Vergangene Woche stand der dritte Weltkrieg kurz bevor – wenn man den Gerüchten in den sozialen Medien glaubt. Am Dienstag war eine Rakete in Polen nahe der ukrainischen Grenze eingeschlagen. Einige fürchteten einen russischen Angriff auf den Nato-Staat Polen. Doch Polen selbst reagierte besonnen und erklärte schon am Mittwoch, dass es sich vermutlich nicht um eine russische Rakete, sondern um eine ukrainische Flugabwehrrakete handelte.
Es ist also nochmal gut ausgegangen. Deshalb geht es heute um ein anderes Thema: Ein Gericht hat drei Männer verurteilt, die für den Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 in der Ukraine vor acht Jahren verantwortlich sind. Wie das mit dem jetzigen Krieg zusammenhängt, erkläre ich dir heute. Außerdem beantworte ich die Frage, was eigentlich die ukrainische Linke über den Krieg denkt. Und wie immer gebe ich dir eine kleine Portion Hoffnung mit.
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Was ist gerade wichtig?
Acht Jahre ist der Abschuss des malaysischen Flugzeugs mit der Flugnummer MH17 her, 298 Menschen starben. Jetzt hat ein niederländisches Gericht drei Angeklagte wegen Mordes verurteilt, der vierte Angeklagte wurde freigesprochen. Das Gericht verurteilte sie zu lebenslangen Haftstrafen und zur Zahlung von 16 Millionen Euro an die Angehörigen der Opfer. Allerdings war keiner der Angeklagten anwesend, und auch, ob sie ihre Strafe je antreten werden, ist unklar. Sie sollen sich in Russland befinden.
Warum ist das Urteil so bedeutend?
Es ist ein handfestes Gerichtsurteil im Nebel aus Lügen und Propaganda. Russische Kräfte haben das Flugzeug am 17. Juli 2014 über dem Gebiet der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“ abgeschossen. Russland führte damals bereits seit einigen Monaten einen verdeckten Krieg im Donbas – behauptet aber, dass „Separatist:innen“ dort gegen die Ukraine kämpfen würden. Bis heute ist die Erzählung weit verbreitet, dass es im Donbas einen Bürgerkrieg gegeben und Russland damit nichts zu tun habe.
Jetzt hat das Gericht aber klargestellt: Russland hatte „volle Kontrolle“ über das Gebiet von Donezk. Der Kreml koordinierte „Ministerposten“ und Waffenlieferungen in den Donbas. Zwei der drei Verurteilten, Igor Girkin und Sergej Dubinskij, sind russische Staatsbürger. Der dritte Verurteilte, Leonid Chartschenko, ist ukrainischer Staatsbürger. Auch das zeigt, dass es sich bei den „Separatist:innen“ im Donbas in Wirklichkeit oft um Personen aus Russland handelt.
Zwar deutete schon damals viel darauf hin, dass russische Kräfte für die Katastrophe verantwortlich waren. Doch die russische Propaganda begann sofort mit einer Kaskade aus Falschinformationen: Die Personen in dem Flugzeug seien schon vorher tot gewesen, hieß es zum Beispiel; oder die Ukraine sei schuld und habe auf ein Flugzeug mit Wladimir Putin schießen wollen; oder es sei gar kein Abschuss gewesen, sondern eine Bombe an Bord sei explodiert. Eine Auflistung aller russischen Falschmeldungen zum Abschuss der MH17 findest du hier.
Das Gericht in Den Haag hat den Vorfall akribisch aufgearbeitet und klargestellt, wer wirklich hinter dem Abschuss des Flugzeugs steckt. Das ist wichtig für die Angehörigen der Verstorbenen. Und es zeigt auch, dass die Rechtsstaatlichkeit stärker ist als Fake News und Propaganda.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Lou fragt: „Gibt es in der Ukraine eine linke Friedensbewegung, die Krieg kategorisch ablehnt und lieber Russland Zugeständnisse machen würde?“
Gegen Krieg, gegen Waffen, für Frieden: Das gehört zu den Kernthemen linker Bewegungen und Parteien. Doch seit Russland die Ukraine angegriffen hat, haben Linke in West- und Osteuropa nicht mehr viel gemeinsam.
Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Politik und Abrüstung der Linkspartei, hält Waffenlieferungen an die Ukraine für „brandgefährlich“. Sahra Wagenknecht, eine der bekanntesten aber auch umstrittensten Linkenpolitiker:innen, sieht bei den USA eine Mitschuld, dass der Krieg gegen die Ukraine immer weiter eskaliere. Und Noam Chomsky, einer der bekanntesten Linken weltweit, sagte in einem Interview, dass die Krim „vom Tisch“ sei und meinte damit, dass sie russisches Territorium sein solle.
All das sind Positionen, die Ukrainer:innen, auch ukrainische Linke, heftig kritisieren. Doch der Zwiespalt geht noch tiefer. Zu einer linken Agenda gehört eigentlich, Imperialismus abzulehnen und die Mächtigen herauszufordern. Es hat deshalb Tradition, die Weltmacht USA zu kritisieren. Es war die Friedens- und Hippiebewegung, die in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg protestierte und es waren vor allem Linke, die den Krieg der USA gegen den Irak 2003 verurteilten. Und hier beginnt der Konflikt: Linke in Westeuropa und den USA konzentrieren sich auf amerikanischen Imperialismus und übersehen dabei den russischen Imperialismus, wegen dem sich Russland die Ukraine unterwerfen will. Sie sehen die Nato-Osterweiterung als imperialistischen Vorstoß in Osteuropa und äußern Verständnis für Russland, das sich dadurch angeblich bedroht fühle. Die Ukrainer:innen dagegen schweben täglich in Lebensgefahr – und zwar wegen des russischen Imperialismus.
Die „eine Linke“ gibt es natürlich nicht. Linke Positionen sind ein Spektrum. Doch einige Menschen in diesem Spektrum sympathisieren mit sozialistischen Ideen und idealisieren deshalb in Teilen die Sowjetunion. Und hier beginnt das nächste Problem: Viele Menschen aus Westeuropa setzen das heutige Russland mit der damaligen Sowjetunion gleich, obwohl ja auch Länder wie Aserbaidschan, Belarus und eben die Ukraine Teil der Sowjetunion waren. Doch aus diesem Irrtum heraus sympathisieren viele westliche Linke mit dem heutigen Russland, das sie als Nachfolger der UdSSR begreifen.
Das können Ukrainer:innen – egal aus welchem politischen Lager – nicht verstehen. Denn sie verbinden die Sowjetunion mit Repressionen, wie etwa der Unterdrückung der ukrainischen Sprache,
oder mit dem Holodomor, einer Hungersnot, die Stalin absichtlich herbeiführte und bei der mindestens drei Millionen Ukrainer:innen starben.
Dazu kommt, dass Russland über linke Parteien versucht hat, die ukrainische Politik zu beeinflussen. Im März hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deshalb elf Parteien mit Verbindungen zu Russland für die Dauer des Krieges verboten. Dazu gehört zum Beispiel die „Sozialistische Partei der Ukraine“ oder die „Oppositionsplattform – für das Leben“. Der Chef der letzteren Partei ist Wiktor Medwedtschuk, ein Oligarch und persönlicher Freund von Wladimir Putin.
Gibt es nicht doch Linke in der Ukraine, die sich für ein Kriegsende ohne Waffen einsetzen? Ich habe zumindest keine gefunden. Im Gegenteil: Die ukrainische linke Organisation „Sozialnyj Ruch“ schreibt in einem Blogeintrag, dass Linke in anderen Ländern Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen sollten. Sie müssten erkennen, „dass eine Front gegen den Imperialismus ohne bewaffneten Widerstand unmöglich ist.“ Und sogar ukrainische Anarchist:innen, die eigentlich keine staatlichen Strukturen unterstützen, haben sich zusammengeschlossen, um in der ukrainischen Armee zu kämpfen.
Der Link der Woche
Die Hafenstadt Odessa ist berühmt für ihre Strände, Architektur und die jüdische Kultur. Das Stadtzentrum wurde bisher von russischen Angriffen verschont – trotzdem ist der Krieg in der Stadt zu spüren. Diese 10-minütige Minidoku von Arte führt an einem Sommertag durch Odessa.
Die Hoffnung der Woche
Anfang April fand jemand einen halb verhungerten und struppigen Kater unter einem Trümmerteil in der Nähe von Kyjiw. Der Kater wurde „Phönix“ getauft und bekam dann ein neues Zuhause in einem Zooladen in Kyjiw. Inzwischen hat Phönix seinem Namen alle Ehre gemacht und fünf Kilo zugenommen. Auf Instagram ist er ein Star: Die Zoohandlung schreibt dazu: „Geduld, Liebe, wieder Geduld … und das ist das Ergebnis.“
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger