Russland greift weiterhin die Infrastruktur der Ukraine an, weite Teile des Landes sind ohne Strom, Wasser oder Heizung. Was Russland damit bewirken will und was das für uns bedeutet, habe ich schon einmal in dieser Ausgabe des Newsletters erklärt. Heute hingegen blicke ich zurück und analysiere, wie die Protestbewegung Euromaidan die ukrainische Gesellschaft beeinflusst hat. Außerdem erkläre ich dir, warum jetzt weniger Menschen Russisch lernen.
Kleiner Werbeblock: Ich moderiere diesen Donnerstag eine Diskussion mit der Wissenschaftlerin Gwendolyn Sasse, die ein Buch über den Krieg gegen die Ukraine geschrieben hat. Falls du in Berlin bist, würde ich mich freuen, wenn ich dich kennenlernen könnte! Tickets gibt es hier.
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Was ist gerade wichtig?
Im November vor neun Jahren begann die Protestbewegung Euromaidan, die in der Ukraine als „Revolution der Würde“ bekannt ist. Auslöser war, dass sich Wiktor Janukowytsch, der damalige Präsident der Ukraine, überraschenderweise weigerte, das geplante EU-Assoziierungsabkommen zu unterschreiben. Wladimir Putin hatte ihn unter Druck gesetzt, das Abkommen nicht zu unterschreiben und stattdessen einer Zollunion mit Russland beizutreten. Das löste eine riesige Protestbewegung aus: Im ganzen Land gingen Ukrainer:innen für die EU auf die Straße.
Welchen Einfluss hat das auf den Krieg von heute?
Der Euromaidan ist eine der wichtigsten Ereignisse auf dem Weg der Ukraine in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das Besondere an den Protesten war, dass sich Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen daran beteiligten: Studierende, Geistliche, Arbeiter:innen, Alte und Junge. Viele, die dabei waren, erzählen noch heute, wie sie Demonstrierenden in den kalten Wintermonaten Tee kochten oder kostenlos belegte Brote verteilten.
Das war wichtig für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, denn viele Ukrainer:innen begannen, sich stärker mit der eigenen Geschichte und Identität auseinanderzusetzen. Der Wunsch, dass die Ukraine Teil der EU und auch der Nato werden solle, verbreitete sich im ganzen Land. Diese Entwicklung sah natürlich auch Russland und versuchte, die Ukraine von ihrem Kurs abzubringen. Russische Politiker:innen und Staatsmedien begannen, von dem angeblich faschistischen Regime in der Ukraine zu sprechen, das Russland bekämpfen müsse. Unter diesem Vorwand marschierte Russland im Februar in der ganzen Ukraine ein.
Nach Beginn im November 2013 wurden die Proteste immer brutaler: Demonstrierende wurden verletzt und bewaffneten sich sogar selbst. Im Februar 2014 erreichten die Proteste ihren grausamen Höhepunkt, als Scharfschützen auf Demonstrierende schossen und rund 100 von ihnen töteten. Sie werden heute als die „Himmlische Hundertschaft“ in der Ukraine verehrt. Janukowytsch floh daraufhin nach Russland und das ukrainische Parlament setzte Neuwahlen an.
Russland konnte also nicht mehr so stark Einfluss auf die ukrainische Politik ausüben, wie das noch unter Janukowytsch möglich gewesen war. Im März 2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim – eindeutig ein Völkerrechtsbruch. Kurz darauf begann Russland den verdeckten Krieg im Donbas. Und griff am 24. Februar 2022 schließlich die gesamte Ukraine an.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Ulla fragt: „Lernen wegen des russischen Angriffskriegs weniger Menschen Russisch? Die Sprache wird ja oft mit dem Land gleichgesetzt.“
Es gibt zwar nicht überall exakte Zahlen, doch der Trend ist klar: Immer weniger Menschen wollen Russisch sprechen oder lernen. Exemplarisch habe ich mir die Entwicklung in drei Ländern angeschaut: Deutschland, Ukraine und Georgien.
In Deutschland lernen immer weniger Menschen Russisch, die Zahlen gingen aber schon lange vor Beginn des großen Angriffskrieges zurück. Im Schuljahr 2020/21 lernten 94.000 Schüler:innen in Deutschland Russisch – ein Rückgang von 83 Prozent gegenüber 1992/93, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen. Russischlehrer:innen gehen davon aus, dass die Zahlen wegen des Angriffskrieges noch weiter sinken werden.
In der Ukraine selbst sprechen einige Ukrainer:innen im Alltag Russisch oder haben Russisch als Muttersprache. Oft kommt es auch vor, dass sie beide Sprachen, also Ukrainisch und Russisch, nutzen – oder sie gar vermischen zu einem Sprachmix, der Surschyk genannt wird. Insgesamt gibt es aber einen Trend weg von der russischen Sprache. Im Jahr 2021 benannten in verschiedenen Umfragen zwischen zehn und 20 Prozent der Ukrainer:innen Russisch als ihre Muttersprache. 20 Jahre vorher, im Jahr 2001, waren es noch 30 Prozent.
Seit dem 24. Februar entscheiden sich viele Ukrainer:innen bewusst dazu, generell weniger Russisch zu nutzen: Musiker:innen wechseln in ihren Liedern von Russisch zu Ukrainisch, Nutzer:innen von Sozialen Medien schreiben ihre Posts nur noch auf Ukrainisch und diejenigen, die vorher nicht so gut Ukrainisch konnten, bemühen sich jetzt, es zu lernen. Für manche ist es ein symbolischer Akt, für andere ist es inzwischen traumatisierend, mit der russischen Sprache in Kontakt zu kommen.
Ich habe mir die Zahlen auch für Georgien angeschaut, dessen Geschichte einige Gemeinsamkeiten mit der Ukraine hat. Und auch hier ist Russisch immer unbeliebter. Georgien war Teil der Sowjetunion, weshalb die Menschen dort viele Jahre Russisch lernten und teilweise bis heute im Alltag nutzen. Doch seit sich Georgien 1991 für unabhängig erklärt hat, seit Russland 2008 in Georgien einmarschierte und der Konflikt um die abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien schwelt, haben sich viele Georgier:innen von Russland und der russischen Sprache abgewandt.
Dieser Trend hat sich seit dem 24. Februar verstärkt, denn die meisten Georgier:innen sind sehr solidarisch mit der Ukraine. Das hat Konfliktpotential, denn viele Russ:innen fliehen aus Angst vor Repressionen und der Mobilisierung ausgerechnet nach Georgien. In Restaurants in Georgien liegen häufig Zettel aus, die sich an Russ:innen richten und sie auffordern, Englisch und nicht Russisch zu sprechen.
Dafür lernen nun aber deutlich mehr Menschen Ukrainisch – und zwar auf der ganzen Welt. Die Sprach-App Duolingo verzeichnet einen unglaublichen Anstieg an Nutzer:innen, die Ukrainisch lernen. Ende März lernten weltweit fast sechs Mal mehr Menschen Ukrainisch über die App wie vor dem 24. Februar. In Polen sind es sogar rund 27 Mal mehr.
Der Link der Woche
Charkiw gilt als die Bücherhauptstadt der Ukraine, ein Großteil der ukrainischen Bücher wird dort gedruckt. Ein Reporter von Katapult hat die größte Druckerei der Region besucht und mit den Mitarbeitenden darüber gesprochen, warum viele ihrer Kolleg:innen an der Front kämpfen und warum es keine einzige russische Maschine in der Druckerei gibt. Die ganze Reportage könnt ihr hier nachlesen.
Die Hoffnung der Woche
Der weltberühmte Musiker Paul McCartney hat auf einem Konzert auf einer blau-gelben Gitarre gespielt und sie anschließend für 76.800 US-Dollar versteigert. Das Geld soll Menschen in der Ukraine zugute komen.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Tarek Barkouni, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert