwähnt den „hohen Preis“, den sein Volk für den Sieg gezahlt habe: „Acht bis neun Millionen unserer Landsleute starben auf den Schlachtfeldern, in der Besatzung, in den Konzentrationslagern, in den Ghettos, den Gefängnissen und bei der Zwangsarbeit in der Fremde. Zehntausende ukrainischer Städte und Dörfer wurden zerstört und in Ruinen verwandelt, ein Viertel der Bewohner wurden obdachlos.“

Doch die Bevölkerung ist nicht passiv: Sie nimmt den Kampf auf, aber stets auf der Seite des Guten.

„Mehr als neun Millionen ukrainisch-stämmiger Menschen nahmen den Kampf mit dem Feind in der Roten Armee auf. Weitere Millionen Ukrainer kämpften gegen die Nazisten und ihre Verbündeten in der UPA, in den Reihen der sowjetischen Partisanen, in den Reihen der polnischen Armee, der amerikanischen, australischen, britischen, kanadischen Armee, in den Reihen des französischen, des jugoslawischen und des slowakischen Widerstands.“

Die Ukrainer waren also einerseits Opfer von Holodomor und Besatzung durch totalitäre Regime, andererseits Helden, sowohl im Kampf gegen Hitler als auch im nationalen Befreiungskampf.

Probleme mit den Kollaborateuren

Bleibt ein Problem: Ukrainer kollaborierten in großer Zahl mit den Deutschen. Sie kollaborierten wie Stepan Bandera und seine OUN und rückten gemeinsam mit den Deutschen in den Bataillonen „Nachtigall“ und „Roland“ in die Ukraine ein, weil sie auf einen von den Nazis tolerierten Staat hofften. Sie beteiligten sich an antijüdischen Pogromen im Juli 1941 in Lemberg. Sie ließen sich zu zehntausenden in die „Ukrainische Hilfspolizei“ eingliedern und unterstützten die deutschen Besatzer im Kampf gegen Partisanen und im Holocaust. Und seit 1943 kämpften einige Tausend Mann in der SS-Division „Galizien“ an der Ostfront und auf dem Balkan auf Seiten der Deutschen.

Auch an der „anderen“ totalitären Diktatur waren Ukrainer beteiligt: Sie arbeiteten im Geheimdienst, sie regierten die Städte, sie dienten in der Roten Armee, sie requirierten das letzte Getreide von den Bauern und ließen sie dann verhungern. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, denn schließlich war das Land – anders als die Länder des Warschauer Paktes oder die „späten“ Sowjetrepubliken im Baltikum - 70 Jahre lang Teil der Sowjetunion. Große Teile des Landes waren seit dem 17. Jahrhundert ohnehin Teil des russischen Imperiums.

Anders als immer wieder beschrieben ist die Ukraine kein geteiltes Land, weil im Westen Ukrainisch und im Osten Russisch gesprochen wird. Die Ukraine ist ein geteiltes Land, weil die Geschichtsbilder im Osten sich von jenen im Westen prinzipiell unterscheiden. Doch was das Land schon seit Juschtschenko überforderte, wird nun – angestachelt vom Krieg gegen Russland - offenbar intensiviert: Das westukrainische Lemberger Geschichtsbild, in dem Bandera und seine Kämpfer die wahren Patrioten der Ukraine sind, und der gemeinsame Kampf von Millionen von Ukrainern auf Seiten der Roten Armee eher ein Unfall der Geschichte, wird auf den Rest des Landes übertragen. Nicht von ungefähr warnen die Historiker in ihrem offenen Brief an Präsident Poroschenko davor, die vom Parlament angenommenen Gesetze könnten viele Ukrainer „entfremden“ und wären ein Geschenk für all jene, die sich wünschen, die Ukraine gegen sich selbst zu wenden.

Namen der Hauptstraßen in der Ukraine im Jahr 2012: Sowjetisch (rot), neutral (beige) und mit Bezug zur ukrainischen Unabhängigkeit (blau). Die im April verabschiedeten Gesetze sehen vor, dass die sowjetischen Bezeichnungen auch aus den Namen von Straßen- und Städtenamen verschwinden sollen.

Namen der Hauptstraßen in der Ukraine im Jahr 2012: Sowjetisch (rot), neutral (beige) und mit Bezug zur ukrainischen Unabhängigkeit (blau). Die im April verabschiedeten Gesetze sehen vor, dass die sowjetischen Bezeichnungen auch aus den Namen von Straßen- und Städtenamen verschwinden sollen. Quelle: Texty.org.ua

Eine Umfrage zweier renommierter ukrainischer Meinungsforschungsinstitute, die sich mit der Frage beschäftigte, was die Ukrainer eint und teilt, bestätigte erst Anfang 2015, dass in der Bevölkerung große regionale Unterschiede in der Bewertung der sowjetischen Vergangenheit und der Tätigkeit von UPA und OUN bestehen.

Missverständlicher und fragwürdiger Vergleich

Welch ein verqueres Geschichtsbild sich derzeit in den Köpfen der führenden ukrainischen Politiker formiert, bewies der aus dem westukrainischen Czernowitz stammende Ministerpräsident des Landes, Arsenij Jazenjuk, in einem ARD-Interview Anfang Januar. Dort erklärte er:

„Wir können uns alle sehr gut an die sowjetische Invasion sowohl der Ukraine als auch unter anderem Deutschlands erinnern. Dies soll vermieden werden, und keiner hat das Recht, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges neu zu schreiben, wie es der Präsident Russlands, Herr Putin, versucht.”

Die Äußerung wurde von der russischen Propaganda sofort ausgeschlachtet. Durchaus beklagenswert ist, dass die Moderatorin Pinar Atalay angesichts des äußerst missverständlichen und fragwürdigen Vergleichs in einer der wichtigsten deutschen Nachrichtensendungen nicht kritisch nachfragte.

https://twitter.com/pavelsheremet/status/595190430653927424

Ein Plakat auf der Straße von Kiew nach Odessa: „Wir haben Hitler besiegt, wir überwinden auch Putler.“ Putler ist eine heute unter Ukrainern beliebte Verballhornung von Putin. Putin+Hitler=Putler.

Noch einmal: Ja, die Ukraine hat das Recht auf ein eigenes Geschichtsbild, das sich von dem russischen unterscheidet. Und die Ukrainer haben es auch verdient, dass in Deutschland nicht mehr von „26 Millionen Russen“ gesprochen wird, die im Zweiten Weltkrieg zum Opfer des Vernichtungskriegs wurden. Denn einen großen Teil des Blutzolls haben tatsächlich Weißrussen und Ukrainer gezahlt.

Aber die Ukraine braucht auf diesem Weg keine westlichen Claqueure, sondern kritische Stimmen. Zum Schluss ein Beispiel dazu.

Marieluise Beck, die größte Fürsprecherin der Ukraine in der deutschen Politik, wies Ende 2014 darauf hin, dass der Kommandeur des Bataillons, das Auschwitz befreite, der „ukrainische Jude Anatolij Schapiro“ war. Beck hätte nachlesen sollen: Jener Schapiro sah sich mitnichten als „ukrainischer Jude“, sondern er war auch nach seiner Emigration in die USA stolz darauf, Auschwitz als Sowjetbürger und Soldat der Roten Armee befreit zu haben, worauf er in Interviews bis zu seinem Lebensende hinwies: „Ich war sehr stolz, in der Vorhut der Befreier zu sein, nicht so sehr, weil ich ein Jude war, der das Lager befreite, sondern weil wir, die Rote Armee, das Lager befreiten.”


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