Die FIFA ist korrupt. Sie überzieht die gastgebenden Länder mit einer Vielzahl strenger Forderungen und sie erweckt ganz allgemein den Eindruck, dass es ihr beim Fußball nur noch um eine Sache geht: Darum, möglichst viel Geld zu verdienen.
7,2 Milliarden Dollar Umsatz wird die FIFA durch die WM in Katar erzielen. Wäre die FIFA als Unternehmen und nicht als Verein in der Schweiz eingetragen, würde es zu den größten des Landes gehören. Weit vor dem Uhrenhersteller Rolex zum Beispiel.
In Deutschland steht die FIFA spätestens seit den Diskussionen um die „One-Love“-Kapitänsbinde wieder im Fokus. Der Fußball-Weltverband hatte es der deutschen und anderen Nationalmannschaften untersagt, die Binde zu tragen, die ein Zeichen gegen Homophobie, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus sein sollte.
Warum diese Binde für die FIFA ein Problem war? Hat die Öffentlichkeit nicht erfahren. Die FIFA kann es einfach entscheiden, und selbst große Fußballverbände aus Deutschland, England oder den Niederlanden haben diese Entscheidung, sei sie noch so banal, zu akzeptieren. Sonst gäbe es gelbe Karten für die Spieler, die die Binde tragen. Das jedenfalls hatte die FIFA angedroht.
Wenn Wirtschaftswissenschaftler wie Thomas Straubhaar von der Uni Hamburg auf die FIFA schauen, sehen sie einen waschechten Monopolisten, der noch nicht einmal im Ansatz Wettbewerb zu fürchten hat. Würde eine Politikwissenschaftlerin auf den Verband schauen, könnte sie wiederum einen Tyrannen klassischen Profils erkennen. Denn die FIFA macht die Fußballregeln, sie setzt sie durch und sie richtet über sie. Sie ist Legislative, Exekutive und Judikative in einem. Die FIFA hat zu viel Macht. Und diese Macht – das denken immer mehr Menschen in Deutschland, nicht nur Fußballfans – gehört beschnitten.
Wieso schaffen wir die FIFA nicht einfach ab?
In diesem Text will ich aber noch einen Schritt weitergehen. Denn wie die FIFA reformiert werden sollte, haben schon viele kundige Menschen auf Hunderten Seiten Papier niedergeschrieben, ohne dass dadurch auch nur ein Reförmchen angestoßen worden wäre. Die FIFA ist so präsent und so lange verflochten mit dem Weltfußball, dass sie unantastbar scheint.
Aber wenn die Fifa nicht reformiert werden kann: Wieso schaffen wir sie dann nicht ab? Der FIFA den Fußball einfach wegnehmen und alles neu und besser ohne sie bauen – das wärs doch.
Meine Überlegungen fanden ein abruptes Ende, als ich Filippo Cataldo anrief. Er ist Chefredakteur der Sportportale Spox und Goal.com. Cataldo sagt: „Der FIFA gehört der Fußball.“ Sie sei Hüterin des Spiels und der Regeln. Alle nationalen Fußballverbände sind auch Mitglied der FIFA. Cataldo ist einer von drei Experten, mit denen ich für diesen Text gesproche habe. Die anderen beiden sind Holger Jakob, Sportrechtler und Host des Podcasts „Liebling Bosman“, und Dietrich Schulze-Marmeling, der mehrere Bücher über Fußball geschrieben hat, zuletzt „Boykottiert Katar 2022! Warum wir die FIFA stoppen müssen“.
Keiner der drei glaubt, dass es einfach wäre, eine WM ohne die FIFA zu organisieren. Aber alle drei sind sich einig, dass es möglich ist – theoretisch, prinzipiell.
In den Gesprächen mit ihnen haben sich zwei Modelle herausgeschält, um das Ziel einer FIFA-losen WM zu erreichen. Das radikale Modell und das pragmatische. Nennen wir sie Modell Fußball-UNO und Modell Brechstange.
