In Kramatorsk, im Café „Brooklyn“, herrscht an diesem späten Abend im April fröhliche Stimmung. Relativ gesehen. Denn vor genau zwei Monaten schickten die Separatisten einige Dutzend Kurzstreckenraketen in die Stadt, die immerhin gute 50 Kilometer von der Frontlinie entfernt liegt – 17 Menschen starben damals. Der Krieg, der vor einem Jahr mit der Unabhängigkeitserklärung der Separatisten begann, ist nicht vorbei. Er ist gleich um die Ecke.
Die Bardame, selbst angetrunken, wiederholt immer wieder die gleiche Liedzeile „Bye baby baby, bye bye“, ein junger Ukrainer mit glasigen Augen und in Adidas-Turnhosen umarmt an der Bar seine schwangere Freundin, die ihren schon ansehnlichen Bauch in ein Lederkleid gezwängt hat. Dann beugt er sich zu uns rüber und beteuert, in Deutschland gebe es keine schönen Frauen, die Ukrainerinnen dagegen seien unerreicht. Ein alter Mann sitzt im Dunkeln, plötzlich steht er auf und hält eine Schildkröte in Händen. Er trägt sie zu einem steinernen Becken in der Mitte des Raumes und lässt sie behutsam ins Wasser gleiten. „Da sind fünf Stück drin“, erklärt er.
Inzwischen ist dem jungen Mann in der Adidas-Hose langweilig geworden. Er fragt uns die klassische Frage der Ukraine: „Wie sieht man das bei euch? Eure Merkel? Was wird hier?“ Die Antwort ist ihm egal. „Wir erwarten alle irgendwas“, sagt er. Die Industriestadt, eine Autostunde nördlich von Donezk, war bis zum vergangenen Sommer unter Kontrolle der Separatisten, dann kamen die Ukrainer zurück. Natürlich ist das „irgendwas“ die Rückkehr der prorussischen Separatisten.
Dasselbe wiederholt am nächsten Morgen die Verkäuferin in einem kleinen Stehcafé an der Hauptstraße von Kramatorsk. Es ist alles andere als eine freudige Erwartung, mehr ein Bauchgefühl, das ihr einflüstert, dass der jetzige Status quo nicht das Happy End ist. Die Verkäuferin ist ehrlich verzweifelt, zeigt auf das Brot, das hinter ihr im Regal liegt. „Das kostet jetzt siebeneinhalb Griwna, vor dem Krieg hat es vier gekostet. Ab dem 1. April haben sie auch noch die Preise für Gas und Strom angehoben. Und ich frage mich: Wozu stehe ich hier zwölf Stunden im Laden, wenn am Ende nur ein paar Kopeken übrig bleiben?“
Sie hat Freunde in Russland und in Deutschland, die sie anrufen und flehen: Pack deine Sachen und komm! Aber sie kann sich nicht vorstellen, wie sie die Tür ihrer Wohnung zuschließt und für immer geht. Als Kind musste sie mit ihren Eltern schon aus dem damals umkämpften Berg-Karabach fliehen, hierher, in die sichere Ostukraine. „Und jetzt soll sich alles wiederholen?“ Sie will Prognosen von uns, aber ich kann ihr nur sagen: „Keine meiner Prognosen seit November 2013 hat sich bewahrheitet. Deshalb mache ich keine mehr.“
Auf dem Weg zum Militärflughafen von Kramatorsk, wo die ukrainische Armee das zentrale Kommando ihrer „Antiterroristischen Operation“ eingerichtet hat, sind die Straßenlaternen mit blau-gelben Streifen ummalt, es gibt Graffitis an den Zäunen mit Slogans wie „Wir lieben die ukrainische Armee“. Das ist reine Patriotismus-Show, sie wird so schnell abblättern, wie es aufgemalt wurde, keine Frage. Denn auch in Kramatorsk haben sie im vergangenen Mai für die Abspaltung von der Ukraine gestimmt.
Die Ukraine kappt die Verbindung
Auf der Autofahrt nach Donezk passieren wir die Checkpoints der Ukrainer. In die Felder sind Schützengräben getrieben, davor Minen, die Kanonenrohre der eingegrabenen Panzer blicken drohend in Richtung der Checkpoints der Donezker Volksrepublik, keine fünf Minuten Fahrt mit dem Auto entfernt. Zwischen den Checkpoints der Feinde liegen die Masten der Hochspannungsleitungen geknickt wie Streichhölzer auf den Feldern. Symbolischer geht es nicht: Die Ukraine hat die Verbindung mit den Menschen auf der anderen Seite gekappt.
Die Separatisten, oder „De-En-Er-owzy“, wie sie sich selbst nennen, sehen etwas verwegener aus als die ukrainischen Soldaten, ihre Uniformen uneinheitlich. Aber es geht weitaus schneller am Checkpoint, sie sind nicht mehr nervös wie im Sommer, als die ukrainische Armee ganz nah an den Vororten der Stadt stand. Da vermuteten sie mit nervösem Finger an ihren abgewetzten Kalaschnikows in jedem Auto ukrainische Saboteure und beschimpften ausländische Journalisten dafür, dass sie nicht die Wahrheit über die Faschisten in Kiew schrieben.
Die ehemals quirlige Großstadt wirkt von Reise zu Reise trostloser. Von den Werbetafeln an der Einfahrtsstraße flattern inzwischen nur noch Papierfetzen, auch von jenen Plakaten, die im Herbst zu den von Separatisten organisierten Wahlen aufriefen. Die einzigen „frischen“ Plakate rufen Männer zum Eintritt in die Bataillone der Separatisten auf. Mehr als Krieg haben die Volksrepubliken nicht zu bieten. Wie aus der Zeit gefallen begrüßt „Schachtjor Donezk“ auf einem Banner die Gäste der Stadt: Der ukrainische Superclub trainiert seit letztem Sommer in Kiew und spielt im westukrainischen Lemberg, die prächtige „Donbass Arena“ für 50.000 Zuschauer ist verwaist.
Rein oberflächlich funktioniert die Stadt: Die Trams rattern über die in die Straße eingelassenen Gleise, die Busse fahren kreuz und quer durch die Stadt. Aber die Straßen wirken auch zur Rush-Hour leer und verlassen, kein Vergleich zur Vorkriegsstadt, als westliche Limousinen in Edelausführung im Zentrum der Fast-Millionen-Stadt im Stau auf die alten Russen-Ladas der Bergarbeiter trafen. Das öffentliche Leben ist praktisch tot: Zweimal die Woche spielt die Donbass-Oper zur Mittagszeit auf, ebenso das Theater der Stadt, weil abends die Sperrstunde die Menschen zu Hause hält. Auch das letzte Kino der Stadt zeigt seinen letzten Film um 18 Uhr. Die vielen Shopping Malls der Stadt, einst leuchtende Konsumtempel aus Stahl und Glas, stehen wie Relikte aus einer anderen Zeit an den Straßen. Im November hatte das ein oder andere wieder eine Etage geöffnet, weil man dachte, der Krieg sei vorbei. Jetzt ist praktisch alles zu.
Schon das Bezahlen wird zur Herausforderung, weil die Ukraine das Gebiet vom Zahlungsverkehr abgeschnitten hat. Auch alle Bankautomaten sind seitdem geschlossen. Im Supermarkt „Brusnitschka“ kann man deshalb per Online-Banking bezahlen: Die Kassiererin gibt die Nummer der Bankkarte und die Summe im Computer ein, daraufhin bekommt der Käufer eine SMS mit dem Bestätigungscode, den gibt die Kassiererin ein - fertig. Reichlich kompliziert, aber die einzige Lösung.
Die Regale des Supermarktes erinnern an sowjetische Zeiten: Zwei Sorten Nudeln, zwei Sorten Öl, zwei Sorten Reis, viele Konserven, damit mehrere Meter breit die Regale vollgestellt. Nein, Hunger bricht hier nicht aus, aber der Rückschritt ist grandios. Aus unerfindlichen Gründen sind selbst Streichhölzer und Feuerzeuge Mangelware. „Wir haben noch 15 Prozent der Auswahl von vor dem Krieg“, sagt ein Supermarktmanager mehr verzweifelt als wütend. „Mehr lassen die Ukrainer nicht durch“, erklärt er.
Schleichende Verschmelzung mit Russland
Schleichend, aber sicher läuft dieser Tage die Verschmelzung mit Russland: Mit Kugelschreiber sind über die Griwna-Preise die Preise in Rubel gekritzelt, seit 1. April ist das obligatorisch, vom Republikführer Alexander Sachartschenko angeordnet. Und die Hälfte der Lebensmittel kommt jetzt schon aus Russland, Tendenz steigend.
Anfang Mai 2014 stimmten die Donezker und Luhansker per Referendum mit überwältigender Mehrheit für eine Abspaltung von der Ukraine – die Annexion der Krim hatte bei den Menschen in der Ostukraine Hoffnungen geweckt, dass Russland auch sie „heim ins Reich“ holen würde. Aber das Szenario wiederholte sich nicht, stattdessen entsandte Kiew Panzer und Kampfflugzeuge, daraufhin schickte Russland Panzer und Luftabwehrraketen. Der Krieg eskalierte. Nach den militärischen Niederlagen im August änderte Kiew seine Strategie dann: Es schnitt die „Volksrepubliken“ wirtschaftlich vom „Festland“ ab: Keine Renten mehr an die Bürger in den Republiken, keine Gehälter mehr an die Lehrer und Ärzte, das Bankensystem abgeschaltet. Das stellt die Volksrepubliken vor ein unlösbares Problem. Unlösbar selbst mit kurzfristigen Finanzhilfen aus Moskau.
Die haben zumindest die Rentner zum ersten Mal seit Monaten wieder zufriedengestellt. Vor der Filiale der „Republikanischen Bank“ an der Artjom-Straße stehen sie in der Schlange: Es gibt Renten in Rubel. Wer vorher 1.000 Griwna bekam, bekommt jetzt 2.000 Rubel. Das entspricht grob dem tatsächlichen Kurs, klingt aber nach mehr, ist aber umgerechnet auch nur etwa 40 Euro. Das Geld muss aus Moskau kommen, denn die eigenen Steuereinnahmen der Volksrepublik sind so gering, dass sie darüber nicht einmal Auskunft geben.
Sie sind so gering, dass sie nicht einmal den eigenen Angestellten Gehälter zahlen können. Vor der Bank treffen wir eine ältere Frau, die in der jetzt verstaatlichten Telefongesellschaft arbeitet. Im September hat sie das letzte Mal von den Ukrainern Gehalt bekommen, seitdem arbeitet sie als „Freiwillige“, wie sie es nennt. Die Frau ist gebildet, gut gekleidet, sie gehörte hier vor dem Krieg zur Mittelschicht. Aber auch ihre Ersparnisse sind inzwischen aufgebraucht. „Irgendetwas muss passieren. So kann es nicht bleiben“, sagt sie.
Das „Traveler’s Coffee“ gleich gegenüber vom Regierungsgebäude der Volksrepublik wirkt wie ein Coffeeshop in Berlin, New York oder Hongkong. Es gibt dutzende Sorten Tee aus Glaskannen, in der Vitrine Sandwiches aller Couleur, gemütliche Sofas, ebenso gemütliche Musik aus den Lautsprechern. Aber der Laden, in dem noch vor einem Jahr Schüler und Studenten ihre Cappuccinos small, medium, grand schlürften, ist leer. Fast leer. Oben, in einer dunklen Ecke, sitzen Sergej, 18, und seine Freundin Kristina, 16; eng aneinandergekuschelt rauchen sie Wasserpfeife.
Sergej stehen demnächst die letzten Abi-Prüfungen bevor, und zwar an zwei Schulen: „Real“ an seiner alten Schule in Donezk, und virtuell an einer Schule in Slawjansk – eine Stadt unweit von Donezk, die von Kiew kontrolliert wird. Prüfungen finden per Skype statt – da sitzt ihm dann der Lehrer gegenüber und stellt Fragen. Sergej sichert sich wie viele seiner Freunde mit einem regulären ukrainischen Abitur ab: Was ist ein Schulabschluss der von keinem Staat der Welt anerkannten Donezker Volksrepublik wert?
Bald werden sich die Wege des Pärchens trennen. Nach dem Sommer will Sergej ins russische Rostow oder, wenn das Geld reicht, nach Warschau. „Die Ukraine hat keine Zukunft“, ist er überzeugt. Mit der Ukraine meint er sowohl die Volksrepublik als auch das „Festland“, wie man inzwischen hier witzelt. Geld hat er zwar noch genug – der Vater verdient es im Tankstellenbusiness und lebt inzwischen in Kiew.
Statt ins Kino oder zu Konzerten zu gehen, besuchen sich die Leute jetzt zu Hause, oder sie gehen stundenlang spazieren. „Aber nach acht sollte man nicht mehr draußen sein – da wird geschossen“, sagt Kristina. Ansonsten lesen sie so viel wie nie zuvor. Er: „Fifty Shades of Grey“, sie schaut ihn ungläubig an. „Ich lese Balzac – Das Chagrinleder.“ Angesichts des Chaos um sie herum fliehen sie ins Private – Politik ist im Freundeskreis kein Thema. „Das passiert alles um uns herum“, sagt Kristina und trinkt von ihrem Cappuccino. Aber Hoffnung gibt es kaum. „Wir leben nicht, wir existieren.“ Allerdings existieren die beiden besser als die meisten anderen Bewohner der Volksrepubliken.
Verheerende Zerstörungen in Debalzewo
Schnitt. Debalzewo – zweieinhalb Stunden mit dem Vorortzug, der seit April wieder fährt. „Ein Feld, auf dem Kränkungen gesät wurden, bringt so bald keine Keime der Weisheit hervor”, sagt ein übelriechender Mann, der sich in einer abgewetzten, schmutzigen Jacke neben mir in den Zug Donezk-Debalzewo setzt, mit Blick auf die Bombentrichter neben den Schienen. Wie ein Narr in Christo des Donbass wirkt er, wie er da Weisheiten von sich gibt, die den Nagel auf den Kopf treffen.
Um die Stadt Debalzewo wurde mehr als ein halbes Jahr heftig gekämpft, bis zuletzt hielten sich hier die Ukrainer – und wurden am Ende doch eingekesselt und geschlagen, unter Beteiligung regulärer russischer Panzertruppen. Tausende Menschen, die nicht gehen konnten, weil sie zu alt waren, oder nicht wollten, weil sie zu starrsinnig waren, wurden am Ende zu Geiseln des Krieges, als die Separatisten die Positionen der Ukrainer an den Stadträndern bombardierten. Im Stadtviertel, das den nach dem Frauentag benannten Namen „8. März“ trägt, hat der Krieg verheerende Zerstörungen hinterlassen.
Was die russischen Medien im vergangenen Jahr über Städte wie Slawjansk berichteten, die von den Ukrainern beschossen wurden, trifft in diesem Falle wirklich zu. Fast jedes der hunderte einfachen Häuser hat einen Treffer abbekommen, viele sind bis auf die Grundmauern zerstört. Ein alter Mann durchsucht mit seiner Frau und der Tochter die Ruinen seines Hauses. Er wohnt jetzt in der Wohnung seiner Tochter im Stadtzentrum. Wie es weiter geht? „Keine Ahnung.“ Kein Geld, das Haus aufzubauen, keine Aussichten. DAS heißt existieren und nicht leben.
Im Rathaus der Stadt erklärt Alexander Afendikow, ein Bär von einem Mann, der jetzt als Übergangsbürgermeister die Stadt wieder aufbauen soll, die Ukrainer selbst hätten die Stadt zerstört: „Sie sind mit den Panzern durch die Stadt gefahren und haben die Häuser aus nächster Nähe beschossen.“ Schauergeschichten wie diese hört man auch auf der Straße von den Bewohnern selbst, aber das allermeiste vom Hörensagen. Dabei wird im Stadtviertel „8.März“ klar, wie es wirklich war: Rundherum standen die Mörser, Panzer und Grad-Systeme der Ukrainer und feuerten auf die Separatisten, die aus drei Himmelsrichtungen vorrückten und ihrerseits aus vollen Rohren die ukrainischen Positionen beschossen. Der Großteil der Zerstörungen in Debalzewo geht also auf das Konto der Separatisten, der „Befreier“, wie Afendikow sich gerne nennt.
Damit dieses Narrativ noch überzeugender wirkt, erzählt er von Lebensmittellagern, die von den „Faschisten“ mit Sprengfallen gesichert worden seien. Als er beschreibt, wie die hungernden Menschen beim Betreten getötet wurden, löst sich hinter ihm die Trikolore mit der Aufschrift „Orthodoxe Armee“ von der Wand und gleitet langsam zu Boden. Afendikow ist ein sympathischer Typ, aber im Gespräch erhärtet sich der Verdacht, dass er auch ein großer Münchhausen ist. Ein „Graf de Bolz“, so erzählt er später, habe die Stadt gegründet, deshalb heiße sie Debalzewo. Auch das reine Erfindung.
Afendikow prophezeit der Stadt mit russischer Unterstützung eine goldene Zukunft, schon bald werde sie 100.000 Einwohner haben. Derzeit sind von den einst 32.000 nur knapp über 10.000 übrig, die meisten von ihnen Rentner. Es klingt so illusionär wie das allermeiste, was die Männer in Tarnfarben erzählen, die in Debalzewo, Donezk, Stachanow oder sonstwo nun an den Schreibtischen der Bürgermeister sitzen. Diese Männer können offenbar kämpfen, vielleicht können sie sogar den Wiederaufbau von Häusern organisieren, aber von Wirtschaft haben sie keine Ahnung.
Die Betriebe der Volksrepubliken verkaufen derzeit etwas Kohle in die Ukraine, auch ein paar Fabriken wie das Stahlwerk in Jenakiewo produzieren seit kurzem wieder. Aber sowohl die Einfuhr als auch die Ausfuhr von Waren und Rohstoffen haben die Ukrainer so erschwert, dass ein normales Funktionieren der Industrie unmöglich ist. Selbst die Bierbrauerei von Donezk hat gerade endgültig ihre Pforten geschlossen. Seitdem gibt es kein Bier mehr in den Volksrepubliken. Ohne Wirtschaft – keine Steuern. Ohne Steuern – keine Gehälter. Ohne Gehälter – kein Einzelhandel. Der Kollaps ist nah.
Der Krieg wird seit Anfang Februar, als Angela Merkel die Konfliktparteien in Minsk mit Müh und Not zu einem Waffenstillstand überredete, auf Sparflamme weitergeführt. Das meiste schwere Gerät ist – so bestätigen es auch die OSZE-Beobachter – aus der Kampfzone ins Hinterland verbracht worden. Aber immer noch beschießen sich Separatisten und Ukrainer regelmäßig, im Süden bei Mariupol und im Donezker Vorort Spartak.
Und beide Seiten zeigen gerne mit dem Finger auf die anderen: „Die ukrainische Armee hat uns in den vergangenen 24 Stunden sechzig Mal beschossen.“ So klingt das bei Eduard Bassurin, dem Sprecher der Volksrepublik, der an diesem Frühlingstag die Journalisten nach Spartak geladen hat. Dort zeigt er mehrere frische Krater von Mörsergranaten „vermutlich Kaliber 120“, die offenbar von der ukrainischen Seite stammen. Aber wer in Donezk gute Ohren hat und dazu noch die Berichte der OSZE liest, der versteht, dass es beide Seiten sind, die den Waffenstillstand brechen. Aber es sind Positionskämpfe, Muskelspiele aus den Schützengräben heraus. Zu militärischen Offensiven scheint derzeit keine der beiden Seiten bereit zu sein.
Zeit, zurückzukehren in die Welt der (einigermaßen) geordneten Verhältnisse. Auch das ist von mal zu mal schwieriger geworden. Im letzten April gab es noch den großartigen internationalen Flughafen Donezk, zur Fußball-Europameisterschaft 2012 fertiggebaut für eine knappe Milliarde Dollar und der Stolz der Donezker. Der wurde in den Kämpfen dem Erdboben gleichgemacht, und das ist keine Metapher.
Seit dem Sommer fahren auch die Züge in Richtung Ukraine nicht mehr. Bleibt die Fahrt mit Bus und Autos durch die ukrainischen Checkpoints, in die nächsten Großstädte Dnepropetrowsk oder Saporoschje, auf Straßen, die ihren Namen nicht verdienen. Schlimm genug, aber seit Januar haben die Ukrainer an ihren Checkpoints ein Passierscheinsystem eingeführt, das für die meisten Bewohner der Volksrepubliken unüberwindlich ist: Hier kommt nur durch, wer einen Passierschein hat. Den bekommt aber nur, wer einen Antrag außerhalb der Volksrepubliken stellt. Ein Teufelskreis, überwindbar nur durch gute Verbindungen – oder Bestechung.
Drei Stunden Wartezeit am Checkpoint
Kurz nach zwei am südlichen Busbahnhof von Donezk. Hier ist so viel Betrieb wie sonst nirgendwo in der Stadt. Ein alter Mann spielt russische Lieder auf seinem Knopfakkordeon, alle fünf Minuten fahren Busse in dutzende ukrainische und russische Städte los. Ein camouflierter Kämpfer, die Kalaschnikow lässig über der Schulter, trinkt ein Bier in der warmen Frühlingssonne.
Die Abfahrt verzögert sich, weil der Busfahrer aus Dnepropetrowsk Päckchen mitgenommen hatte, die müssen jetzt hier abgeholt werden. Denn auch die Post hat die Ukraine im November „abgestellt“. Busfahrer sind seitdem gefragte Postboten in der Ostukraine.
Die „De-En-Er-owzy“ lassen wieder schnell passieren, dann geht es weiter in Richtung des Checkpoints Kurachowo. Aus der Ferne sieht man schon hinter einer Pappelallee eine lange Schlange in der Sonne blitzen. Hier stehen aufgefädelt wie an einer Perlenkette die abtrünnigen ukrainischen Bürger und … warten. Heute sind es drei Stunden. Der Busfahrer steigt immer wieder aus - „noch 23 vor uns“, dann wieder „noch 12“. Zwischendurch macht er kurze Nickerchen auf seinem Lenkrad. Um kurz nach sechs sind es nur noch drei Busse vor uns. Die Menschen atmen erleichtert auf. „Wie lange es dauert, das hängt von der Laune der Soldaten ab“, erklärt er lachend. Er macht die Tour nach Dnepropetrowsk seit Monaten jeden Tag.
Und plötzlich sitze ich mit den verfeindeten Parteien in einem Bus, zwei Sitzreihen voneinander entfernt. Da ist Sergej, Manager eines Kohlebergwerks in Donezk, der übers Wochenende zu seiner Familie nach Dnepropetrowsk fährt. Er glaubt nicht, dass der Donbass mit den Separatisten eine wirtschaftliche Zukunft hat, aber verflucht ebenso die Ukrainer, die seit letztem Jahr seine Heimatstadt bombardieren und sich damit brüsten, auf diese Weise das Vaterland zu verteidigen.
Kurz nach dem ukrainischen Checkpoint steigt dann der 20-jährige Wolodimir (die ukrainische Version des russischen Wladimir) ein, in Camouflage, mit dem Erkennungszeichen des nationalistischen „Rechten Sektors“ auf der Schulter. Zwischen seinen Beinen hält er ein mit einem Plastiksack umhülltes Paket. „Das ist eine Panzerfaust. Die häng ich zu Hause an die Wand“, beantwortet er meinen fragenden Blick. Wolodimir, ein schmaler Typ mit zarten Gesichtszügen und blonden Haaren, ist eigentlich Schauspieler, war aber seit dem Beginn des Maidans in Kiew, schon damals beim „Rechten Sektor“. Nach dem Sturz des Präsidenten ging er zurück in seine westukrainische Heimatstadt Luzk, arbeitete weiter am Theater.
Vor drei Monaten zog er dann in den Krieg, freiwillig. Was ihn dazu bewogen hat? „Der Patriotismus. Ich werde so lange kämpfen, bis die russischen Okkupanten unsere ukrainische Erde verlassen“, sagt er auf Ukrainisch und blickt nach draußen, wo es langsam dunkel wird. Nach drei Monaten Kämpfen in den Schützengräben am Stadtrand von Donezk hat er jetzt zwei Wochen Urlaub, dann geht es wieder zurück an die Front. Wolodimir ist fest davon überzeugt, dass ihm in Donezk russische Luftlandetruppen aus Pskow gegenüberstehen. „Ich selber habe am Flughafen im Fernglas ihre Flaggen auf den Panzern gesehen“, sagt er. Hat er mal mit den Menschen im Dorf Peski gesprochen, in dem seine Einheit stationiert war, mit jenen, die er zu beschützen gekommen ist? „Nein, das ist uns verboten worden. Kein Kontakt. Es gibt zu viele russische Diversanten“, antwortet er knapp.
Und bevor sich an einer Kreuzung die Türen des Busses öffnen und Wolodimir in die Dunkelheit entschwindet, sagt er noch: „Das ist erst der Anfang. Es wird ein großer Krieg.“ Der Donezker Sergej hat die ganze Zeit schweigend zugehört. Die Türen schließen sich, der Bus rumpelt weiter. Sergej blickt Wolodimir hinterher und schüttelt schweigend den Kopf.
Dieser Artikel geht auf eine Zusammenarbeit mit unseren Mitgliedern zurück, die aus der Ukraine kommen oder einen besonderen Bezug zu dem Land haben. In mehreren Mails baten wir um Themenideen und ihre Einschätzung zur Lage im Land. Mehr noch als spezifische Themen bewegte viele Mitglieder der Alltag normaler Bürger im Donbass. Vielen Dank an: Jutta Schick, Rene Iwan, Vassili Golod, Klaus Sonnleitner, Carl Cullas und Dr. Wolfgang Abel.
Viele Fragen werden im Artikel beantwortet. Einige davon haben im Text jedoch keinen Platz gefunden. In einem Update beantwortet Moritz Gathmann daher die noch offenen Fragen. Hier geht es zu den Antworten.
Aufmacherbild: Ein Vorort bei Debalzewo - eine Frau sucht in den Trümmern ihres Hauses nach Brauchbarem (Moritz Gathmann)