Russland zerstört seit geraumer Zeit die Energieinfrastruktur der Ukraine. In erster Linie schadet das natürlich der Ukraine selbst. Doch in meinem Newsletter erkläre ich euch diese Woche, ob Russland damit auch gezielt der europäischen Wirtschaft schadet. Außerdem beantworte ich die Frage, ob Boris Johnson wirklich Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine verhindert hat. Und wie immer gebe ich dir einen kleinen Lichtblick mit, auch wenn es in der Ukraine gerade sehr dunkel ist – es gibt nämlich kaum noch Strom.
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Was ist gerade wichtig?
Strom, Wasser, Wärme: Das sind weiterhin Russlands Ziele in der Ukraine, während die Temperaturen immer weiter fallen. Alle Wärme- und Wasserkraftwerke sind nach Angaben des ukrainischen Premierministers Denys Schmyhal beschädigt. Er schätzt, dass 40 Prozent der Hochspannungsnetze, die den Strom von den Kraftwerken in die Städte transportieren, beschädigt wurden. Am Wochenende waren mehr als 1,5 Millionen Menschen im Raum Odessa von der Stromversorgung abgeschnitten. Die Angriffe sollen nicht nur die Bevölkerung zermürben – sie sollen auch der europäischen Wirtschaft schaden.
Welche Bedeutung hat ukrainischer Strom für uns?
Die Ukraine hat bis zu den Angriffen auf ihre Infrastruktur Strom exportiert – eine wichtige Einnahmequelle für die Wirtschaft, die wegen des Krieges am Boden liegt. Zielländer des ukrainischen Stroms waren Rumänien, Polen, die Slowakei und Moldau. Ende Juni begann die Ukraine, in weitere EU-Länder Strom zu liefern, auch Deutschland sollte davon profitieren. Die Ukraine könnte 2,5 Gigawatt nach Europa schicken und damit 1,8 Milliarden Euro im Jahr einnehmen, schrieb Premierminister Schmyhal auf Facebook. Die Stromlieferungen wären für Deutschland genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen: Schließlich wollen wir unabhängig von russischem Gas sein und sind deshalb auf der Suche nach verschiedenen Energiequellen.
Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur schaden also der ukrainischen Wirtschaft direkt: Die Unternehmen können nicht produzieren, Geschäfte nur eingeschränkt öffnen. Und die Einnahmen des Stromexports fallen für die Ukraine weg. Moldau, das kleine Nachbarland der Ukraine und EU-Beitrittskandidat, bekam bis zu den russischen Angriffen ukrainischen Strom geliefert. Jetzt fällt auch in Moldau immer wieder flächendeckend über Stunden der Strom aus. Und Länder wie Deutschland, die dringend günstigen Strom brauchen, können nun doch keinen ukrainischen kaufen.
Die Frage der Woche
KR-Leser Jens fragt: „Stimmt es, dass die Nato und namentlich Boris Johnson im April Selenskyj davon abgehalten hat, ein Friedensabkommen mit Putin zu schließen?“
Anfang April reiste der damalige britische Premierminister Boris Johnson überraschend in die Ukraine. Videos von dem Besuch zeigten Boris Johnson und Wolodymyr Selenskyj, wie sie gemeinsam durch die Kyjiwer Innenstadt laufen. Immer wieder kommt die Behauptung auf, dass die Ukraine und Russland zu diesem Zeitpunkt kurz davor gewesen seien, ein Friedensabkommen zu schließen – doch Johnson habe bei seinem Besuch das Abkommen gestoppt. Die Linkenpolitikerinnen Sahra Wagenknecht und Sevim Dağdelen behaupteten das zum Beispiel. Aber stimmt das auch?
Die Behauptung bezieht sich meist auf einen Artikel der ukrainischen Zeitung Ukrajinskaja Prawda. Darin steht, dass es zwei Gründe gegeben habe, warum das ukrainische Präsidentenbüro ein Treffen mit Wladimir Putin zu diesem Zeitpunkt abgelehnt habe. Der erste Grund sei die Aufdeckung der Gräueltaten von Butscha und anderen Vororten Kyjiws gewesen. Das zweite „Hindernis“ für einen Kompromiss mit Russland der Besuch von Boris Johnson.
Kurz zu Butscha: Im April zogen sich die russischen Truppen aus der Region um Kyjiw zurück und hinterließen schreckliche Bilder: erschossene Zivilist:innen, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren, mit Leichen übersäte Straßen. Russland leugnet diese Verbrechen bis heute. Viele Expert:innen, beispielsweise von der Stiftung Wissenschaft und Politik, gehen davon aus, dass Selenskyj deshalb keinen Kompromiss mehr mit Russland wollte. Der Autor in der Ukrajinskaja Prawda schrieb: „Wie und worüber können wir mit Putin reden, wenn wir mit ihm nicht über Butscha, Irpin, Borodjanka oder Asowstal reden können?“
Und dann war da eben auch noch Boris Johnson. Der habe zwei Botschaften mitgebracht, wird ein enger Berater Selenskyjs zitiert. „Die erste ist, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist; er sollte unter Druck gesetzt werden, nicht mit ihm verhandelt werden.“ Die zweite Botschaft sei gewesen, dass Johnson nicht zu einem Deal mit Putin bereit sei, weil sich Putin sowieso nicht an Abmachungen halte.
Der Autor des Artikels in der Ukrajinskaja Prawda, Roman Romaniuk, hat in einem Interview klargestellt, dass er nicht glaubt, dass Johnson das Friedensabkommen aufgehalten habe. „Johnson war eine der Personen, auf die Selenskyj hörte – nicht, weil er von ihm abhängig war, sondern aufgrund von Vertrauensbeziehungen“, sagte Romaniuk. Johnson habe Selenskyj einen Ratschlag gegeben – und in Selenskyjs Umfeld hätten sowieso viele daran gezweifelt, dass sich Russland an Vereinbarungen halte. In seinem Artikel steht aber auch, dass die russischen Gräueltaten in den Kyjiwer Vororten ausschlaggebend waren.
Wichtig ist übrigens nicht nur, was Politiker:innen denken, sondern auch die Meinung der Bevölkerung. Und die Idee, mit Russland einen Kompromiss zu schließen, ist in der Ukraine extrem unpopulär. In einer Umfrage von Oktober waren 86 Prozent der Befragten der Meinung, dass der bewaffnete Kampf fortgesetzt werden solle, auch wenn der Beschuss anhält. Dagegen antworteten nur zehn Prozent der Befragten, dass es notwendig sei, Verhandlungen zu führen, um den Beschuss so schnell wie möglich einzustellen, auch wenn dafür Zugeständnisse an Russland erforderlich seien.
Der Link der Woche
Die Kirche hat von Anfang an eine Rolle im Krieg gegen die Ukraine gespielt – aber keine gute. Jetzt geht die ukrainische Regierung gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche vor, weil sie mit Russland kollaboriere, so der Vorwurf der ukrainischen Regierung. Ist die Religionsfreiheit in Gefahr? Warum unterstützt der Patriarch Kyrill in Moskau den Krieg, obwohl das so gar nicht zum christlichen Selbstverständnis passt? Und was könnte Papst Franziskus dagegen tun? Über all das spricht die Theologin Regina Elsner in dieser Podcast-Folge.
Die Hoffnung der Woche
Kennst du das Lied „Carol of the bells“? Es ist eines der berühmtesten Weihnachtslieder im anglo-amerikanischen Raum und die Melodie erinnert an Glockenklänge. Viele kennen es aus dem Film „Kevin – Allein zu Haus“. Es gibt unzählige Versionen des Liedes: Bekannt sind zum Beispiel die poppige Geigenversion von Lindsey Stirling oder die Interpretation der A-capella-Band Pentatonix.
Seine Wurzeln hat das Weihnachtslied in der Ukraine: „Carol of the bells“ basiert auf dem ukrainischen Volkslied „Schtschedryk“. Der ukrainische Komponist Mykola Leontowytsch schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts eine Chorversion des Volksliedes. Ein ukrainischer Chor tourte damit durch viele Länder und machte „Schtschedryk“ in der ganzen Welt bekannt. 1922 trat der Chor in der Carnegie Hall in New York auf. Vergangene Woche, also genau 100 Jahre danach, gab ein professioneller ukrainischer Kinderchor namens Schtschedryk ein Konzert in der Carnegie Hall – und sang natürlich auch „Schtschedryk“.
https://www.youtube.com/watch?v=SHj2dK8mE_k
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert