Heute geht es um den Oscar für die Nawalny-Doku und warum Ukrainer:innen darüber gar nicht glücklich sind. Außerdem beantworte ich die Frage, was den russischen Angriff eigentlich von den amerikanischen Invasionen im Irak oder Afghanistan unterscheidet. Und wie immer bekommst du auch eine kleine Portion Hoffnung von mir. Solltest du diesen Newsletter zum ersten Mal lesen, kannst du ihn hier kostenlos abonnieren.
Was ist gerade wichtig?
Während Alexej Nawalny im Gefängnis sitzt, hat eine Dokumentation über ihn einen Oscar gewonnen. Nawalny ist der weltweit bekannteste Kremlkritiker. 2020 wurde er von Agenten des russischen Geheimdienstes FSB mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet und überlebte nur knapp. Von dem Giftanschlag erholte sich Nawalny mehrere Monate in Deutschland, in dieser Zeit drehte der kanadische Regisseur Daniel Roher eine Doku über ihn. Kurz danach kehrte Nawalny nach Russland zurück und wurde sofort verhaftet. Jetzt hat die Doku mit dem Titel „Nawalny“ eine der wichtigsten Auszeichnungen der Filmwelt erhalten – und Ukrainer:innen sind darüber ziemlich empört.
Warum kritisiert die Ukraine den Oscar für die Nawalny-Doku?
Für viele Ukrainer:innen ist Nawalny ein typisch scheinheiliger Russe, also einer, der zwar gegen den Krieg und Wladimir Putin ist, aber die eigene Verantwortung ignoriert. Viele Ukrainer:innen kritisieren den russischen Imperialismus und lehnen die Vorstellung ab, dass Russ:innen und Ukrainer:innen „ein Volk“ seien. Nawalny sagte aber genau das im Jahr 2012 und distanzierte sich nie davon. Besonders übel nehmen die Ukrainer:innen Nawalny auch, dass er nach der Annexion der Krim 2014 sagte, die Krim sei „de facto russisch“ und außerdem kein „Sandwich“, das man einfach wieder zurückgeben könne.
Bei der Oscar-Verleihung stand die Familie von Alexej Nawalny auf der Bühne: seine Frau Julija Nawalnaja und seine Kinder Daria und Zahar. Julija Nawalnaja sagte während der Zeremonie: „Mein Mann ist im Gefängnis, nur weil er die Wahrheit gesagt hat. Mein Mann ist im Gefängnis, nur weil er die Demokratie verteidigt hat.“ Kein Wort zur Ukraine, wo Russland gerade einen Angriffskrieg führt.
Und dann hat die Oscar-Akademie auch noch eine Anfrage von Wolodymyr Selenskyj abgelehnt, bei der Verleihung eine Rede zu halten. Nach Informationen der Zeitschrift Variety befürchtet Will Packer, Produzent der Show, dass Hollywood der Ukraine nur deshalb so viel Aufmerksamkeit schenkt, weil die von dem Konflikt betroffenen Menschen weiß sind. Dagegen ignoriere Hollywood andere Kriege auf der ganzen Welt, von denen Nicht-Weiße betroffen seien.
Noch dazu war in der gleichen Kategorie wie der Nawalny-Film eine Dokumentation über ein ukrainisches Kinderheim nominiert, in dem Kinder aus der Ostukraine Zuflucht vor dem Krieg finden. Statt der Ukraine bekomme also Russland die Aufmerksamkeit, ist die ukrainische Sicht.
Auf der anderen Seite muss man sagen: Nawalny setzt sein Leben aufs Spiel, um Putins Russland zu bekämpfen. Er hat die russische Opposition koordiniert, Korruption aufgedeckt, einen Giftanschlag überlebt und sitzt für viele Jahre im Gefängnis. Sein Gesundheitszustand ist schlecht. Das alles muss man anerkennen – und kann trotzdem Verständnis haben für die Kritik vieler Ukrainer:innen.
Die Frage der Woche
KR-Leser Klaus fragt: „Wo liegt der Unterschied zwischen dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und dem der Amerikaner im Irak oder in Afghanistan?“
Für die Antwort müssen wir eine kleine Zeitreise machen. Und zwar zum 11. September 2001, als bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington fast 3.000 Menschen starben. Verantwortlich dafür war die islamistische Terrororganisation Al-Qaida. Ihr Anführer Osama bin Laden versteckte sich in Afghanistan.
Die USA kündigten einen „Krieg gegen den Terror“ an und riefen das erste Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus. Noch im gleichen Jahr griffen sie Afghanistan an, dafür gab es auch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates.
2003 griffen die USA den Irak an, angeblich, weil der irakische Diktator Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besaß. Heute wissen wir: Das war eine Lüge. Deutschland und Frankreich waren gegen die Invasion, es gab kein UN-Mandat. Es war also ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Die Schätzung der Opferzahlen geht auseinander, zwischen 150.000 und 650.000 Menschen starben.
Vor allem der Irak-Krieg hat viele in ihrer Sicht auf die USA geprägt – auf sehr negative Weise. Und sie fragen: Sind die USA eigentlich besser als Russland? Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht, aber eines ist klar: Vergleiche zwischen den Angriffen der USA auf Afghanistan und den Irak und dem russischen Einmarsch bringen nur wenig.
Tony Blair, der frühere Premierminister des Vereinigten Königreichs, erklärte kürzlich, warum die Invasionen aus seiner Sicht nicht vergleichbar seien. Blair sagte, Moskaus Streitkräfte seien „in ein Land eingedrungen, das einen demokratisch gewählten Präsidenten hat, der meines Wissens nie einen regionalen Konflikt angezettelt oder eine Aggression gegen seine Nachbarn begangen hat.“ Saddam Hussein dagegen habe sein eigenes Volk brutal behandelt, zwei völkerrechtswidrige Kriege geführt und an einem einzigen Tag 12.000 Menschen mit chemischen Waffen getötet.
Noch einen wichtigen Unterschied gibt es: Einige Historiker:innen, beispielsweise der US-Amerikaner Timothy Snyder, sprechen von genozidalen Zügen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Russland bekämpft nicht nur die ukrainischen Streitkräfte, sondern die Ukraine als Nation, es ist ein Vernichtungskrieg. Russland nimmt keine Rücksicht auf Zivilist:innen, deportiert Ukrainer:innen und unterdrückt in besetzten Gebieten die ukrainische Sprache und Kultur.
Es ist schwierig, Leid gegeneinander aufzuwiegen. Wer auf den russischen Angriff mit „Aber damals im Irak …“ antwortet, landet schnell im „Whataboutism“. Das ist eine Argumentationsstrategie, bei der es nicht um eine inhaltliche Antwort geht, sondern darum, mit einem anderen Thema abzulenken. Das ist übrigens eine der Lieblingsstrategien der russischen Propaganda, die gerne die Verfehlungen der USA aufzählt, um die eigenen Verbrechen zu relativieren.
Es muss möglich sein, die Angriffe der USA zu verurteilen, ohne dabei Russland in Schutz zu nehmen. Die USA haben vor rund 20 Jahren ein großes Unrecht begangen, kein Zweifel. Doch das legitimiert nicht, dass Russland heute Unrecht begeht.
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Der Link der Woche
Die Doku hat zwar keinen Oscar gewonnen, sehenswert ist sie trotzdem. In der Arte-Mediathek findest du die 90-minütige Doku „Heimweh – Kindheit zwischen den Fronten“ über ein ukrainisches Kinderheim.
Die Hoffnung der Woche
In Charkiw funktioniert die Straßenbeleuchtung wieder und bringt ein wenig Licht in die Stadt. Das berichtet ein Redakteur der Ukraine-Analysen, einer Plattform, die wissenschaftliche Texte über die Ukraine veröffentlicht. Die gelben Strahlen auf dem Bild sind kyrillische Buchstaben, dort steht „Charkiw“.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert