Dem Holodomor, der Hungersnot in der Ukraine, waren von 1932 an Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Heute erkläre ich dir, wie es dazu kommen konnte. Außerdem beantworte ich die Leserfrage, welchen Einfluss die USA auf den Euromaidan hatten und gebe dir eine kleine Portion Hoffnung mit.
Was ist gerade wichtig?
Vor rund 90 Jahren verhungerten in der Ukraine Millionen Menschen. Es war eine von der Sowjetführung herbeigeführte Hungersnot. Sie wird in der Ukraine Holodomor, Tötung durch Hunger, genannt. Vergangene Woche hat der deutsche Bundestag den Holodomor als Genozid, also einen Völkermord, anerkannt – ein wichtiges Signal an die Ukrainer:innen.
Welche Bedeutung hat der Holodomor heute?
Die Hungersnot in der Ukraine begann 1931 mit einer Missernte. Zusätzlich verringerten die Zwangskollektivierungen die Ernte: Die Bäuer:innen mussten also Höfe aufgeben und sich in sozialistischen Großbetrieben wie Kolchosen und Sowchosen zusammenschließen. Außerdem mussten die Landwirt:innen einen großen Teil ihrer Ernte an die Sowjetführung abgeben. Wenn sie diese unerfüllbar hohen Quoten nicht erfüllten, erschienen bewaffnete Kommandos und nahmen ihnen den Rest der Ernte weg.
Schon im darauffolgenden Jahr, 1932, verhungerten massenhaft Menschen. Der sowjetische Führer Josef Stalin beschloss, sich die Hungersnot zunutze zu machen, um Widerstand in der Ukraine zu unterdrücken: Er verabschiedete 1932 mehrere Dekrete, die sich ausschließlich gegen die Ukraine richteten. Die hungernden Menschen durften etwa die Grenzen der ukrainischen Sowjetrepublik nicht verlassen. Sie waren eingekesselt. Das führte zu einer zweiten, noch grausameren Welle des Hungers im Jahr 1933.
Der Zeitzeuge Wasyl Kushnir erinnert sich in dem Buch „Epic Journey“, wie die sowjetischen Behörden die Not verschlimmerten: „Sie suchten überall, sogar in unseren Küchengeräten, in unseren Töpfen und auf unseren Feldern, und wenn sie irgendwelche Lebensmittel fanden, wurde alles mitgenommen.“ Sie hätten sogar mit Eisenstangen in die Felder gestoßen, um nach vergrabenen Rüben und Kartoffeln zu suchen. In dieser Zeit wurden der Polizei einige Fälle von Kannibalismus gemeldet.
Wasyl Kushnir erzählt, dass er Blätter, Gras und Unkraut gegessen habe, um zu überleben. „Menschen saßen und lagen am Fuße von Gebäuden und auf den Straßen, unter Brücken, aufgequollen vor Hunger.“ Wie viele Menschen genau starben, ist schwer zu beziffern. Die meisten Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass insgesamt etwa sieben Millionen Menschen in Folge der Hungersnot starben, vier Millionen davon in der Ukraine.
In Sowjetzeiten wurde die Hungersnot verschwiegen, erst seit ihrer Unabhängigkeit kann die Ukraine an das nationale Trauma erinnern. 2005 machte der damalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko den Holodomor zu einem zentralen Thema der ukrainischen Geschichtspolitik. Beispielsweise setzte er sich für den Bau des Holodomor-Museums in Kyjiw ein.
Als der Bundestag den Holodomor vergangene Woche zum Genozid verurteilte, stimmten trotzdem nicht alle Parteien im Bundestag dafür: AfD und die Linke enthielten sich. Der Linkenpolitiker Gregor Gysi sagte dazu, dass sich Stalin gegen alle Gegner:innen der Zwangskollektivierung gestellt habe – unabhängig von ihrer Nationalität oder Ethnie. Diese Ansicht entspricht auch der russischen Sichtweise: In einem Gastbeitrag in der Zeitung Junge Welt schreibt der russische Botschafter in Deutschland, es widerspreche dem „gesunden Menschenverstand“, den Holodomor als Genozid zu verurteilen.
Dass der Holodomor sich gezielt gegen die Ukraine als Nation richtete, ist unter Historiker:innen aber unumstritten. Denn Stalins grausame Politik richtete sich nicht nur gegen die Landbevölkerung in der Ukraine, sondern auch gegen Parteielite und die Intelligenzija, also die kulturelle Elite. 1933 wurden zehntausende Ukrainer:innen aus der Partei ausgeschlossen, tausende Lehrer:innen entlassen, Schriftsteller:innen verfolgt und deportiert. Eines von Stalins Dekreten verlangte ein Ende der „Ukrainisierung“, dass also die ukrainische Sprache und Kultur nicht mehr gefördert werden sollten. Die renommierte Historikerin Anne Applebaum nannte den Holodomor schon vor Jahren einen Genozid. Sie sagte, dass die Ukraine für Stalin eine Idee gewesen sei. „Für ihn war es sehr wichtig, diese ukrainische Idee zu beseitigen. Er sah darin eine Bedrohung für die sowjetische Idee.“
Es stimmt, dass auch in anderen Regionen der damaligen Sowjetunion viele Menschen verhungerten. Besonders stark betroffen war Kasachstan: Dort fiel etwa ein Viertel der Bevölkerung der Hungersnot zum Opfer. Die Forschung ist in diesem Bereich noch lange nicht abgeschlossen, möglicherweise kommt sie zu dem Schluss, dass man auch die Hungersnot in Kasachstan als Genozid bezeichnen kann.
Die Frage, ob der Holodomor ein Genozid ist, ist nicht nur eine juristische Frage, sondern auch eine politische. Dass ihn der Bundestag als Genozid verurteilt, hat für niemanden Konsequenzen, Stalin kann nicht mehr vor Gericht gestellt werden. Doch es ist ein Signal an die Ukraine, die gerade von einem Angriffskrieg überzogen wird. Auch heute sprechen Politiker:innen von einem Genozid an der ukrainischen Bevölkerung.
Die Frage der Woche:
KR-Leser Herbert fragt: „Welchen Einfluss hatten die USA auf den Euromaidan?“
Der Euromaidan war eine Protestbewegung in der Ukraine in den Jahren 2013 und 2014. Was sie bedeutet, habe ich in diesem Newsletter beschrieben. Die russische Propaganda bezeichnet den Euromaidan meist als Putsch und nennt in diesem Zusammenhang eine Summe von fünf Milliarden US-Dollar, mit der die USA den Euromaidan finanziert haben sollen. Das ist falsch. Es handelt sich dabei um Fake News, eine häufig verbreitete Falschinformation.
Die Behauptung bezieht sich auf eine Äußerung von Victoria Nuland, der damaligen amerikanischen Staatssekretärin für Außenpolitik. Sie sagte, dass die USA fünf Milliarden US-Dollar in die Ukraine investiert hätten – allerdings über einen Zeitraum von rund 20 Jahren und nicht erst 2013 und 2014, um den Euromaidan zu finanzieren. Das Geld floss in Projekte, welche die Demokratie in der Ukraine fördern sollten: Antikorruptionsgruppen, Wahlbeobachtung, Umweltprojekte. Natürlich versuchen die USA, Projekte zu unterstützen, die ihren eigenen Werten und Interessen folgen. Das bedeutet aber nicht, dass die USA mal eben mit ein paar Milliarden Euro Massenproteste auf dem Maidan organisiert haben. Die Ukrainer:innen gingen damals von sich aus auf die Straße.
Der Link der Woche
Vor neun Monaten, als die russische Armee versuchte, Kyjiw einzunehmen, sprengte die ukrainische Armee einen Damm am Fluss Irpin. Das sollte die russischen Truppen aufhalten, auch wenn dadurch Dörfer geflutet wurden. Ein Reporter und ein Fotograf sind in das Dorf Demydiv gefahren, dessen Bewohner:innen noch immer gegen das Wasser kämpfen. „Die Situation in Demydiv ist eine Geschichte darüber, was kommt, nachdem die Schlacht gewonnen wurde“, steht in der Reportage. Den ganzen Text auf Englisch gibt es hier.
Die Hoffnung der Woche
Kein Strom, keine Heizung, kein Wasser: Das ist gerade Alltag für viele Ukrainer:innen. Die Nationale Philharmonie lässt sich davon nicht unterkriegen und hat in Dunkelheit ein Konzert gegeben.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Aufmacherbild: Collage von Philipp Sipos (picture alliance/Newscom|Ukrainian Presidential Press off|picture alliance/AP|Emilio Morenatti); Audioversion: Iris Hochberger