Christian, du hast mich angelogen!
Was? Niemals! Wie kommst du darauf?
Hast du nach Donald Trumps Abwahl nicht geschrieben, in deiner Wahlheimat USA würde unter Präsident Joe Biden alles ruhiger werden? Deine Einschätzung kommt mir, entschuldige, vor wie ein Witz, wenn ich mir das Chaos um Kevin McCarthy ins Gedächtnis rufe.
Zugegeben, dass es absurde 15 Wahlgänge brauchen würde, bis er als Sprecher des Repräsentantenhauses bestätigt ist, habe ich auch nicht kommen sehen. Wie auch? Zuletzt gab es so ein Chaos im Repräsentantenhaus kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts! Ein Abgeordneter aus Alabama wollte sogar auf einen der Abweichler losgehen!
https://twitter.com/Fox10Ellen/status/1611580405555294215
Ich habe die Chose rund um McCarthy gar nicht verstanden, muss ich zugeben. Was war da los?
Also: Vom US-Kongress hast du sicher in den Nachrichten schon gehört, er setzt sich zusammen aus Senat und Repräsentantenhaus. Damit politische Ideen zu Gesetzen werden, müssen sich diese beiden Kammern einigen und zustimmen. Im Senat sitzen zwei Vertreter:innen pro Bundesstaat, 100 insgesamt, und die Demokraten haben eine knappe Mehrheit. Im Repräsentantenhaus wiederum schicken die Bundesstaaten Abgeordnete gemäß ihrer Bevölkerungsgröße nach Washington. Zählt man die Mitglieder beider Kammern zusammen, kommt man auf 435 Abgeordnete. Weil die Wahlkreise kleiner sind als die Bundesstaaten, sind ihre Bewohner:innen oft politisch homogener und wählen teils extremere Kandidat:innen.
Hinzu kommt: Der Sprecher des Repräsentantenhauses (oder bis vor Kurzem die Sprecherin, Nancy Pelosi von den Demokraten) besetzt eine ziemlich wichtige Position. Nach Präsident und Vize hat er (oder sie) das dritthöchste Amt im Land mit großem Einfluss darauf, wie die Kongresskammer insgesamt auftritt. Weil die Demokraten mit Joe Biden und Kamala Harris derzeit im Weißen Haus sitzen und auch im Senat eine Mehrheit haben, wird der Sprecher des aktuell von Republikanern geführten Repräsentantenhauses so wichtig. Deshalb hast du überall vom Gezerre um McCarthy gelesen.
Jetzt wird mir einiges klar, okay!
Einen Moment, wir sind noch nicht ganz durch mit dem Problem. Die Republikaner haben zwar momentan eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, aber eben nur eine sehr kleine. Bei der Zwischenwahl im November 2022 gewannen sie 222 Sitze, die Demokraten 213. Einer von diesen Abgeordneten ist drei Wochen nach der Wahl an Krebs gestorben, weshalb aktuell nur 434 Sitze besetzt sind. Heißt im Klartext für die Republikaner: Wenn sie fünf Leute bei einer Abstimmung an die Gegenseite verlieren, steht es 217:218. Und damit wäre die Mehrheit futsch.
Deshalb werden die kommenden zwei Jahre bis zur Wahl des Präsidenten und auch eines neuen Repräsentantenhauses vermutlich paradox: Die offen Extremen sind auch bei den Republikanern eigentlich nur eine kleine Gruppe. Und die Wähler:innen haben sie sogar 2022 bei den Midterms im November ziemlich abgestraft. Weil aber die Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus so knapp ist, kommt es künftig auf jede Stimme an, auch auf die der Radikalen. Deswegen bekommen sie so viel Gewicht.
Man könnte die Gesamtsituation auch so formulieren: Die Republikaner behaupten zwar, eine Mainstreampartei zu sein, aber in Wahrheit sind sie fest in der Hand von Radikalen.
Ehrlich gesagt: Ich glaube das nicht. Es ist doch gut, wenn die Verhältnisse mal aufgemischt werden! Und überhaupt: Die Demokraten haben auch Dreck am Stecken, siehe die geheimen Dokumente, die jüngst bei Joe Biden in der Garage gefunden wurden! Von Deutschland aus gesehen scheint keine der beiden großen Parteien den USA besonders gutzutun.
Was die Sache mit den Geheimdokumenten betrifft: Ins Verhältnis gesetzt wiegen die Verfehlungen von Biden und Trump unterschiedlich schwer. Bei den Geheimdokumenten, die bei Biden gefunden wurden, sprechen wir nach bisherigem Stand von einigen wenigen Seiten, die beim Auffinden freiwillig übergeben wurden. Trump hingegen hortete Hunderte Seiten an Dokumenten, die sein Team wochenlang zurückhielt.
In vielen Standpunkten sind die Republikaner politisch extrem, auch wenn sie ihren Rassismus an manchen Stellen besser verstecken als an anderen. Und in ihren Methoden sind sie bereit, die Demokratie und ihre Institutionen zu missachten. Dort, wo die Demokraten gestalten wollen, wollen die Republikaner zerstören. Das ist der große Unterschied zwischen beiden Parteien. Lass mich dir später genauer erklären, wie es zu dieser Radikalisierung der Republikaner kommen konnte.
Ich bin skeptisch und glaube, du übertreibst. Für eine so große Partei mit so langer Geschichte kann nicht stimmen, was du sagst. Die Republikaner wären doch längst in der Bedeutungslosigkeit verschwunden!
In einem Punkt gebe ich dir recht: Nicht alle Abgeordneten sind extrem. Aber sie sind zumindest beinahe ausnahmslos bereit, den Extremismus ihrer republikanischen Parteikolleg:innen mitzutragen. Ich will dir das an einem Beispiel erläutern, das den Unterschied zu den Demokraten gut illustriert.
Als die Demokraten vor zwei Jahren mit knapper Mehrheit auch im Repräsentantenhaus, im Senat und im Weißen Haus an die Macht kamen, trommelten Parteilinke wie Alexandria Ocasio-Cortez oder Bernie Sanders zwar auch laut für ihre Positionen. Aber bei den konkreten Abstimmungen zogen sie mit. Weil sie hinter den Kulissen Kompromisse wie ein großes Klimapaket und zusätzliche Gelder gegen Kinderarmut errungen hatten. Bei dem jetzigen Chaos rund um McCarthy kannst du sehen, dass der äußerste Parteiflügel der Republikaner keine Lust auf Kompromisse hat.
Hinzu kommt: Die manchmal im eigenen Land als „Sozialismus“ verschrienen Positionen der „radikalen Linken“ drehen sich um mehr Sozialhilfen, günstigere Bildung und besseren Klimaschutz. Bei den Republikanern hingegen ist es nicht nur Mainstream zu behaupten, dass während der 2020er-Präsidentschaftswahl betrogen wurde. Es gibt im Repräsentantenhaus auch Abgeordnete wie Lauren Boebert oder Marjorie Taylor Greene, die rechtsextreme Verschwörungstheorien verbreiten und immer mal wieder öffentlich mit QAnon flirten, wie bei HuffPost zusammengefasst. Greene behauptet zum Beispiel auch, dass die Waldbrände in Kalifornien von jüdischen Weltraumlasern verursacht wurden (nein, das ist leider kein Scherz). Und diesen Typen hier kennst du bestimmt, das Foto von ihm kann man fast schon ikonisch nennen:
Das ist Jacob Chansley, ein leidenschaftlicher QAnon-Anhänger – und ein nicht minder leidenschaftlicherer Fan Donald Trumps. Bei dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 war Chansley ganz vorne mit dabei (wofür er später zu mehr als drei Jahen Gefängnis verurteilt wurde). Trump selbst nutzt QAnon auch: So spielt der Ex-Präsident bei seinen Reden bespielsweise Musik, die mit den QAnon-Anhänger:innen in Verbindung steht, erklärt bei der Washington Post. Zur QAnon-Philosophie zählt unter anderem, dass Hillary Clinton ein Mädchen ermordet, deren Blut getrunken und ihre Haut als Maske getragen haben soll. Yahoo beschreibt das gut.
Boebert und Greene sind doch vielleicht nur zwei Ausnahmen?! Kommen wir mal zurück zum Mainstream in der Partei und dessen Inhalten. Was wollen die Republikaner die kommenden Jahre erreichen?
Es gibt einige sehr grobe Leitlinien, McCarthy hat ein ziemlich unspezifisches PDF vor der Wahl verbreitet, sein „Commitment to America“. Darin hat er vier Ziele umrissen: „Eine Wirtschaft, die stark ist“, „eine Nation, die sicher ist“, „eine Zukunft, die auf Freiheit aufbaut“ und „eine Regierung, die sich verantwortlich verhält“. Das Ganze ist vor allem eine Kritik an den Demokraten, weniger ein Plan, mit welchen konkreten Gesetzen die Republikaner agieren möchten.
Aus vielen Politiker:innen-Aussagen rund um die Zwischenwahlen lassen sich aber einige Versprechen ableiten: Zusätzliche Schulden wollen die Republikaner nur aufnehmen, wenn gleichzeitig bei Sozialausgaben und Militär gespart wird. Sie wünschen sich ein Ende der angeblich „woken Indoktrinierung“ von Kindern an Schulen in der Sexualerziehung und zur Sklavengeschichte des Landes. Und sie wollen Joe Biden ganz genau im Blick behalten, bis hin zu einem Amtsenthebungsverfahren.
Also, ich fasse mal zusammen: Die Republikaner treten ein für einen schlanken Staat, weniger Militär und ideologiefreien Unterricht. Das ist doch nicht radikal! Auch die ganze Abtreibungsdebatte in den USA, deren Ursache ja den Republikanern angelastet wird: Könnte man ja auch eine Privatsache nennen, oder nicht?
Dazu kommen wir gleich, aber vorher habe ich eine Frage: Hast du Lust auf eine Zeitreise? Denn ich glaube, ich kann dir anhand von nur drei Personen erklären, wie die Republikaner immer radikaler wurden, was ihre Position und ihre Einstellung zur Demokratie betrifft.
Lass mich raten, eine von diesen Personen ist Donald Trump.
Korrekt, ja. Aber ich glaube, von den beiden anderen hast du vielleicht noch nie gehört. Ich halte sie für extrem unterschätzt, was den Niedergang der politischen Kultur in den USA angeht. Die eine Person heißt Kevin Phillips, er war ein wichtiger Parteistratege für Richard Nixons Wahlsieg 1968.
Die andere Person ist Newt Gingrich. Er war von 1995 bis 1999 Sprecher des Repräsentantenhauses.
Mir ist schon klar, dass nie nur eine Person alles verändert. Aber Philips hat entscheidend die Inhalte der Partei radikalisiert, Gingrich die Methoden – und Trump hat schließlich beides zusammengebracht und mit den Möglichkeiten eines immer größeren rechten Medienangebots in TV, Internet und sozialen Netzwerken verschmolzen.
Also gut. Du sagst Kevin Phillips, und du sagst 1968, ja? Eigentlich komisch, dass ausgerechnet 1968 mit Nixon ein Republikaner die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, ich dachte, damals gab es Flower Power und das Musikfestival in Woodstock?
https://www.youtube.com/watch?v=EAGVGNWQ2Hc
Guter Gedanke! Auch wenn Woodstock ein Jahr später stattfand, hast du die Stimmung der damaligen Zeit ganz gut im Kopf. In den 1950ern und 60ern hat sich gesellschaftlich in den USA viel verschoben: 1954 entschied der Oberste Gerichtshof im Urteil „Brown v. Board of Education“, die Rassentrennung an staatlichen Schulen aufzuheben. Frauen kämpften immer stärker für ihre Gleichberechtigung. Und 1964 wurde der „Civil Rights Act“ verabschiedet, ein umfassendes Bürgerrechtsgesetz, das Diskriminierung wegen Hautfarbe, Religion oder nationaler Herkunft verhindern sollte. Kurzum, viele gesellschaftliche Gruppen fanden endlich Anerkennung, zumindest auf dem Papier.
Während viele Menschen in den oft moderneren Städten im Nordosten oder im Westen des Landes ohnehin etwas liberaler dachten als der Rest der USA, ging die Veränderung besonders in den Südstaaten einem großen Teil der Wähler:innen viel zu weit. Und eine Gruppe fühlte sich ganz besonders bedroht: Weiße.
Aber die Republikaner wussten auch, dass sich niemand gerne als Rassist:in sieht. Wer in der Politik allzu offensichtlich rassistische politische Positionen vertritt, den oder die strafen die Wähler:innen ab. Was man zum Beispiel an Barry Goldwater gut festmachen kann: Er war ein offener Rassist, wie hier gut erklärt wird. Goldwater plädierte offen gegen den Civil Rights Act und wollte Sozialleistungen vom Staat an Unternehmen übertragen. Sein Slogan: „In Your Heart, You Know He’s Right“ (dt.: Im Herzen weißt du, dass er recht hat).
Vier Jahre vor Nixon konnte der stramm konservative Republikaner gerade einmal fünf Staaten bei der Präsidentschaftswahl für sich entscheiden: seinen Heimatbundesstaat Arizona sowie Mississippi, Alabama, South Carolina, Louisiana und Georgia.
Alles Südstaaten!
Korrekt. Und jetzt kommt Kevin Phillips ins Spiel: Er gilt als derjenige, der angesichts dieser Niederlage 1964 vier Jahre später die „Southern Strategy“ prominent vorangetrieben hat. Sie sollte die republikanische Politik für immer verändern, indem sich die Partei von den Inhalten verabschiedete, die im wohlhabenden Nordosten funktionierten und stattdessen die Erfolgsrezepte des Südens nutzte.
Die „Southern Strategy“?
Yes. Deren Kern war es, nicht offen gegen Gleichberechtigung einzutreten oder Rassentrennung zu fordern, sondern stattdessen vermeintlich neutrale politische Forderungen zu vertreten, von denen eben nur eine Bevölkerungsgruppe überproportional profitierte und unter der eine andere litt: „Schluss mit Busing!“ (das heißt, keine Busse mehr, um Schwarze Kinder zu besseren Schulen zu fahren). „Niedrigere Steuersätze!“ (wovon vor allem die reichen Weißen profitierten). Und: „Weniger Essensmarken, um Schmarotzer auszubremsen!“ (bei denen die meisten an Schwarze „Welfare Queens“ dachten). Diese Forderungen heißen „Dogwhistles“, also „Hundepfeifen“, in Anlehnung an Pfeifen, deren Trillern nur für Hunde hörbar ist. So wie die leicht codierten politischen Ziele der Southern Strategy vor allem nur den Republikanern klar waren.
Wir sehen die Funktionsweise dieser Strategie bis heute. Wenn beispielsweise Schwangerschaftsabbrüche für Mittelschichts-Weiße leichter bleiben als für Schwarze, weil sie es sich einfacher leisten könnten, in Bundesstaaten mit liberaleren Gesetzen zu reisen als Schwarze. Und bevor du jetzt wieder sagst, dass ich mir das alles ausdenke: Lee Atwater, später ein Berater von US-Präsident Ronald Reagan, hat in einem berühmten geleakten Mitschnitt von 1981 all das zugegeben, veröffentlicht beim liberalen Magazin The Nation. Er sagt in diesem Mitschnitt wortwörtlich: „Im Jahr 1968 konntest du (als Politiker) nicht mehr N***** sagen, das hat dir geschadet. Ging nach hinten los. Also hast du Dinge wie ‚erzwungenes Busing‘, oder ‚Rechte der Bundesstaaten‘ gesagt, all das Zeug. Du warst so abstrakt, dass du über Steuersenkungen geredet hast. All diese Dinge, von denen du gesprochen hast, waren eigentlich wirtschaftspolitische Dinge, und eine Nebenwirkung war eben, dass Schwarze schlimmer getroffen werden als Weiße.“
Und was ist jetzt mit diesem Newt Gingrich?
Der ist ein wichtiger Politiker der Neunzigerjahre, der für einen ganz anderen Politikstil steht, als ihn noch Ronald Reagan nach seinen Wahlsiegen 1980 und 1984 pflegte. Letzterer stand für einen fröhlich-optimistischen, anpackenden Stil, Kategorie lächelnder, gutaussehender Filmstar-Typus. Gingrich aber symbolisierte den Stil der „Grievance Politics“: eine „Beschwerdepolitik“, mit der sich die Republikaner als Opfer inszenierten. 1995 wurde Gingrich Sprecher im Repräsentantenhaus.
Wie war damals das politische Umfeld?
Interessanterweise ähnlich aussichtslos wie kurz vor Nixon: Der Demokrat Bill Clinton saß seit zwei Jahren im Weißen Haus, er hatte es geschafft, mit Ideen zu einer straffen Justizreform und harten Einschnitten in der Sozialpolitik auch Wähler:innen der Mitte, aus republikanischen Reihen zu überzeugen. Hinter Clinton versammelte sich außerdem das Repräsentantenhaus, denn dort hatten die Demokraten damals einfach immer die Mehrheit: Seit 1955 hatte es keinen Republikaner mehr als „Speaker of the House“ gegeben.
Klingt eher nach schlechten Voraussetzungen, um eine Wahl zu gewinnen.
Eigentlich ja, aber einerseits haben Wähler:innen bei Zwischenwahlen schon immer gern die Partei im Weißen Haus ein wenig abgestraft. Andererseits hatte Gingrich eine revolutionäre Idee: Er führte die Kandidat:innen seiner Partei in einen inhaltlich einheitlichen landesweiten Wahlkampf. Bis dahin hatten die Abgeordneten in ihren Wahlbezirken eher selbstständig um eine Mehrheit gekämpft; es gibt in den Vereinigten Staaten kein proportionales Wahlsystem wie bei uns. Sondern ins Abgeordnetenhaus zieht ein, wer die Mehrheit der Stimmen erhält, so als würde es bei der Bundestagswahl nur Erststimmen geben. Gingrich aber gab den Republikanern einen ideologischen Überbau mit dem „Contract for America“, zehn klar skizzierten Gesetzen, die seine Partei im Falle eines Sieges einbringen würde. Sie sollten zum Beispiel zu einem ausgeglichenen Etat, Steuerkürzungen und zum Streichen von Sozialhilfe für minderjährige Mütter führen.
Im Gegensatz zu McCarthys lauer Kopie fast 30 Jahre später enthielt Gingrichs „Contract“ ausformulierte Ansätze, mit denen sich konkret Wahlkampf treiben ließ. Gingrich erkannte außerdem, dass sich die Medienlandschaft der USA entschieden verändert hatte: Im Kabelfernsehen gab es drei Nachrichtensender mit einem großen Bedarf an Meinungsbeiträgen, im Radio liefen überall im Land erfolgreich rechte Sendungen von Moderatoren wie Rush Limbaugh. Wie nie zuvor war es durch diese Sendungen möglich, rechte Inhalte nach außen zu tragen.
Und damit hat er das Repräsentantenhaus zurückgewonnen?
Genau! Und dann hat er den Stil der Kammer für immer verändert, so sehr, dass das amerikanische Magazin The Atlantic 2018 ein Porträt über ihn mit diesen Worten betitelte: „Der Mann, der Politik zerstört hat“. Warum die Journalist:innen so einen krassen Titel wählten? Schauen wir uns mal Gingrichs Motto an: „Scorched Earth“. Das heißt so viel wie: „verbrannte Erde“ hinterlassen und sich nicht mehr um Konsensfähigkeit und Kompromisse scheren, sondern stattdessen aggressiv agieren und den politischen Gegner persönlich angreifen. Er hat es auch populär gemacht, vor einem leeren Abgeordnetensaal zu sprechen, solange es der Parlamentssender C-SPAN überträgt.
Gingrich war dann 1995 und 1996 für zwei sogenannte Government Shutdowns verantwortlich, also für zwei staatliche Ausgabenstopps, bei denen mehr als eine Million Menschen ihre Jobs verloren.
Was? Das ist wirklich krass!
Allerdings! Aber es geht noch weiter: 1998 war er einer der Haupttreiber des ersten Amtsenthebungsverfahren eines US-Präsidenten seit 130 Jahren. Gingrich war entscheidend für das politische Klima verantwortlich, in dem Bill Clinton nach seiner Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky aus dem Amt getrieben werden sollte. Vorher galt eine Affäre als Privatsache oder, noch schlimmer eigentlich, als Kavaliersdelikt. Die wichtigen Männer in Washington deckten sich gegenseitig – denke nur mal an die vielen Liebeleien von John F. Kennedy!
https://www.youtube.com/watch?v=XJxOhyC3JOU
Gingrich aber präsentierte sich als einer der Hauptverfechter eines „Impeachments“ – und das kostete die Republikaner beinahe die nächste Wahl im Haus: Sehr vielen Wähler:innen der Mitte ging die Dauerverfolgung von Clinton und das Einmischen in dessen mutmaßliche „Privatsachen“ zu weit.
Und auch von den politischen Zielen des „Contract for America“ blieb nicht viel übrig, vor allem weil Clinton einiges per Veto verhinderte. Aber Gingrichs Stil, Politik zu machen, belohnten die Menschen trotzdem mit Wahlsiegen für die Republikaner: Erst 2006 sollte es den Demokraten im Zuge des ungeliebten Irakkriegs erstmals wieder gelingen, die Mehrheit im Repräsentantenhaus für sich zu gewinnen.
Und deine angebliche Radikalisierung der Republikaner? Ging die auch weiter?
Tatsächlich, ja. 2008 folgte zwar die historische Präsidentschaftskandidatur von Barack Obama mit der Wiederwahl vier Jahre später. Aber 2010 sagte der Senatssprecher Mitch McConnell dem National Journal ganz im Sinne der aggressiven Blockadepolitik von Gingrich: „Das mit Abstand Allerwichtigste, was wir erreichen wollen, ist Obama zu einem Präsidenten mit nur einer Amtszeit zu machen.“ McConnell hat solche Anti-Haltungen und solche Politisierungen dann auch noch auf den Gerichtshof ausweiten können. Es zählte zu seinen wichtigsten Errungenschaften, in seiner Senatszeit nur deutlich konservativere neue Richter:innen am Supreme Court abzunicken, was wiederum zu den jüngsten strengen Anti-Abtreibungsgesetzen geführt hat. (Mehr über die große Macht der Richter:innen findest du hier in meinem Beitrag.
Und dann kam …
… Donald Trump! Der Überraschungssieger der Wahl 2016, der so überraschend eigentlich dann doch nicht gewann. Denn man könnte ihn unter gleich mehreren Gesichtspunkten als die logische Weiterentwicklung all dessen sehen, von dem wir bis hierher gesprochen haben: „Make America Great Again“ bedient die rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einem weißen Amerika (Hallo „Southern Strategy“!). Die sogenannte Mauer an der Grenze zu Mexiko ist ein kaum getarntes rassistisches Projekt, das sich nur wenig um die wirklichen Ursachen von Kriminalität in grenznahen Gebieten oder um eine fairere Einwanderungspolitik schert. Der Einsatz von Twitter und die ständigen Auftritte bei rechten Sendern wie OAN und FOX News mit all den niveaulosen Beleidigungen durch Trump sind die inhaltliche und methodische Fortführung von Gingrichs aggressivem Stil. Und mit der Lüge von der „gestohlenen“ Wahl und dem Sturm auf das Kapitol arbeitet er klar an der Zerstörung der US-Demokratie und deren Institutionen. In der Partei gibt es entweder die offen Extremen, die Trump treu zur Seite stehen, oder die mutmaßlich Moderaten, von denen öffentlich aber auch kaum jemand der Radikalisierung oder Trump entgegentritt.
Warum sollten sie auch? Frühere Repräsentantenhaus-Abgeordnete wie Liz Cheney und Adam Kinzinger haben nach ihrem Einsatz gegen Trump ihre Vorwahlen und ihr Mandat verloren. Und selbst diejenigen, die eine Wahl überstehen, berichten von Todesdrohungen der Internet-Extremisten aus dem ganzen Land, die sich beschweren, man sei „RINO“, also „Republican in Name Only“. Was so viel heißt wie: „Republikaner:in, aber nur dem Namen nach“.
Es sieht also düster aus, wenn du mich fragst. Es ging Amerika wirklich schonmal besser.
Scheint mir langsam auch so. Aber eine letzte Frage habe ich noch: Wie wird es weitergehen? Könnte es nicht sein, dass sich die Republikaner wieder mäßigen werden?
Bisher gibt es dafür wirklich nur wenige Anzeichen. Nach dem Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 haben Historiker wie der sehr lesenswerte Thomas Zimmer im Guardian bilanziert: „Republikaner entscheiden sich immer für Radikalisierung, um ihre Parteibasis anzuheizen.“ Und auch Trumps aussichtsreichster möglicher Gegenkandidat in der Partei, Ron DeSantis aus Florida, ist inhaltlich extrem. Der Gouverneur verbietet es beispielsweise Lehrer:innen, an ihren Schulen über die Geschichte der Unterdrückung von Schwarzen zu sprechen. Einer seiner markigsten Sprüche lautet: „Nach Florida kommt Woke-Sein, um zu sterben.“
https://www.youtube.com/watch?v=WKGmDk4FEU0
Zum Schluss habe ich aber noch einen Tipp für dich, was die zukünftige Entwicklung der Partei betrifft: Behalte das Repräsentantenhaus im Auge! Dort sitzen nämlich auch 18 Abgeordnete der Republikaner, die aus Wahlkreisen kommen, die 2020 der Demokrat Joe Biden gewonnen hat. Ihnen müsste damit als Vertreter:innen der politischen Mitte eigentlich daran gelegen sein, die Extremen zurückzuhalten. Es soll ja noch Wunder geben, auch in der Politik.
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger