In Marienberg im Erzgebirge ist der Schnee geschmolzen, und Stephan Behrenz macht Meldung. Der Oberstleutnant ist Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 371, der „Marienberger Jäger“, und seit wenigen Monaten Chef der deutschen Beteiligung an der neuen „Speerspitze“ der NATO. Innerhalb von fünf Tagen, so haben es die Staats- und Regierungschefs der Allianz im vergangenen September in Wales beschlossen, soll Behrenz mit rund 900 Männern und Frauen abmarschbereit sein, um als Teil einer superschnellen Eingreiftruppe mit seinen Panzergrenadieren, Aufklärern, Pionieren und Nachschubspezialisten für die NATO Flagge zu zeigen. Wo immer die Politik es für nötig befindet, vor allem aber in den östlichen Mitgliedsstaaten, die sich nach den Entwicklungen in der Ukraine vom großen Nachbarn Russland bedroht fühlen.
Optimistisch macht der Oberstleutnant seinem Chef, Heeresinspekteur Bruno Kasdorf, so etwas wie eine Erfolgsmeldung. Der „deutsche Gefechtsverband NRF 2015“, die Bundeswehr-Zusage für die Eingreiftruppe NATO Response Force, „hat die Vorbereitung abgeschlossen und ist … personell und materiell wie befohlen einsatzbereit.“
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Bundeswehr im Heimatbetrieb war auf Diät
Das ist ebenso richtig wie irreführend. Denn Behrenz hat ein Problem: In den vergangenen zwei Jahrzehnten, nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, hat die Bundeswehr wie die meisten europäischen Armeen drastisch abgerüstet. Neues Material, moderne Technik wurden vor allem für den Auslandseinsatz in Afghanistan angeschafft. Im Heimatbetrieb wurde die Truppe dagegen auf Diät gesetzt: Vom sogenannten Großgerät wie Panzer haben die Einheiten normalerweise 70 Prozent dessen, was für sie eigentlich vorgesehen wäre. Die „Vollausstattung“ bekommen nur Truppenteile, die in einen Auslandseinsatz gehen. Oder eben Behrenz’ „Speerspitze“, im offiziellen Sprachgebrauch der „Deutsche Gefechtsverband NATO Response Force“ mit der Interim „Very High Readiness Joint Task Force“, eben die vorläufige superschnelle Eingreiftruppe. Vorläufig deshalb, weil noch niemand so recht weiß, ob es auch so klappt wie geplant.
Deshalb muss der Oberstleutnant bis zum 7. April, dem Tag, an dem die superschnelle Truppe einsatzfähig auf dem Hof in Marienberg stehen soll, sein Material noch zusammenorganisieren. Moderne Schutzwesten der Schutzklasse 4, gesichert für den Beschuss mit Kalaschnikows, fehlen ihm wenige Wochen zuvor noch ebenso wie genügend Nachtsichtbrillen vom Typ „Lucie“, mit der seine Panzergrenadiere auch im Dunkeln kämpfen können sollen. Von den Maschinenpistolen MP7, mit der alle Kraftfahrer und die MG-Schützen ausgerüstet werden sollen, hat er längst noch nicht alle. Und die 30 „Marder“-Schützenpanzer, die den Kern des Gefechtsverbandes ausmachen, sollten schon alle in der neuesten Version sein – und die muss sich Behrenz im ganzen Heer zusammenleihen. Vor wenigen Wochen machte die Einheit ungewollt Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass bei einem Manöver in Norwegen ein fehlendes Waffenrohr mit einem schwarzgestrichenen Besenstiel ersetzt wurde.
„Dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“ heißt der bürokratische Begriff, der die Mangelverwaltung mit den 70 Prozent vorhandenen Geräts beschreibt. Praktische Folge: Andere Bataillone haben kaum noch genügend Material, ihre Soldaten auszubilden. Um eine Einheit von nicht einmal 1.000 Mann einsatzbereit zu machen, wird der Rest der Bataillone teilweise ausgeschlachtet.
Diese Situation ist auch, aber nicht nur die Folge von Sparrunden für den Verteidigungshaushalt. Sondern viel mehr Folge des strategischen Verständnisses nach Ende des Kalten Krieges. Die Landesverteidigung, für die ja Streitkräfte eigentlich aufgestellt werden und die als Begründung für die Bundeswehr auch im Grundgesetz steht, rückte in den Hintergrund. Statt dessen wurden Auslandseinsätze, wiederum in erster Linie der in Afghanistan, zum wichtigsten Faktor, an dem sich die Truppe ausrichtete.
Das zeigte sich exemplarisch an einem Waffensystem, das – neben der nuklearen Abschreckung – für die Konfrontation der militärischen Blöcke stand wie kaum ein anderes: dem Kampfpanzer. Von 2.125 Leopard 2-Kampfpanzern noch 1990 reduzierte die Bundeswehr ihre Bestände auf derzeit 245 Stück, also rund zehn Prozent. Die große Auseinandersetzung zu Lande schien ausgeschlossen, die Verringerung eine Frage der Vernunft. Investitionen in neues Militärgerät gab es natürlich weiterhin – Großvorhaben wie den lange zuvor begonnenen Eurofighter oder das Transportflugzeug A400M, die mit Milliardensummen einen Löwenanteil am Investitionshaushalt im Verteidigungsetat verschlingen.
Russland mutierte vom Partner zum möglichen Gegner
Im zurückliegenden Jahr hat sich die sicherheitspolitische Sicht allerdings für die NATO und auch für Deutschland geändert. Während Russland als Partner galt, mit dem die Allianz die Kooperation sucht, wird das Land inzwischen – wieder – als möglicher Gegner angesehen. Die russische Annexion der Krim und die Unterstützung Moskaus für die Separatisten in der Ostukraine hat die Haltung in Brüssel und in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten grundlegend gedreht. Spätestens seit dem Treffen der Staats- und Regierungschefs im vergangenen Jahr gilt als Konsens, dass der westliche Militärblock eine glaubhafte Abschreckung mit konventionellen Waffen präsentieren muss.
Damit herrscht eine Ansicht vor, die die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Polen schon seit Jahren vertreten, bei der Mehrheit ihrer Verbündeten aber wenig Gehör fanden: Der Wunsch der östlichen NATO-Staaten, wie vor Jahrzehnten eine sichtbare Abschreckungsmacht vorzuhalten, war im Bündnis als Wunsch abgetan worden, auf den wenig Rücksicht genommen werden müsse. Das russische Vorgehen im Südosten Europas, aber auch große Militärmanöver der russischen Streitkräfte mit zehntausenden Soldaten an der Grenze zur NATO haben dafür gesorgt, dass sich eine bis an den Hindukusch engagierte NATO an ihre ursprüngliche Kernaufgabe erinnert: die „kollektive Verteidigung“, das Zusammenstehen der Verbündeten.
Für Deutschland hat der neue, alte Schwerpunkt tiefer gehende Auswirkungen als für andere NATO-Staaten. Vor gut zwei Jahrzehnten galt es als ausgemacht, dass eine Konfrontation der beiden Machtblöcke überwiegend auf deutschem Boden stattfinden würde. Faktisch war mitten in Deutschland die Elbe die Grenze, an der beide Seiten auf eine Auseinandersetzung vorbereitet waren. Für die Deutschen war damit Landesverteidigung identisch mit der Verteidigung des Bündnisgebiets.
„Kollektive Verteidigung“ auch außerhalb deutschen Territoriums
Für andere Alliierte wie die USA, aber auch Frankreich oder Großbritannien sah das damals anders aus: Schon immer bedeutete für sie Verteidigung der NATO einen Einsatz zuerst außerhalb des eigenen Territoriums. Und das gilt nun auch für Deutschland: Die „kollektive Verteidigung“ ist nun eine Aufgabe, die auch für die Bundeswehr außerhalb des deutschen Territoriums gefordert ist – schon mit Übungen oder sichtbarer Präsenz in den weiter östlich liegenden NATO-Staaten.
5.200 Soldaten allein des Heeres, kündigte Heereschef Kasdorf an, sollen in diesem Jahr zu Manövern nach Osten verlegt werden. Zum Teil sind es nur kleine Kontingente von weniger als hundert Männern und Frauen, die sich an Übungen im Baltikum beteiligen. Aber für drei Kompanien der Jäger- und der Fallschirmjägertruppe steht auch ein drei Monate dauernder Manövereinsatz in Estland, Litauen und Polen auf dem Programm – mit Trainingsaufenthalten wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Auch Oberstleutnant Behrenz’ Truppe wird im Frühjahr erst einmal die schnelle Verlegung auf den Truppenübungsplatz Munster in Niedersachsen durchexerzieren, ehe ein Teil seines Feuerwehrverbandes nach Polen weitermarschiert.
Andere NATO-Staaten wie Großbritannien und selbst Kanada zeigen ebenfalls Flagge im NATO-Osten. Doch am sichtbarsten ist das große Bündnismitglied USA. Eine komplette Kampfbrigade, etliche tausend Mann, lassen die US-Streitkräfte durch Osteuropa rotieren – und nutzen dafür, wie früher, Deutschland als Aufmarschbasis. Die Zahl der amerikanischen Soldaten, die ständig in Deutschland stationiert sind, ist zwar in den vergangenen Jahren auf etwa ein Zehntel der Stärke des Kalten Krieges geschrumpft, die letzten ständig in Deutschland bereit gehaltenen Kampfpanzer hatte die U.S. Army vor zwei Jahren endgültig in die Heimat verschifft. Jetzt kehrt ein Teil dieser großen Waffen zurück nach Europa. Und nicht nur in die baltischen Staaten, wo sie der Truppe als Übungsgerät dienen, sondern auch nach Deutschland.
Bundestags-Vizepräsident schlug öffentlich Alarm
Ins deutsche Bewusstsein sickert das nur langsam. Anfang März schlug Bundestags-Vizepräsident Johannes Singhammer öffentlich Alarm. 800 Ketten- und Radfahrzeuge bringe die US-Armee nach Deutschland, gab der CSU-Politiker eine Information an die Medien weiter, die er von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen per Brief bekommen hatte. Dabei waren die Details längst öffentlich mitgeteilt worden – in einer vom Bundestag veröffentlichten Regierungsantwort auf eine Oppositionsanfrage im Februar. Zwölf Erdkampfflugzeuge vom Typ A10, Spitzname ’Warzenschwein“, und das komplette Material einer Kampfbrigade werden vorübergehend in Deutschland stationiert: „Der gegenüber der Bundesregierung dargelegte Grund der Vereinigten Staaten von Amerika für diese Maßnahmen ist, die Bereitschaft zu unterstreichen, einen Beitrag für die transatlantische Solidarität und Sicherheit Europas zu leisten.“
Ein wesentlicher Teil der Übungen von US-Truppen und osteuropäischen Ländern findet allerdings ohnehin in Deutschland statt. Auf dem bayerischen Truppenübungsplatz Grafenwöhr trainieren Balten, Polen, Rumänen und Bulgaren, aber auch Bundeswehrsoldaten längst den gemeinsamen Einsatz. Auch das weitgehend, ohne dass es in der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen würde.
Die Amerikaner selbst hatten aus ihrem Truppenaufmarsch in Europa allerdings schon seit einem Jahr kein Geheimnis gemacht. „Atlantic Resolve“, atlantische Entschlossenheit, nannte Washington bereits im Frühjahr 2014 seine „Demonstration unseres anhaltenden Bekenntnisses zur kollektiven Sicherheit der NATO und zu Frieden und Stabilität in der Region, insbesondere im Hinblick auf die russische Intervention in der Ukraine. … die Operation Atlantic Resolve wird fortgesetzt, so lange es die Notwendigkeit gibt, unsere Verbündeten des Rückhalts [der NATO] zu versichern und Russland von regionaler Vorherrschaft abzuschrecken“.
Dazu gehören auch militärisch wenig bedeutsame, dafür um so symbolischere Aktionen. Am 24. Februar, dem estnischen Unabhängigkeitstag, fuhren amerikanische Stryker-Schützenpanzer in Estlands östlichster Stadt Narva direkt an der russischen Grenze auf. Die Bilder der Kampfmaschinen mit US-Flagge gingen um die Welt. In der öffentlichen Wahrnehmung ging völlig unter, dass die US-Truppen mit vier Schützenpanzern nur ein sehr kleines Kontingent in diesem Aufmarsch stellten und andere NATO-Länder wie die Niederlande oder Spanien ebenfalls in Sichtweite der russischen Grenzposten paradierten: Holländische Schützenpanzer haben nicht den gleichen Symbolwert. Um die sichtbare Demonstration hatten die Esten ausdrücklich gebeten.
Überwiegend symbolischen Wert hat auch eine andere Aktion: Von Manövern in Osteuropa sollen US-Truppen demnächst nicht wie üblich mit ihrem Gerät per Bahntransport in ihre Garnison im bayerischen Vilseck zurückkehren. Sondern in einem demonstrativen Landmarsch quer durch Polen und Tschechien, fast 2.000 Kilometer – wenn auch mit dem erklärten Ziel, eine solche Verlegung über die Straßen mehrerer europäischer Länder und die damit verbundene Bürokratie in der Praxis zu üben. „Dragonerritt“, Dragoon Ride, nennt die US-Armee in Europa die Operation. Dass in Radio- und Fernsehberichten aus dem englischen „dragoon ride“ sehr schnell der „dragon ride“, der Drachenritt, wurde, war eine vielleicht nicht unbeabsichtigte Nebenwirkung.
Das demonstrative US-Engagement ist durchaus im Sinne der osteuropäischen NATO-Staaten, die als ehemalige Ostblockländer und Russland-Nachbarn so viele Zeichen militärischer Abschreckungskraft wünschen wie nur vorstellbar, und dabei vor allem auf die nordatlantische Allianz und die Unterstützung der USA setzen. In diesen Ländern stößt deshalb die Initiative für eine Europa-Armee, wie sie EU-Kommissionspräsident Claude Juncker Anfang März erneut in die politische Debatte einbrachte, auf wenig Gegenliebe.
Juncker hatte seinen Vorstoß in einem Interview der „Welt am Sonntag“ mit der gewünschten auch sicherheitspolitischen Kompetenz der EU begründet: „Eine solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und gemeinsam die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen.“ Europa könnte so „glaubwürdig auf eine Bedrohung des Friedens in einem Mitgliedsland oder in einem EU-Nachbarland reagieren“.
Gemeinsame europäische Streitkräfte unter wessen Kommando?
Nun ist die Vorstellung gemeinsamer europäischer Streitkräfte fast so alt wie die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg, bislang aber vor allem immer an einer Klippe gescheitert: Kaum eine europäische Regierung war und ist dazu bereit, auf die souveräne Entscheidung über den Einsatz von Streitkräften zu verzichten und damit eine über-staatliche europäische Institution zu beauftragen.
Zwar gab und gibt es zunehmend Kooperationen zwischen den Armeen einzelner Staaten. Am weitestgehenden zum Beispiel die Unterstellung einer niederländischen Luftlandebrigade unter ein Divisionskommando der Bundeswehr im vergangenen Jahr, und Verteidigungsministerin von der Leyen wie Heeresinspekteur Kasdorf überlegten öffentlich, ein deutsches Bataillon polnischem Kommando zu unterstellen (und umgekehrt). Wenn es zu einem konkreten Einsatz kommt, mag allerdings kein Land den Einsatzbefehl aus der Hand geben. Ohne gemeinsam akzeptierte politische Entscheidungsmechanismen wird eine Europa-Armee kaum Wirklichkeit – deshalb ist das keine militärische, sondern vor allem eine politische Frage in einem Europa, das sich schon mit den Langzeitfolgen einer gemeinsamen Währung schwer tut.
Die komplizierten Entscheidungswege über den Nationalstaat hinaus sind schon in der NATO, die damit seit mehr als 65 Jahren Erfahrung hat, nicht unproblematisch. Das gilt auch für Oberstleutnant Behrenz und seine superschnelle Eingreiftruppe. Die soll zwar in fünf Tagen abmarschbereit sein – doch wie der Marschbefehl beschlossen wird, ist im Bündnis noch längst nicht im Detail geklärt. Darf der NATO-Oberbefehlshaber, immer ein amerikanischer General, diese Truppe innerhalb des Bündnisgebiets per Order verlegen? Oder braucht er schon für die Verlegung nicht nur die politische Erlaubnis aller Mitgliedsstaaten – und vielleicht für bestimmte Länder, darunter Deutschland, die Zustimmung des nationalen Parlaments? Da ist noch mehr zu regeln als die Frage, wo Oberstleutnant Behrenz das Gerät für seine „Speerspitze“ zusammenbekommt.
Aufmacherbild: Panzergrenadiere des „Deutschen Gefechtsverbands NATO Response Force“ in Marienberg - Foto: Thomas Wiegold
Transparenzerklärung von Thomas Wiegold:
Ich wirke drei- bis viermal im Jahr an Seminaren der Bundeswehr (Führungsakademie und Akademie für Information und Kommunikation) sowie der Bundesakademie für Sicherheitspolitik mit. Dabei geht es vor allem um Militär und Social Media sowie das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Medien, i.d.R. in Vorträgen. Gelegentlich verfasse ich Gastkommentare in Firmenzeitschriften (Corporate Publishing) sowie Fachbeiträge zur Sicherheitspolitik (Corporate Publishing).