Es regnet feine Tropfen. „Ich habe keine Ahnung, wo das herkommt“, sagt Alex Porter und blickt ungläubig in den wolkenlosen Himmel. Die nassen Straßen in Edinburghs Regierungsviertel reflektieren die Morgensonne. Minuten später hat der Regen aufgehört, dafür bläst ein starker Wind vom Hausberg Arthur’s Seat herunter. Mit beiden Händen zieht Porter die schwarze Vliesmütze tiefer ins Gesicht.
Porter, Mitte vierzig, Journalist. Er schreibt für das Onlinemagazin „Scottish Times“, meist über Politik. Im Moment steht er vor dem geschwungenen Granitbau des Schottischen Parlaments. Der Gebäudekomplex wird oft „Holyrood“ genannt, nach dem Stadtteil, in dem er steht. Er wurde erst 2004 eröffnet, nachdem Schottland im Referendum von 1997 erfolgreich ein Regionalparlament eingefordert hatte. Die moderne Architektur greift Motive schottischer Kultur wie das Andreaskreuz auf. Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass der Architekt des schottischen Parlaments, Enric Miralles, aus Barcelona stammte – der Hauptstadt Kataloniens, das seinerseits für eine Loslösung von Spanien kämpft. Auch die Spanier hatten vor sechs Monaten besorgt nach Schottland geblickt, wo die Bürger dann aber mit 55-prozentiger Mehrheit bestimmten: Holyrood soll auch weiterhin nur ein Regionalparlament bleiben.
„Oft gab es keine ernsthafte Debatte darüber, was man mit der Unabhängigkeit erreichen wollte, es war mehr eine Art Manifest“, sagt Porter. „Ich glaube, viele Leute hatten wenig Ahnung, was die Unabhängigkeit genau bedeuten würde.“ Gleichzeitig gebe es jedoch viele, die sich seitdem stärker politisch engagierten.
Am 7. Mai wählt Großbritannien ein neues Parlament. Seit der letzten Wahl 2010 haben sich die politischen Verhältnisse in Schottland und somit im gesamten Königreich stark verändert: Die Scottish National Party (SNP) regiert seit 2011 alleine in Holyrood, auf ihr Wirken hin wurde am 18. September 2014 die Frage gestellt, ob Schottland ein unabhängiges Land werden solle. Das Referendum verfehlte mit rund 55 Prozent Nein-Stimmen sein Ziel. Ein halbes Jahr danach zeigt sich: Die Niederlage hat dem Ansehen der SNP nicht geschadet – im Gegenteil: Sechs Monate später sind die Sezessionisten unangefochten die treibende politische Kraft in Schottland. Die SNP ist von 25.000 auf über 93.000 Mitglieder gewachsen.
„Das wird ein großer Schreck für sie alle: Labour, Konservative und Lib Dems“, sagt mir eine alte Dame vor einem Einkaufszentrum in Edinburgh. „Der Wandel kommt“, sagt sie und fügt lachend hinzu: „Ich bin sehr schottisch!“ Die meisten Menschen, mit denen ich in der Hauptstadt rede, sind jedoch zufrieden mit dem Ausgang des Referendums. „Der Ölpreis ist zusammengebrochen, vielleicht merken die Leute, dass das nicht der richtige Weg war“, sagt ein Mann.
In Edinburgh hatten 61 Prozent die schottische Unabhängigkeit abgelehnt. Sie sind froh, dass vor dem Parlamentsgebäude in Holyrood neben den Flaggen Schottlands und der EU auch weiterhin der Union Jack gehisst wird.
Audioaufnahmen von Menschen, die ich in Edinburgh gesprochen habe, gibt es zum Nachhören rechts in den Anmerkungen – für eingeloggte Mitglieder
Dundee - In der Hauptstadt des „Yes“
Die blau-weiße schottische Nationalflagge auf dem Turm der St. Mary’s Church behauptet sich im Westwind. Sonnenlicht hebt sie ab vom dunkelgrauen Wolkenhintergrund. Bald wird sich der nächste Schauer auf die City of Dundee ergießen. Die viertgrößte Stadt Schottlands kannte man über einige Jahre vor allem aus Kriminalitäts- und Drogenstatistiken. Seit September trägt sie einen neuen Titel: Dundee ist „Capital of Yes“. Hier stimmten 57,35 Prozent der Wähler für die schottische Unabhängigkeit; so viel wie in keinem anderen Bezirk.
Dundee ist eine verhältnismäßig junge Stadt: Etwa jeder siebte der knapp 150.000 Einwohner ist an einer der beiden Universitäten eingeschrieben. Xenia Bäder lebt in einer gemütlichen WG in einem großen Backstein-Mietshaus im Hafen der Stadt. Sie kommt aus der Nähe von Stuttgart und studiert seit knapp drei Jahren Psychologie in Dundee. Zum Referendum waren auch EU-Bürger mit ständigem Wohnsitz in Schottland zugelassen – Xenia Bäder durfte mitwählen. „Es war eine unglaublich spannende Zeit“, sagt sie über den Herbst 2014.
Ein knappes halbes Jahr später ist das Logo der Yes-Kampagne noch überall in Dundee zu sehen: Als Sticker auf einem Auto, als Plakat in einem Fenster, als Fahne in einem Vorgarten. Ein Anwohner kurz vor Dudhope Castle hat YES in weißen, meterhohen Lettern an seinen Zaun gepinselt. Ich unterhalte mich mit Passanten in der zentralen Fußgängerzone, der High Street – die meisten sind nicht gerade euphorisch. Ein junger Mann eröffnet mir: „Ich wähle für gar nichts mehr, weil ich keinen Sinn darin sehe. Was die Menschen wirklich wollen, wird doch nicht gehört.“
„Ich habe mit Ja gestimmt, und es ist trotzdem noch alles wie immer“, klagt eine ältere Frau. Andere sind froh mit genau diesem Ausgang des Referendums. Unabhängig von ihrer Wahlentscheidung eint die meisten Menschen, mit denen ich in Dundee rede, eine gewisse Frustration. Ein Mann mittleren Alters kommt auf mich zu; im Gespräch erzählt er mir: „Die Menschen haben das politische System satt.“ Ich frage ihn, ob er glaubt, dass es in überschaubarer Zukunft ein weiteres Referendum gebe. „Hoffentlich. Wenn sie eines machen, haben sie meine Stimme.“
Audioaufnahmen von Menschen, die ich in Dundee gesprochen habe, gibt es zum Nachhören rechts in den Anmerkungen – für eingeloggte Mitglieder
Auch am Abend weht in Dundee noch der gleiche schneidende Wind – es ist so stürmisch, dass der Mann hinter dem Bahnhofsschalter am liebsten noch keine Zugtickets für den nächsten Tag verkaufen möchte. „Wissen Sie, bei dem Wind kann es passieren, dass die Brücke gesperrt wird.“ Am nächsten Morgen hat sich der Sturm gelegt.
Ein Schritt Richtung Unabhängigkeit
In Glasgow schaut zwischen zwei Regenschauern der Frühling vorbei. Einige Fußgänger in der belebten Buchanan Street tragen schon Sonnenbrillen, T-Shirts oder bauchfreie Tops; die meisten tragen Einkaufstaschen. Straßenmusiker beschallen die lang gestreckte, L-förmige Fußgängerzone mit ihren Interpretationen bekannter Songs von Bastille, Oasis und Guns N’ Roses.
Glasgow ist mit seinen knapp 600.000 Einwohnern die größte Stadt Schottlands und nach der Abstimmung im September auch weiterhin die drittgrößte Stadt Großbritanniens. Hier in der Buchanan Street fühlt sich das Vereinigte Königreich jedoch so weit weg an wie nirgends sonst auf meiner Reise. „Jeder unterstützt jetzt die SNP“, sagt eine Frau, die mit ihrer Tochter unterwegs ist. „Hoffentlich können wir es nochmal machen“, sagt sie mit Blick auf das Referendum. „Obwohl wir die Wahl verloren haben, haben wir in Bezug aufs Volk gewonnen“, sagt mir ein junger Mann. „Das wird einen großen Einfluss auf die Unterhauswahl haben, weil viele Yes-Wähler das durchsetzen wollen, was sie für richtig erachten.“ Die Glaswegians, wie sich die Einwohner der Stadt selbst nennen, reden nicht von einer vertanen Chance, sondern von einem weiteren Schritt auf dem Weg in Richtung Unabhängigkeit. Eine junge Engländerin, die mit zwei Freundinnen in Glasgow ist, sagt: „Ich bin für die schottische Unabhängigkeit.“ Scherzend fügt sie hinzu: „Sie könnten mich dafür aus dem Land werfen, aber das ist okay.“
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Schottland und die Atombombe
Glasgow war mit 53,5 Prozent im Referendum neben Dundee eine zweite Hauptstadt der Unabhängigkeitsbewegung. Aber viele Menschen scheinen hier vollkommen anders mit dem Ergebnis des Referendums umzugehen. In Glasgow herrscht Aufbruchstimmung – viele wollen ihren Beitrag dazu leisten, dass ihre Vision auch außerhalb der Stadtgrenzen mehrheitsfähig wird. Nicht nur die Yes-Parteien, sondern auch die unterschiedlichsten Gruppierungen verzeichnen große Zuwächse. Die „Scottish Campaign for Nuclear Disarmament“ (SCND) wuchs nach eigenen Angaben in den ersten Tagen nach dem Referendum um 600 neue Mitglieder an. Die Gruppierung kämpft in erster Linie für den Abzug sämtlicher britischer Atomwaffen aus Schottland – ein Ziel, das eng mit der schottischen Unabhängigkeit verknüpft ist.
John Ainslie ist hauptamtlicher Koordinator der Aktivistengruppe. Er hat eine Erklärung für den konstruktiven Aktivismus, den viele seiner Bekannten nach dem Referendum entwickelt haben: „Ich glaube, der Grund dafür ist die Natur der Unabhängigkeitskampagne: Wir haben viel auf der Straße geworben, es war eine sehr dynamische, bewegte und aufregende Zeit. Und obwohl die Kampagne ihr Ziel nicht erreichte, bleibt das Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein, die die Dinge verändern kann.“ Ainslie und seine Kollegen arbeiten bereits an den nächsten Kampagnen: 2016 will Westminster über den Bau von vier neuen U-Booten entscheiden; 2019 über das Atomwaffensystem, das sie mit sich führen sollen. (Ein Video-Interview mit John Ainslie in englischer Sprache gibt es rechts in den Anmerkungen – für eingeloggte Mitglieder)
Aus Sicht der SCND ist daher die anstehende Unterhauswahl von großer Bedeutung. „Ein Großteil der medialen Agenda wird in London bestimmt – wenn die SNP also in Westminster stark an Gewicht gewinnt, wird diese politische Geschichte dauerhaft weitergeschrieben“, hofft John Ainslie. Der Höhenflug der Scottish National Party fällt hier im zentralen Westen Schottlands noch einmal deutlicher aus als in anderen Landesteilen: Alleine in der Region Glasgow stieg die Anzahl der SNP-Mitglieder binnen vier Wochen nach dem Referendum von 1.500 auf 9.000.
Der Kampf für das Gemeinwohl
Eine Organisation, die sich erst nach dem Referendum formell gegründet hat, um den Aktivismus der Menschen aufzufangen, ist The Common Weal. Der Name beruht auf einem alten schottischen Begriff, der das Gemeinwohl der einfachen Leute bezeichnet. Die Organisation sieht sich als Think Tank links der Mitte. „Vielleicht sind wir eher ein Think-and-Do-Tank, weil wir auch gemeinschaftlichen Raum erschaffen“, erklärt Isobel Lindsay. Sie ist Vorstandsmitglied des Common Weal in Glasgow.
Die Verlierer des Referendums sind die Gewinner, und die Gewinner sind die eigentlichen Verlierer.
Isobel Lindsay
Für Isobel Lindsay war es nach 1979 und 1997 das dritte Schottland-Referendum, in dem sie sich engagiert hat. 1979 scheiterte das Begehren für ein regionales Parlament an der geringen Wahlbeteiligung, im zweiten Anlauf 1997 erreichten die Schotten die notwendige Zustimmung. Gerade deshalb sieht Lindsay auch das Referendum von 2014 – an dem sich beachtliche 84,6 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten – als Bestandteil eines unaufhaltsamen Prozesses. „Wir hatten nur 45 Prozent Ja-Stimmen beim Referendum, aber ich glaube, weitere zehn Prozent dachten sich ‚Ja, vielleicht’ oder ‚Ja, vielleicht etwas später’. “
Die Sonne scheint auf die Säule in der Mitte des George Square, als Isobel Lindsay sagt: „Das Referendum hat Hoffnung und Interesse geweckt, jetzt wollen die Menschen in Schottland über Politik reden. Die Menschen werden hineingezogen: Sie debattieren in den Pubs, in den Büros, in den Fabriken, auf der Straße.“ Umfragen von YouGov sahen bereits kurz nach dem Referendum beide Lager wieder gleichauf, zeitweilig gab es gar eine erneute Mehrheit für die Unabhängigkeit. Es ist Frühling in Schottland – nicht nur meteorologisch, sondern auch politisch.
Aufmacherbild: Ein Gartenzaun in Dundee trägt die unübersehbare Aufschrift „Yes“, davor wachsen Schneeglöckchen. (Foto: David Ehl)
„Wie Schottland weiter von Unabhängigkeit träumt“ ist ein Teil des Themenschwerpunkts „Highland Games: Schottland zwischen Referendum und Unterhauswahl“. Eine Analyse zur schottischen Parteienlandschaft lesen Sie hier.