Modell Fußball-UNO – die pragmatische Lösung
Damit dieses Modell funktionieren kann, müssen wir uns endgültig von einer Litanei lösen, die oft zu hören ist, sobald es kontrovers wird im Fußball: Sport und Politik gehören nicht zusammen. Das hören wir immer wieder, insbesondere von Menschen, die ein Interesse daran haben, dass wir das glauben.
„Aber es ist absurd zu sagen, dass man Politik und Sport trennen kann“, sagt Dietrich Schulze-Marmeling, der Buchautor. Je mächtiger die FIFA und je beliebter der Fußball wurde, desto mehr habe die Politik den roten Teppich ausgerollt. Das System FIFA konnte auch deswegen solange funktionieren, weil die Politik den Wert der WM erkannt habe. Ein Beispiel dafür sei, neben vielen anderen, die WM 2006 in Deutschland gewesen. Die rot-grüne Regierung wollte Ende der 1990er Jahre das Turnier ausrichten, um die „neue Berliner Republik ins Schaufenster zu stellen.“
Wenn aber Sport und Politik zusammengehören, wenn Fußball also ein Gesellschaftsbereich wie jeder andere ist, dann untersteht er genauso der Politik wie alles andere. Fußball kann mit Gesetzen geregelt werden und Sport wird es inzwischen auch schon. Ein Beispiel dafür ist Doping: Jahrelang wurde dieser Betrug nur sportgerichtlich verfolgt, sagt Cataldo, der Chefredakteur. „Mittlerweile haben wir aber Anti-Doping-Gesetze. Der Staat greift damit in die Hoheitsrechte des Sports ein.“
Wenn aber Staaten mit ihren Gesetzen Doping regeln können, warum sollten sie dann nicht auch regeln können, wer unter welchen Bedingungen eine Fußball-WM ausrichten darf und wer daran verdient? Prinzipiell ist das dieselbe Angelegenheit.
Tatsächlich haben immer wieder einzelne Staaten versucht, die FIFA zur Rechenschaft zu ziehen. In der Schweiz und in den USA liefen jahrelang Ermittlungen gegen die Korruption der FIFA, die allerdings selbst in anrüchigen Treffen und Seitenwechseln versumpften. Aus den Initiativen der Schweizer Staatsanwalt und der US-Behörden folgte nicht viel. Die US-Justizministerin, die 2015 der FIFA-Korruption den Krieg erklärte, arbeitet heute für eine Kanzlei, die auch die FIFA vertritt.
Holger Jakob, der Sportrechtler, sagt: „Eigentlich müsste es völkerrechtliche Verträge geben, die die FIFA und andere Sportverbände reglementieren.“
Und das wäre die Lösung. Die internationale Gemeinschaft würde den Fußball genauso behandeln, wie sie Krieg und Wirtschaft, Klima und globale Kulturgüter behandelt: als etwas, das allen Menschen gehört, alle Nationen betrifft und deswegen auch von allen Nationen reglementiert werden muss. Denn mal genau betrachtet: Ist es nicht lächerlich, dass die FIFA als Schweizer Verein firmiert? Eine Organisation, die so viel Geld bewegt und so viel Macht ausüben kann, kann doch nicht mit den gleichen Gesetzen reguliert werden wie Briefmarken-Vereine oder die Zürcher Schachgesellschaft.
Es würden sich also die Nationen der Welt treffen und gemeinsam eine internationale Konvention erarbeiten, die die Tätigkeit der großen Weltsportverbände regelt. Das beträfe nicht nur die FIFA, sondern auch das Internationale Olympische Komitee, das die Olympischen Spiele vergibt. So wie Kriegsverbrecher vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt werden können, so könnten bei diesem Modell korrupte Sportfunktionäre vor ein spezielles internationales Gericht gestellt werden. Zwar gäbe es mit dem Internationalen Sportgerichshof (KAS) schon ein spezielles Gericht, sagt Holger Jakob. Das aber sei nicht unabhängig, da die Richter auch von den klagenden Parteien selbst gestellt werden würden.
