Warum eine atomwaffenfreie Welt vielleicht doch keine gute Idee ist
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Warum eine atomwaffenfreie Welt vielleicht doch keine gute Idee ist

Die Iran-Atom-Verhandlungen sollen ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten verhindern. Das ist gut und wichtig. Aber paradoxerweise könnte eine Welt ohne Atomwaffen unsicherer sein als eine mit. Der Nobelpreisträger Thomas Schelling warnte schon vor einigen Jahren: In einer atomwaffenfreien Welt wäre jede Krise eine Nuklearkrise.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Als es 2010 wieder Hoffnung gab, das Unmögliche zu vollbringen und den Geist der nuklearen Rüstung zurück in die Flasche zu stopfen, stellte sich der damals 79-jährige Ökonom und Nuklearstratege Thomas Schelling bei einer Fachtagung vor die bekanntesten Abrüstungsexperten der Welt und fragte, ob das wirklich so eine gute Idee sei: “Warum sollten wir erwarten, dass eine Welt ohne Atomwaffen sicherer sei als eine Welt mit (einigen) Atomwaffen?” Bis heute wartet er auf eine Antwort.

Und das, obwohl ehemalige Generäle schon 1996 die Abrüstung forderten. Obwohl 2007 profilierte US-Außenpolitiker nachzogen und “Global Zero” als Ziel ausriefen, also die Abschaffung aller Atomwaffen. Und obwohl diese Vision schließlich auch US-Präsident Barack Obama bei seiner Prag-Rede 2009 leitete und zu einem Pfeiler seiner Außenpolitik und der derzeitigen Iran-Verhandlungen wurde. Dass eine Welt ohne Atomwaffen sicherer sei, nehmen viele an. Aber erstaunlich wenige können es beweisen.

“Wenn man sich anschaut, wie viel intellektuelle Energie im letzten halben Jahrhundert in die Erforschung der ‘Stabilität’ einer Welt mit nuklearer Abschreckung geflossen ist, müsste es doch wertvoll sein, auch die Eventualitäten einer Welt ohne Atomwaffen zu klären”, schrieb Schelling bereits 2009.Schelling ist von Haus aus Spieltheoretiker. Für seine Arbeiten auf diesem Feld hatte er auch den Wirtschafts-Nobelpreis gewonnen. Er glaubt daran, sich die Welt denkend (im Gegensatz zu sehend) zu erschließen, also durch Deduktion.

In den Szenarien einer atomwaffenfreien Welt würde kaum in Erwägung gezogen werden, was im Falle eines großen Krieges passieren würde, so Schelling. Seine Problemanalyse: In einer atomwaffenfreien Welt gibt es zwar keine Bomben mehr, die sofort eingesetzt werden können. Aber das Wissen, wie man diese baut, ist noch vorhanden. Dieses Wissen könnte im Konfliktfall eine verheerende Eskalationsdynamik in Gang setzen:

Schelling ging in einer Studie von 1976 sogar so weit, den Ausdruck “die Bombe haben” nicht als Aussage über tatsächliche Sprengköpfe zu betrachten, sondern über die Fähigkeit, diese zu bauen. Dieser Definition folgend hätten auch Länder wie Deutschland oder Japan die Bombe.

Eine Welt ohne Nuklearwaffen wäre eine Welt, in der die USA, Russland, Israel, China und ein halbes Dutzend oder ein Dutzend andere Länder sehr knapp kalkulierte Mobilisierungspläne hätten, um Atomwaffen zu bauen […] und sie hätten Ziellisten eingerichtet, um die Nuklearanlagen der anderen Länder vorbeugend zu zerstören; das alles auf höchster Alarmstufe, mit Übungen und abhörsicheren Notfallkommunikationsanlagen. Jede Krise wäre eine Nuklearkrise, jeder Krieg könnte eine Nuklearkrieg werden. […] Es wäre eine nervöse Welt.

Schelling meint, dass die Regierungen in einer atomwaffenfreien Welt immer auf der Hut sein müssten. Sie müssten sich versichern, dass sich kein anderer Staat der Welt heimlich solche Waffen zulegt. Sie müssten sich aber auch sicher sein, dass sich kein anderer Staat der Welt heimlich die Fähigkeit erhält, solche Waffen zu bauen. Im Konfliktfall könnte jede Seite zuerst versuchen, jene Anlagen zu zerstören, in denen die Atomwaffen her- und bereitgestellt werden. Zeitgleich würde sie selbst nuklear aufrüsten, um genügend Druck für eine glaubhafte Kapitulationsforderung aufzubauen. Es käme im Konfliktfall auf Sekunden, Minuten, maximal Stunden an. Je schneller eine Regierung die Bombe hätte, desto eher hätte sie diesen einen grandiosen militärischen Vorteil.

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine ähnliche Logik

Es gab schon einmal eine Welt, die im Konfliktfall ähnlich funktionierte. Wir kennen sie gut, sie liegt nur 100 Jahre zurück. Die Kombattanten hießen damals Großbritannien, Deutsches Reich, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland. Der Mobilisierung der Nuklearwaffen entsprach die Generalmobilmachung der gigantischen Armeen der Großmächte. Die minutiös ausgearbeiteten Kriegspläne der deutschen Heeresleitung gingen etwa davon aus, dass zuerst im Westen Frankreich schnell geschlagen werden könne, ehe die gleichen Truppen später auch im Osten gegen Russland eingesetzt werden konnten - das wegen seiner Größe länger brauchen würde, um seine Armee zusammenzurufen. Als aber Russland als erstes Land mobilmachte, musste die deutsche Heeresleitung noch zügiger und ruchloser agieren. Der Erste Weltkrieg war nicht mehr zu verhindern. Militärstrategie übertrumpfte die Politik.

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Allerdings ist deswegen kein Fatalismus angebracht. Der Kampf gegen Atomwaffen ist nicht zwecklos. “Dass eine drastische Verringerung [der Zahl der Sprengköpfe] genauso wie eine geringere Alarmbereitschaft Sinn macht, braucht keine genaue Analyse”, sagte Schelling. Die Welt werde dadurch sicherer. Den US-Außenpolitikern ging es in ihrem Global-Zero-Aufsatz von 2007 eben auch darum, “nicht-staatliche Akteure”, sprich Terroristen, davon abzuhalten, Atomwaffen zu bekommen. Außerdem sinkt mit der Zahl der Sprengköpfe, Abschussvorrichtungen, Übungen und Produktionsanlagen auch die Wahrscheinlichkeit für Unfälle. Beinahe-Katastrophen hatte es während des Kalten Krieges schließlich viele gegeben.

Die jüngere Forschergeneration stellt die Überlegungen von Schelling in Frage. Sie setzen seinen kühlen Überlegungen von nationaler Sicherheit und Abschreckung andere Paradigmen entgegen und wollen den Abrüstungsprozess beschleunigen, indem sie ein starkes internationales Tabu gegen diesen Waffen errichten. Dazu veranstalten sie etwa Konferenzen, die sich den humanitären Folgen eines Atombombenabwurfes widmen.

Die erste Konferenz in Oslo wurde von den wichtigsten Akteuren im Atomwaffensperrvertrag, den Atommächten China, Russland, Frankreich, USA und Großbritannien, boykottiert. Im vergangenen Jahr in Wien nahmen die USA und Großbritannien teil. Dass diese fünf Mächte (plus Deutschland) auch diejenigen sind, die mit dem Iran über sein Atomprogramm verhandeln, ist kein Zufall. Sie halten den Atomwaffensperrvertrag für das effektivere Instrument, um neue Atommächte zu verhindern, und verhandeln derzeit in Lausanne so auch über dessen Zukunft.

Wollte man eine Welt erreichen, die ohne Atomwaffen auskommen und nicht den Schelling’schen Eskalationsdynamiken folgen soll, bräuchte es ein umfassendes, lückenloses Kontrollregime, sagte Kenneth Brill, ehemaliger Botschafter der USA bei der Internationalen Atomenergiebehörde, auf der gleichen Konferenz, auf der auch Schelling sprach. “Alles, was nuklear ist, müsste Teil der Regelung sein.” In einer komplett abgerüsteten Welt dürfe es keine “zusammengebauten Nuklearwaffen geben, keine Einzelteile von Nuklearwaffen, keine Anlagen, die diese Einzelteile herstellen können oder daraus Waffen herstellen, keine nationalen Lager für waffenfähiges Nuklearmaterial, keine nationalen Anlagen, dieses Material herzustellen; alle privaten und staatlichen Reaktoren müssten sich Kontrollen unterziehen.”

Das klingt einfach. Aber es ist nicht machbar.“Genügend Plutonium um eine Bombe zu bauen”, sagt Schelling, “könnte im Gefrierfach meines Kühlschrankes versteckt sein.” Niemand kann das kontrollieren.


Aufmacher-Foto: Jasleen_Kaur/flickr (BY-SA 2.0)