Aufbäumen der Unzufriedenen: Wie es um die politische Opposition in Russland steht
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Aufbäumen der Unzufriedenen: Wie es um die politische Opposition in Russland steht

Der russische Regime-Kritiker Boris Nemzow wurde ermordet. Was bedeutet das für die Opposition? Welche Rolle spielt sie überhaupt im politischen System Russlands? Eine Spurensuche.

Profilbild von Oliver Bilger

Er kannte seine Schwäche – und kämpfte trotzdem weiter für ein anderes Russland. Noch kurz vor seinem Tod hatte Boris Nemzow in einem Interview erklärt: „Die Opposition hat zurzeit nicht viel Einfluss auf die Russen.“ Nur Stunden später starb der Kreml-Kritiker in einer feuchtkalten Moskauer Winternacht. Unbekannte hatten ihn mit mehreren Pistolenschüssen niedergestreckt, regelrecht hingerichtet, nur einen Steinwurf von den Kremlmauern entfernt.

Für Sonntag war ursprünglich eine Protestaktion der Opposition geplant, ein Anti-Krisen-Marsch, eine Demonstration gegen die Politik von Präsident Wladimir Putin. Auf 100.000 Teilnehmer aus der russischen Hauptstadt hatten die Organisatoren, darunter Nemzow, gehofft. Etwa so viele, wie im Winter vor drei Jahren auf die Straße gingen – und kurz die Hoffnung auf einen Wandel in Russland beflügelten.

Seit Jahren ist die Opposition im Land marginalisiert. Seit dem Krieg in der Ukraine steigt die Stigmatisierung Andersdenkender, die Zustimmung in der Bevölkerung ist zuletzt gesunken. Welche Rolle spielt die Opposition im Russland von 2015? Um dies zu verstehen, muss man zurückblicken.

Ein kurzes Hoch für die Oppositionsbewegung

Vor drei Jahren kamen trotz eisiger Kälte Zehntausende, die meisten aus der Mittelschicht, um im Stadtzentrum gegen Wahlfälschungen und die korrupte Elite ihres Landes zu demonstrieren. Sie forderten mehr politische Mitsprache und faire Wahlen. Die politisch sonst meist passiven Russen schienen die Missstände in ihrem Land nicht länger hinnehmen zu wollen. Eine solch mächtige Unterstützung für die Ziele der Opposition war zuvor undenkbar gewesen. Ebenso, dass die Machthaber solche Großdemonstrationen im Zentrum Moskaus zulassen würden. All dies wirkte wie ein plötzlicher Aufbruch.

Zuvor hatte die Opposition kaum eine Rolle gespielt, war lange Zeit nicht mehr als eine Randerscheinung. Das Staatsfernsehen ignorierte sie. Zu Protestaktionen kamen nur wenige Menschen zusammen. Es fehlte an einer ausgeprägten öffentlichen Streit- und Protestkultur. Die Mehrheit hatte sich mit der politischen Realität abgefunden.

Ungeschriebener Vertrag: Wohlstand gegen Mitbestimmung

Das hatte vor allem einen Grund: Die Sehnsucht nach Stabilität und Berechenbarkeit des Lebens war größer als der Wunsch nach politischer Mitsprache. Nach den chaotischen Neunzigerjahren unter der Führung von Boris Jelzin, kehrte mit dem neuen Präsidenten, Wladimir Putin, endlich Stabilität in Russland ein. Der steigende Ölpreis sorgte für einen Wirtschaftsaufschwung, mit ihm wuchs der Wohlstand der Bevölkerung. Den wollten die wenigsten wieder aufgeben, schon gar nicht für demokratische Ideen, die für sie gleichbedeutend waren mit den Problemen des vergangenen Jahrzehnts. Statt für Politik interessierten sich die Menschen vor allem für ihre eigene materielle Situation und die Verwirklichung eigener Ziele. Nach einem Leben im engen Korsett der Sowjetunion und den Jahren nach dem Zerfall, war dies nun erstmals möglich.

So nahmen die Russen in Kauf, dass Präsident Putin bald vor allem die Festigung seiner Macht vorantrieb und das politische System zur „gelenkten Demokratie“ umbaute. Der Kreml übernahm die Kontrolle der Medien und schaltete Störfaktoren wie etwa die Oligarchen aus. Zwischen Regierenden und Volk galt in den 2000er Jahren ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag: Das Volk bekommt ein Stück vom Wohlstand ab, dafür mischten sich die Bürger nicht in die Politik ein und störten die Elite nicht, während diese die größten Pfründe unter sich aufteilte. Was andernfalls passieren konnte, machte der Fall Chodorkowskij deutlich.

Im Parlament saß und sitzt nach bis heute nur eine Systemopposition, die bei der Politik-Inszenierung eine Rolle bekleidet, im Grunde aber keine Relevanz hat. Kritische Organisationen und Medien gab und gibt es noch immer – als ein Feigenblatt für den Staat, der vorgibt eine Demokratie zu sein.

Die übergroße Mehrheit der Russen vermisste eine wirkliche Opposition nicht. Niemandem aus den zersplitterten Lager traute sie es zu, das Land besser zu führen als Wladimir Putin und seine Vertrauten. Viele fürchteten, ein Machtwechsel würde nur andere an die Spitze bringen, die sich vor allem selbst bereichern wollen. Besonders jenen Aktivisten, die einst Teil des Establishments waren, früher Regierungsämter bekleideten, begegneten sie skeptisch. Dazu zählte auch Boris Nemzow, der in den Neunzigern Vizeregierungschef unter Präsident Boris Jelzin war.

Erst während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, die Russland 2009 traf, bekam Russlands etablierte Gesellschaftsordnung allmählich Risse. Doch es dauerte noch bis zum Ämtertausch von Putin und Marionettenpräsident Dmitrij Medwedjew im Jahr 2011, bis die Stimmung kippte. Als es bei folgenden Duma-Wahl zu Fälschungen kam, wollten selbst jene nicht mehr alles nur still ertragen, die der Politik in den Jahren zuvor keine Beachtung geschenkt hatten. Verschiedene Gruppierungen, vom ganz linken bis zum rechten Rand der Gesellschaft, gingen gemeinsam auf die Straße und forderten lautstark ein „Russland ohne Putin“. Dies war der gemeinsame Nenner für die sonst zersplitterte Opposition. Ein Neuanfang lag in der Luft.

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Doch das System Putin wehrte sich gegen die aufkommende Bewegung. Eine Protestaktion am Vorabend der Amtseinführung des Präsidenten endete mit Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten. Teilnehmer wurden verhaftet und landeten wegen „Teilnahme an Massenunruhen“ vor Gericht. Die Behörden verfolgten die Demonstranten durch Moskau, durchsuchten ihre Wohnungen. Es war eine Zäsur nach den friedlichen Demonstrationen der vorangegangenen Wochen und Monaten. Viele Teilnehmer waren enttäuscht, weil sie nichts verändern konnten.

Daumenschrauben für Kreml-Gegner

Putin zog die Daumenschrauben an. Innerhalb weniger Monate nach seiner Rückkehr in den Kreml verschärfte Russland das Versammlungsrecht und erschwert seitdem Protestaktionen. Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, müssen sich als „ausländische Agenten“ brandmarken lassen. Der Tatbestand des Landesverrats wurde ausgeweitet und Verleumdung wieder ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Strengere Gesetze im Internet richten sich gegen kritische Seiten und Blogger, die der Staat nun stärker kontrollieren kann.

Im Sommer 2012 wurden die Mitglieder von Pussy Riot wegen ihres Protestes in einer Moskauer Kathedrale zu Haftstrafen verurteilt. Dem Duma-Abgeordneten Gennadij Gudkow, der die Straßenproteste unterstützt hatte, entzog das Parlament das Mandat. Offiziell wegen illegaler Nebentätigkeiten als Geschäftsmann. Gudkow aber kritisierte eine „politische Hetzkampagne“ und nannte das Vorgehen einen Versuch, die Opposition einzuschüchtern. Weitere Aktivisten wurden unter Hausarrest gestellt oder mit Klagen überzogen, so wie der Alexej Nawalny, Jurist und einer der Anführer der Opposition.

So zerfiel die Opposition schnell wieder in ihre heterogenen Einzelteile, ohne eine klare Führung. Ein im Oktober 2012 gegründeter Koordinierungsrat löste sich nach nicht einmal einem Jahr wieder auf – zu zerstritten waren die darin vertretenden Gruppen. Ein Gerichtsurteil gegen Nawalny führte im Sommer 2013 noch einmal zu einem kurzen Aufbäumen der Unzufriedenen: Einige Tausend gingen auf die Straße, doch die Bereitschaft für den großen Straßenprotest in der Bevölkerung war deutlich zurückgegangen. Resignation und Pragmatismus bestimmte inzwischen wieder ihren Alltag. Politische Diskussionen werden seitdem, wie zu Sowjetzeiten, bevorzugt am heimischen Küchentisch geführt.

Krise und Krieg in der Ukraine haben die Situation heute noch einmal verschärft. Die Opposition ist nun nicht mehr bloß marginalisiert, sie ist nach Hetz- und Diffamierungs-Kampagnen geradezu geächtet. Die Propaganda des vergangenen Jahres hat die Stimmung gegen Andersdenkende vergiftet. In den Staatsmedien werden sie als Unterstützer der sogenannten Kiewer Junta diffamiert. Im Internet kursieren Listen angeblicher Nationalverräter. Diese Klima aus gesteigertem Patriotismus, Paranoia, Hass und Gewalt könnte Nemzow das Leben gekostet haben, glauben seine Mitstreiter. Die Oppositionspolitikerin Irina Prochorowa warnte bereits vor Monaten, dass Menschen „pogromhafte Kampagnen“ anzetteln könnten.

Der Kreml fürchtet einen russischen Maidan

Andererseits fürchtet sich der Kreml vor einem möglichen Maidan in Moskau: vor einem Umsturz wie in der Ukraine. Entsprechend dünnhäutig reagiert die Elite auf Kritik im Inneren. Als die Opposition im Januar zu Protesten gegen ein weiteres Urteil gegen Nawalny aufrief, verlegte das Gericht den Schuldspruch kurzerhand zwei Wochen nach vorne – einen Tag vor Silvester. Weit weniger Menschen gingen auf die Straße, als davor dem Aufruf in sozialen Netzwerken gefolgt waren.

Dabei hat der Zuspruch für Präsident Putin und seine Politik im vergangenen Jahr deutlich zugenommen und seine Beliebtheit in ungeahnte Höhen katapultiert. Die Mehrheit in Russland findet, dass sich das Land in die richtige Richtung bewegt. 86 Prozent Zuspruch erhielt Putin in Umfragen des renommierten Lewada-Zentrums Ende Februar. Die Abkehr vom Westen, Sanktionen, Inflation und Rubelkrise können dem Putin bislang wenig anhaben, selbst wenn Experten immer wieder vor möglichen sozialen Unruhen warnen. Die Bereitschaft zu Protesten war in den vergangenen Monaten so gering wie seit vielen Jahren nicht mehr.

Die schwache Opposition ist weiterhin kaum eine Gefahr für Putin. Die Mehrheit in der Bevölkerung hält sie nicht einmal für dringend erforderlich: Nur etwa jeder Zweite gab nach Umfragen des renommierten Lewada-Zentrums an, dass Russland eine Opposition brauche, 2012 waren es noch 72 Prozent. Mit den führenden Köpfen der Opposition sympathisieren nur 15 Prozent der Befragten. Der Kreml fürchtet jedoch Proteste, weil sich die sozialen Verhältnisse im Land verschlechtern. In Umfragen halten dies jedoch noch zwei Drittel für unwahrscheinlich.

Oppositionelle verlassen Russland

Einige Kritiker haben ihrer Heimat aufgrund der Stimmung gegen sie inzwischen den Rücken gekehrt. Bereits im Sommer 2013 erklärte der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, er werde aus Angst vor Strafverfolgung vorerst nicht nach Russland zurückkehren. Seitdem lebt er im Schweizer Exil.

Ilja Ponomarjow, Duma-Abgeordneter, stimmte im Parlament vor einem Jahr einziger gegen die Krim-Annexion. Im Sommer erklärte auch er, dass er von einer Reise nicht mehr zurückkehren werde – aus Angst vor Repressionen. Tatsächlich hatten ihn die Strafverfolger ins Visier genommen. Es geht um Honorare für seine Tätigkeit im Innovationsstädtchen Skolkowo, die ihm nicht zustehen sollen. Der vor knapp einem Jahr begnadigte Michail Chodorkowskij hat ebenso keine Rückkehr-Pläne, er lebt heute in der Schweiz.

Die Schwäche der Opposition liege darin, so Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, dass die meisten Menschen von den Oppositionsführern enttäuscht seien, weil sie die Aktivitäten in der Vergangenheit bislang nicht in eine zielgerichtete, systematische politische Bewegung umwandeln konnten. Es seien keine Massenproteste zu erwarten, erklärte er noch vor wenigen Tagen. Möglich seien diese nur, falls die Opposition sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könne. Doch die Aktivisten litten unter staatlichem Druck und Demoralisierung – große Aktionen seien deshalb kaum zu erwarten.


Am Sonntag gab es statt des geplanten Anti-Krisen-Marsches einen Trauermarsch zum Gedenken an Nemzow. Dass dabei mehrere Zehntausend auf die Straße gingen, ist ein Beleg, dass nicht jeder in Russland resigniert und die aktuelle Politik schweigend hinnimmt. „Russland ohne Putin“, forderten einige in Sprechchören, und „kein Krieg“. Doch es war keine lauter Protest wie vor drei Jahren. Michail Kasjanow, früher Ministerpräsident unter Putin und heute in der Opposition, forderte seine Mitstreiter auf, ihre Anstrengungen zu vereinigen, um sich möglichen Repressionen zu widersetzen. Der Aktivist Dmitrij Gudkow stilisierte den Trauermarsch im Vorfeld zu einem Signal der Aktivisten: Die Teilnehmerzahl werde alles über die weitere Zukunft der Opposition aussagen, erklärte er. Die Menschenmassen im Zentrum von Moskau waren beeindruckend. Für den Moment. Was als nächstes folgt, ob die Opposition daraus vielleicht neue Kraft schöpfen kann, wird sich erst zeigen müssen.


Aufmacher-Foto: Dhārmikatva - Eigenes Werk, Wikipedia, CC BY-SA 3.0: Nemzow am 15. März 2014 auf dem Friedensmarsch in Moskau: „Für Russland und Ukraine ohne Putin!“