In einer neuen globalen Sport-Konvention könnten die Nationen der Welt dann Gesetze festlegen, die die Macht der FIFA nachhaltig beschneiden. Einen Vorschlag hörte ich dabei in meiner Recherche immer wieder: die Organisation der WM von ihrer Vermarktung trennen. Die FIFA würde weiterhin entscheiden, wo die WM stattfindet, sie würde aber nicht mehr direkt von den Milliarden aus den Vermarktungserlösen profitieren, sondern zum Beispiel nur noch pauschale Lizenz- und Aufwandsentschädigungen erhalten, was deutlich weniger Umsatz und damit auch Korruptionsmöglichkeiten für die FIFA-Funktionäre bedeuten würde. Gleichzeitig gäbe es mehr Wettbewerb, da sich private Unternehmen (die wiederum auch internationalem Sportrecht unterliegen) um die lukrativen Vermarktungsrechte in öffentlichen Ausschreibungen bewerben könnten.
Oder aber man folgt dem Modell des Sportprofessors Stefan Szymanski: Er schlägt vor, direkt eine privatwirtschaftlich organisierte, börsennotierte Firma, die „World Cup AG“ zu gründen, die sich verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz der Profite an die FIFA zu überweisen. Damit gäbe es zwei Organisationen, die getrennt voneinander ihren spezifischen Zielen nachgehen können: Die FIFA konzentriert sich darauf, den Weltfußball zu fördern und die World Cup AG aufs Geldverdienen, kontrolliert durch Börsenaufsicht und internationales Sportrecht.
Internationale Verträge könnten allerdings als Gefäß für weitere Ansätze fungieren. Denkbar wären zum Beispiel auch, völkerrechtlich verbindliche und transparente Vergabekriterien für internationale Sportturniere festzulegen, überwacht von unabhängigen Gerichten, so dass es für Länder wie Katar oder mutmaßlich auch Deutschland schwerer wird, sich mit Hinterzimmerdeals die Fußball-WM einfach zu kaufen.
Modell Austritt – die radikale Lösung
Es gibt noch einen anderen Weg. Er ist abenteuerlicher, würde aber einen einfachen Schlachtruf mitliefern, den jeder Fußballfan im Stadion skandieren kann: „Weg mit der FIFA!“.
Die FIFA hat Macht, weil sie an der Spitze eines Pyramidensystems steht. Sie thront oben über den Dingen, unter ihr sind die nationalen Fußballverbände wie etwa der Deutsche Fußballbund (DFB) oder die englische Football Association (FA). Unter denen wiederum sind kleinere, lokale Verbände. Durch dieses System unterliegt jeder Mensch, der in einem Verein Fußball spielt, dem Einfluss der FIFA. Würden allerdings genügend nationale Verbände die FIFA verlassen, würde das Pyramidensystem einstürzen. Die FIFA würde ihre Macht verlieren.
Der dänische Fußballverband hat vor ein paar Wochen angekündigt, genau das zu prüfen. Die FIFA, die sich laut ihres Statuts zur Einhaltung aller international anerkannten Menschenrechte bekennt, hat unter anderem ein Trainingstrikot der dänischen Nationalmannschaft verboten, auf dem der Schriftzug „Menschenrechte für alle“ stand. Aber die Austrittspläne treiben den dänischen Fußballverband schon länger um: „Das ist keine Entscheidung, die wir jetzt getroffen haben. Unsere Position ist schon seit Langem klar. Wir haben das [in Nordeuropa] schon seit August diskutiert.“ Die Präsidentin des norwegischen Fußballverbandes hatte zuvor auf dem FIFA-Kongress 2022 gesagt, dass Katar die WM auf „inakzeptable Weise“ erhalten habe.
