Als Ruth Kolian an einem Dienstag im Januar in Tel Aviv die Revolution ankündigt, tut sie das lieber im kleinen Rahmen. Sie weiß, dass das, was sie zu sagen hat, eigentlich unerhört ist; es widerspricht allem, was man ihr über die Rolle der Frau beigebracht hat. Es kann ihren sozialen Tod in der Gemeinde bedeuten, sie kann exkommuniziert werden, die Zukunft ihrer Kinder steht auf dem Spiel. Entsprechend nervös wirkt die 33-Jährige, als sie vorne steht und einem kleinen Publikum aus Journalisten und Unterstützern die Gründung von Be’sechutan bekannt gibt, einer Partei, die sich für ultra-orthodoxe Jüdinnen einsetzen will.
„Jahrelang haben wir gesehen, wie Frauen in den Hintergrund gedrängt wurden und nicht die gleichen Möglichkeiten hatten - einfach, weil sie Frauen waren. Wir haben uns entschieden, nicht mehr bloß zuzusehen“, sagt sie. Kolian hat Jura studiert, man merkt, dass sie weiß, wie man eine Rede hält. Je länger sie spricht, desto mehr kommt sie in Fahrt: „Politiker reden heute über die schwächeren und die unsichtbaren Teile der Gesellschaft. Nun – wir sind die Sklaven, wir sind die Unsichtbaren, wir sind der schwache Teil!“
Das gab es in der Geschichte Israels noch nie: Dass im Wahlkampf eine ultraorthodoxe Partei antritt, auf deren Liste Frauen stehen.
In der Politik tauchen von den „Haredim“, wie Ultraorthodoxe in Israel heißen, und zu denen etwa ein Zehntel der Bevölkerung gehört, eigentlich nur Männer auf. Ultraorthodoxe Frauen haben in der Öffentlichkeit keinen Platz, sie sind für Haushalt und ihre oft großen Familien zuständig. Dazu gehört noch mehr als Kochen, Wäschewaschen, Kinder erziehen. Viele haben außerdem noch einen Job, weil ihre Männer sich tagsüber religiösen Studien widmen. Die Familien sind oft arm, da die Frauen lächerlich wenig verdienen. Weil sie häufig ungebildet sind, Medien meiden und gar nicht wissen, was ihnen eigentlich an Gehalt zustehen müsste. Oder weil sie froh sind, überhaupt Arbeit zu haben. Eine politische Stimme haben sie nicht, denn die bereits vorhandenen ultraorthodoxen Parteien erlauben keine Frauen auf ihren Listen. Natürlich sollen sie eigentlich auch die Interessen der Frauen vertreten. Genau das, meint Kolian, täten sie aber nicht.
Ihr Schlüsselmoment, sagte sie in einer Pressekonferenz mit ausländischen Korrespondenten, war der Moment, in dem ihr klar wurde, dass kein einziger Haredi-Politiker an den parlamentarischen Diskussionen über Brustkrebs teilnahm, obwohl Haredi-Frauen besonders oft davon betroffen sind. Der Grund ist absurd: Das Thema gilt als unzüchtig – eben weil es um Brüste geht. Dass „ihre“ Politiker im Parlament dieses Thema einfach ignorierten, war, sagt Kolian, „wie ein Schlag in den Bauch“. Ihr wurde klar, dass diese Männer sie nicht vertreten konnten. Es war der Moment, in dem eine ultraorthodoxe Feministin aus ihr wurde.
Schachzug der arabisch-dominierten Parteien
Ihre Partei ist aber nicht die einzige überraschende Gründung in diesem Wahlkampf. Es gibt noch ein weiteres Beispiel für plötzliche Bewegung am gesellschaftlichen Rand. Eines, das noch größere Wellen schlägt. Zwei Tage, nachdem Kolian in Tel Aviv ihren Auftritt hatte, konnte man in der Abu Maher Halle in Nazareth ein Bild sehen, das wenige Monate vorher ebenfalls niemand für möglich gehalten hätte: Einträchtig saßen dort die Führer der vier arabisch-dominierten Parteien Israels nebeneinander und verkündeten eine Gemeinsame Liste.
Dieser Schachzug war aus zwei Gründen spektakulär: Erstens, weil die Parteien eigentlich ganz verschiedene politische Richtungen vertreten. Hier verkündeten Nationalisten, Islamisten, Feministen und Kommunisten eine gemeinsame Kandidatur. Zweitens war der Zusammenschluss eine Reaktion auf ein Gesetz von 2014, dass die arabischen Parteien eigentlich empfindlich hätte schwächen müssen. Das Gesetz hob die Prozenthürde für Parteien, die ins Parlament einziehen wollten, von zwei auf 3,25 Prozent an, das entspricht etwa 4 Sitzen (von insgesamt 120). Die neue Regelung wurde damit begründet, dass in der Vergangenheit sehr kleine Fraktionen dank der alten Regelung in Koalitionen unverhältnismäßig viel Einfluss auf die Regierungsarbeit gehabt hätten. Weil die Initiative aber von der extremen Rechten ausging, wird vermutet, dass noch ein anderer Gedanke dahinter steckte: Die arabischen Parteien, die normalerweise drei bis vier Sitze gewinnen, wären mit der neuen Regelung de facto aus der Knesset ausgeschlossen worden.
Diese düstere Aussicht reichte den arabischen Leitfiguren, um politische Differenzen beiseite zu legen. Im Gegensatz zu Kolians kleiner Veranstaltung erklärten sie ihren Zusammenschluss vor tausenden von Menschen. Die Stimmung im Saal soll euphorisch gewesen sein.
Deutlich weniger gefreut haben dürfte sich der nationalkonservative israelische Außenminister Avigdor Lieberman, der es für eine praktikable Lösung hält, israelische Araber in die Westbank umzusiedeln, und der auch die 3,25-Prozent-Hürde vorangetrieben hat. In einer TV-Debatte saß er dann bald nach der Gründungsveranstaltung der Gemeinsamen Liste ihrem Vorsitzenden Ayman Odeh gegenüber. Über die gesamte Sendezeit hinweg ging Liebermann Odeh immer wieder hart an: Er sei „in Israel nicht erwünscht“, giftete er. Die Tatsache, dass der Araber wie er selbst einen israelischen Pass besitzt, störte ihn dabei nicht. Odeh reagierte ruhig: „Wir werden 15 Sitze bekommen. Ich bin in meinem Heimatland sehr erwünscht.“ Diese Zahl ist, wenn man sich die Anteile aller vier Parteien in früheren Wahlen ansieht, nicht unrealistisch. Sie liegt außerdem deutlich höher als das, was Liebermans eigener Partei Israel Beitenu vorhergesagt wird. Man muss sich diese Verhältnisse einmal klarmachen: Der Partei von Netanjahu werden 24 Sitze prognostiziert. Die arabische Liste könnte zur drittgrößten Kraft im Parlament werden.Was dann passiert, weiß keiner.
Diese Zahlen wird Kolian nicht erreichen. Sie spricht von fünf Sitzen, aber sie kann von Glück sagen, wenn Be’sechutan überhaupt ins Parlament einzieht. Die Frauen, die sie primär wählen sollen, sind schwer zu erreichen, weil ultraorthodoxe Juden oft weder Fernsehen noch Internet nutzen. Außerdem hat Kolians Zielgruppe benachteiligter Frauen ja kein Geld, um sie zu unterstützen. Die Crowdfunding-Kampagne, von der Be’sechutan sich finanzielle Unterstützung erhofft, läuft nur sehr schleppend. Und schließlich hören ultraorthodoxe Frauen tendenziell auf das, was ihre Rabbis sagen. Und die gehen Kolian teils hart an. Als sie in einer Radiosendung über das Leid und soziale Stigma orthodoxer Frauen sprach, deren Männer ihnen die Scheidung verweigern, antwortete Dov Halbertal, ein prominenter ultra-orthodoxer Rabbi und Anwalt, dass sie sich hüten solle. „Ich sage es dir ganz persönlich: Denk noch einmal darüber nach, was du deiner Familie und dir selbst antust.“
Keine hartgesottene Politikerin
Kolian hat natürlich nachgedacht. Sie hat Glück, ihr Mann lässt sie mit der Verantwortung für Haushalt und die vier Kinder nicht allein, er arbeitet in Vollzeit. Und er unterstützt ihren politischen Weg. Aber ob er dem Druck der Gemeinde standhalten wird, ist ungewiss. Kolian ist keine hartgesottene Politikern, sie gibt zu, dass ihr die Drohungen, die sie bekommt, Angst machen. Aber es macht sie auch wütend. Bei ihren Auftritten nimmt sie eine „Hier stehe ich und kann nicht anders“-Haltung ein.
Dabei kämpft sie an mehreren Fronten: Am Freitag erst gewann sie einen Prozess gegen ultraorthodoxe Zeitungen, die sich geweigert hatten, ihre Wahlwerbung zu drucken.
„Wir werden weiter machen, egal, wieviel Druck man auf uns ausübt“, sagt Gila Yashar, die ebenfalls für Be’sechutan kandidiert. „Es geht nicht anders. Die Männer kümmern sich einfach nicht um die Probleme ihrer Frauen und Kinder. Viele von uns wissen nicht, wie sie ihre nächste Miete bezahlen sollen oder die Stromrechnung, wir stehen vor leeren Kühlschränken. Und was mit uns bei Scheidungen gemacht wird, ist unsäglich.”
Yashar weiß, wovon sie spricht. Ihr Fall machte Schlagzeilen, weil die siebenfache Mutter von einem rabbinischen Richter ins Gefängnis geschickt wurde, nachdem sie eine Scheidung ohne Anwalt verweigert hatte. „Ich schäme mich dafür, obwohl es nicht meine Schuld war. Aber ich muss darüber sprechen, um anderen Frauen, denen es genau so ergeht, eine Stimme zu geben.“
Be’sechutan, sagt sie_,_ werde sich aber nicht nur für die Rechte ultraorthodoxer, sondern aller Frauen in Israel einsetzen. Es gehe um Themen, die nicht nur das ultraorthodoxe Segment, sondern die ganze Gesellschaft betreffen: Männer und Frauen würden nicht gleichwertig bezahlt, Kinderbetreuung sei zu teuer, es gebe nicht genug Frauen in Schlüsselpositionen, die Scheidung nach religiösem Recht benachteilige die Frauen. Viele diese Punkte würden übrigens nicht nur für jüdische Israelis gelten, betont Yashar: „Wir kämpfen auch für die Rechte arabischer Frauen.“
Die allerdings haben nicht unbedingt auf Be’sechutan gewartet. Aida Touma-Sliman, Nummer 5 auf der Gemeinsamen Liste, klingt ein bisschen gönnerhaft, wenn sie über die politische Reife der ultraorthodoxen Frauen spricht. “Sie kandidieren mit einer sehr kleinen Liste, und sie reden nie über die politischen Probleme in Israel, sondern immer nur die Probleme der Frauen. Aber jeder muss irgendwo mal anfangen”, sagt sie. Dennoch hat sie Respekt für Kolian, die sie bei einer Diskussionsveranstaltung kennengelernt hat. “Sie ist eine große Kämpferin. Es ist nicht einfach, in einer religiösen Gemeinde für Frauenrechte einzustehen.”
Touma-Sliman weiß das, sie ist selbst Feministin. Zur Zeit ist sie extrem beschäftigt. Wenn man sie sprechen will, nimmt sie das Gespräch entgegen, während sie mit dem Auto von einer Wahlkampfveranstaltung zur nächsten fährt. „Es hat eine Weile gedauert, bis wir mit der Kampagne anfangen konnten, wir mussten uns erst kennenlernen. Aber es läuft jetzt“, ruft sie über das Knistern der schlechten Verbindung hinweg.
Es ist an der Zeit, dass die Gemeinsame Liste in die Gänge kommt, denn nachdem der Zusammenschluss verkündet war, machte die Euphorie erst einmal großer Verwirrung breit. Niemand wusste, wofür der ideologische Mischmasch dieser Liste stehen sollte – auch die beteiligten Politiker nicht. Wie das nach der Wahl funktionieren soll, wie also zum Beispiel eine Feministin wie Touma-Sliman mit einer islamisch-religiösen Partei auf einen Nenner kommen soll – für diese Fragen ist jetzt keine Zeit, findet sie. Man müsse, sagt sie, für den Moment die Differenzen beiseite schieben und sich auf die Gemeinsamkeiten besinnen, etwas anderes könnten die israelischen Araber sich auch gar nicht leisten. „Zur Zeit ist unser Ziel vor allem, die Leute zum Wählen zu kriegen.“
Das ist kein kleines Problem. Bei den letzten Wahlen zeigten sich die arabischen Israelis politikverdrossen, nur etwas mehr als die Hälfte gaben ihre Stimme ab. Aber der Zusammenschluss ist ein Signal, das Wirkung zeigt. Der Politikwissenschaftler Mtanes Shihadeh, der für das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut Mada al-Carmel Wahlprognosen erstellt, geht davon aus, dass diesmal bis zu 75 Prozent der arabischen Israelis wählen gehen werden. Etwa 85 Prozent werden für die Gemeinsame Liste stimmen.
Touma-Sliman reicht das nicht. Sie hofft, dass sie auch Stimmen von jüdischen Wählern bekommen werden. „Wir sind keine arabische Liste“, betont sie. „Wir sind eine arabisch-jüdische Liste.“ Tatsächlich stehen auch jüdische Politiker für die Gemeinsame Liste zur Wahl, da Hadash, eine der teilnehmenden Parteien, aus jüdischen und arabischen Mitgliedern besteht.
Ob das passieren wird, ist fraglich. Zum einen werden selbst linksgerichtete jüdische Wähler mit einem Bündnis Schwierigkeiten haben, zu dem eine Partei gehört, die, wie eine ehemalige Führungsfigur des israelischen Geheimdienstes in der Zeitung „Haaretz“ schrieb, sich ideologisch mit den Muslimbrüdern in Ägypten identifiziert. Wer die Gemeinsame Liste wählt, weiß außerdem, dass er seine Stimme nicht einer zukünftigen Regierungspartei, sondern der Opposition gibt. Denn die Gemeinsame Liste wird, das ist klar, mit keiner Partei koalieren, die Siedlungen baut, die Besatzung in den palästinensischen Gebieten aufrechterhält oder wieder Krieg in Gaza führen könnte. Damit ist de facto niemand übrig, mit dem sie eine Regierung bilden könnte.
Diesen Punkt lassen die arabischen Politiker im Wahlkampf aber lieber nicht heraushängen. Sie konzentrieren sich stattdessen auf ein Thema, das seit Jahren immer dringlicher wird und eine Menge Israelis, arabische wie jüdische, emotional bewegt: Soziale Gerechtigkeit.
Entscheidend, sagte der als Pragmatiker geltende Odeh im Fernsehen, sei nicht der Split zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung, sondern der zwischen Arm und Reich. In der TV-Debatte wandte er sich demonstrativ Arie Deri zu_,_ dem Vorsitzenden von Schas, einer der ultraorthodox-jüdischen Parteien, und schlug ihm Zusammenarbeit beim Kampf gegen Armut vor – ein Thema, das Ultraorthodoxe und Araber gleichermaßen betrifft.
Das ist weniger absurd, als es klingen mag: Schas hat in der Vergangenheit immer wieder Stimmen von arabischen Israelis bekommen, weil es Schnittstellen zwischen den Interessen gibt, bei Subventionen für Familien etwa - und Schas, im Gegensatz zu den arabischen Parteien, durch Koalitionen immerhin immer wieder Teil der Regierung wurde.
„Allianz der Benachteiligten“ gefordert
Deri reagierte in der TV-Debatte verhalten auf Odehs Vorschlag. Die Frauen von Be’sechutan wären vielleicht entgegenkommender gewesen, hätte man sie eingeladen. Odeh hat öffentlich eine „Allianz der Benachteiligten“ gefordert, die über Religions- und Parteigrenzen hinausgehen soll. Das klingt schon ähnlich wie das, was Be’sechutan will, wo man sich ja auch um „alle Frauen“ kümmern möchte. Es ist kein Zufall, dass Be’sechutan auch arabische Frauen als potenzielle Wähler sieht, dass die Gemeinsame Liste um jüdische Stimmen wirbt.
Besonders wahrscheinlich ist eine Zusammenarbeit trotzdem nicht. Böse Stimmen meinen, dass die Gemeinsame Liste in der realen politischen Arbeit sofort zusammenbrechen werde. Und Be’sechutan müsste überhaupt erst einmal den Sprung in die Knesset schaffen. Sollte den Frauen das gelingen, würde der Palästinenserkonflikt, der im Moment keine Rolle auf ihrer politischen Agenda spielt, wohl notgedrungen relevanter werden. Im Moment sprechen sie etwas naiv davon, dass der Konflikt sich quasi von selbst auflösen könnte, wenn die israelische Gesellschaft im Inneren harmonischer und gerechter würde.
Dennoch: Beide, Be’sechutan und die Gemeinsame Liste, sind Zeichen dafür, dass in der israelischen Gesellschaft etwas in Bewegung gekommen ist - etwas, das so einfach noch nie da war. Vor ein paar Monaten hätte noch niemand geglaubt, dass die arabisch dominierten Parteien sich zusammenschließen, und dass ausgerechnet ultraorthodoxe Jüdinnen den Aufstand proben würden. Egal, wie die politischen Konstellationen in der Knesset letztlich aussehen werden, beides sind Signale, die Wellen schlagen könnten, die über den Wahlkampf hinausgehen.
Gila Yashar jedenfalls meint, dass eine Zusammenarbeit mit den Arabern vielleicht wahrscheinlicher sei, als die mit den ultraorthodoxen Männern im Parlament. Auf die sei Ruth Kolian ziemlich sauer.
Aufmacherfoto: Ruth Kolian; Fotograf: Bruce Shaffer