Buchautor Dietrich Schulze-Marmeling glaubt, dass Dänemarks Vorstoß der ganzen Diskussion um die FIFA einen Schub gegeben hat. Jetzt müsse man „den Diskurs öffnen, wild denken und dem System FIFA die Autorität verweigern“, sagt er. So könne sich mittelfristig etwas ändern. Für Menschen in Deutschland müsste dieser Weg über den DFB führen. „Ich wünsche mir, dass sich der DFB mit Kräften wie der Präsidentin des norwegischen Verbandes zusammentut, um eigene Ideen zu formulieren und Schritt für Schritt eine Opposition innerhalb der FIFA aufzubauen.“
Sollte diese Opposition irgendwann groß oder wichtig genug sein, um theoretisch eine eigene WM ausrichten zu können, wird es interessant. Denn prinzipiell hindert nichts und niemand die nationalen Fußballverbände daran, eigene Turniere zu veranstalten – oder sogar eine Weltmeisterschaft.
Gerade habe die FIFA allerdings noch alle Hebel in der Hand, sagt Filipo Cataldo. Spieler und Spielerinnen, die an so einer alternativen Weltmeisterschaft teilnehmen, könnten theoretisch von anderen Wettbewerben ausgeschlossen werden. Aber Sportrechtler Jakob sagt: „Die Sanktionen, die die FIFA aussprechen kann, muss sie erstmal durchsetzen. Das sehe ich aber nicht. Denn sie hat ein Monopol und da gibt es kartellrechtliche Fragen, für die nationale Gerichte und der Europäische Gerichtshof zuständig sein können.“
Oder anders gesagt: Würde die FIFA Spieler und Spielerinnen bestrafen, die an einer alternativen WM teilnehmen, würde sie sich des Verdachts schuldig machen, ihre Macht als Monopolist auszunutzen. Gerichte könnten und würden die FIFA aber letztendlich auf Basis von Anti-Monopol-Gesetzen genau daran hindern.
Egal, welches der beiden Modelle man sich anschaut: Wirklich realistisch scheint gerade keines von beiden zu sein. „Die Funktionäre in den nationalen Fußballverbänden haben keinen Grund, aus der FIFA auszutreten. Sie haben Posten, sie sind gut versorgt“, sagt Holger Jakob. Und solange der kommerzielle Erfolg da sei, gebe es auch für die FIFA keinen Grund, irgendetwas zu ändern. Nüchtern betrachtet haben also weder das Modell Fußball-UNO noch die Brechstange realistische Chancen, umgesetzt zu werden. Der Ball rollt, der Rubel auch.
Kürzlich aber wurden der Geldgier der FIFA zum ersten Mal echte Grenzen gesetzt. Im selben Zug zeigte sich, dass die sensationellen Sprints von Kylian Mbappé, die raffinierten Finten von Leroy Sané, Sensationsparaden von Gianluigi Donnarumma, der rechte Hammer von Erling Haaland, dass internationaler Spitzenfußball ohne die FIFA möglich ist. Die Videospiel-Firma Electronics Arts (EA) gibt den Marktführer unter den Fußballsimulationen heraus. 30 Jahre lang hieß dieses Spiel schlicht „FIFA“, nur ergänzt durch die jeweilige Jahreszahl.
Um sein Spiel so nennen zu dürfen, hatte Electronic Arts Millionen Dollar Lizenzgebühr gezahlt. Nun aber wollte die FIFA plötzlich mehr als doppelt so viel Geld: eine Milliarde Dollar für die nächsten vier Jahre. EA verzichtete und wird die Reihe fortan unter anderem Namen fortführen, aber mit den originalen Mannschaften, Trikots und Stadien. All das gehört der FIFA nicht. Fußball gehört der FIFA nicht. Auch wenn es besonders in diesen Tagen der „FIFA Fußball WM“ anders wirkt.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Aufmacher: China News Service/Getty Images; Audioversion: Iris Hochberger