In Transnistrien ist nichts richtig echt: das Geld, die Flagge, die Grenze. Nichts davon ist offiziell anerkannt, und doch existiert es. Wer sich in Transnistrien etwas kaufen will, muss mit transnistrischen Rubeln bezahlen, die rot-grün-rote Flagge weht an jeder Ecke und an der Grenze kontrollieren transnistrische Beamt:innen alle Reisenden.
Vielleicht hat Transnistrien deshalb auch kein Problem damit, mitten im Stadtzentrum vor einer Uni eine Harry-Potter-Statue aufzustellen, keine eineinhalb Kilometer von einem riesigen Lenin-Denkmal entfernt. Lenin gab es wirklich, Harry Potter nicht. Aber was es gibt und was nicht, das entscheidet Transnistrien selbst.
Transnistrien ist ein De-facto-Staat in Osteuropa. Er liegt zwischen der Ukraine und der Republik Moldau, zu der Transnistrien völkerrechtlich gehört. Transnistrien wird von keinem Staat der Welt anerkannt und hat trotzdem alles, was ein Land braucht: eine eigene Armee, Pässe für seine Bewohner:innen und eine Hymne. Transnistrien wird von Russland unterstützt. Der Zwist um die Region gehört zu den vielen sogenannten eingefrorenen Konflikten im postsowjetischen Raum. Durch eine Waffenruhe stillgelegt, aber ohne, dass ein Kompromiss in Sicht wäre, so wie wir es aus Abchasien, Südossetien und Bergkarabach kennen.
Der eingefrorene Konflikt taut gerade auf
Ich treffe eine Frau, die sich mir als Vera vorstellt. Eigentlich wollte ich nur nach dem Weg zur Uni fragen. Vera, kurze Haare und dunkle Sonnenbrille, steht vor einer der unzähligen Lenin-Statuen. Viele von denen haben dieselbe Pose, sagt Vera. Der ausgestreckte rechte Arm deutet in die Ferne. „Er zeigt den Weg in die strahlende Zukunft, sagt man“, erklärt Vera und lacht laut. Zum Abschied umarmt sie mich.
Viele Menschen in Transnistrien haben gerade Angst, dass diese Zukunft gefährdet sein könnte. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine scheint der Konflikt in Transnistrien aufzutauen – oder sogar bereits vor sich hinzuschwelen, jederzeit bereit zum Ausbruch. Beobachter:innen befürchten einen Angriff nach russischem Drehbuch, also einen Krieg, der mit dem Schutz der russischsprachigen Menschen in Transnistrien begründet wird. Das ist das Narrativ, mit dem Putin auch die Ukraine überfiel.
Sind Transnistrien und Moldau also als Nächstes dran? Wird Russland hier einmarschieren? Und was wollen eigentlich die Menschen in Transnistrien? Um das herauszufinden, bin ich nach Tiraspol gefahren, die Hauptstadt des selbsternannten Staates. Die Antworten sind, soviel kann ich schon verraten, komplizierter als gedacht.
Russland bedroht Moldau immer wieder. Im Juni behauptete der russische Außenminister Sergej Lawrow, dass Moldau versuche, „alles Russische abzuschaffen“ und im August drohte er mit einer „militärischen Konfrontation“, wenn es eine „Bedrohungssituation“ für die Sicherheit russischer Truppen in Transnistrien gebe. Eine beständige Bedrohung ist auch, dass sich seit den 1990er Jahren etwa 1.500 russische Soldat:innen zur „Friedenssicherung“ in Transnistrien befinden.
Transnistrien gilt als sowjetisches Freilichtmuseum
Auf den ersten Blick erscheint mir Transnistrien kurios. Reiseberichte bezeichnen es gerne als „das Land, das nicht existiert“ oder als „sowjetisches Freilichtmuseum“. Transnistrien soll in der Vergangenheit hängen geblieben sein, mit Lenin-Statuen an jeder Ecke und Hammer und Sichel auf der Flagge, heißt es.
Von der moldauischen Hauptstadt Chișinău fahren alle 20 Minuten Marschrutkas, kleine, meist klapprige Busse, in eineinhalb Stunden nach Tiraspol. Die Fahrt kostet 55 moldauische Lei, knapp drei Euro. Die Straßen sind genauso schlecht wie in Chișinău, die Hinterhöfe und Plattenbauten könnten genauso gut in einer russischen Kleinstadt stehen. Man nennt die Plattenbauten „Chruschtschowkas“, weil sie in der damaligen Sowjetunion unter Chruschtschow massenweise gebaut wurden.
Doch Tiraspol ist mehr als nur Lenin-Statuen und Chruschtschowkas. Im Café Espresso-Zimmer bildet sich morgens eine lange Schlange, die meisten holen sich einen Coffee to go. Es gibt Donuts und Bagels, aus dem Lautsprecher schallt „Hangover“ von Taio Cruz und Flo Rida. Im Restaurant Toscana bestellt sich der Mann am Nebentisch ein „Business-Lunch“ und arbeitet am Laptop. Er telefoniert abwechselnd auf Russisch und auf Englisch. Das wirkt nicht gerade wie ein „sowjetisches Freilichtmuseum“.
Der Konflikt zwischen Transnistrien und Moldau begann mit dem Zerfall der Sowjetunion. Wie viele andere ehemalige Sowjetrepubliken erklärte sich die Republik Moldau 1991 für unabhängig und erklärte Rumänisch zur einzigen Amtssprache. Gleichzeitig bildete sich eine Gegenbewegung im Osten des Landes: Deren mehrheitlich russischsprachige Anhänger:innen wollten in der Sowjetunion bleiben und Russisch als Amtssprache behalten. Als sie ihre Forderungen nicht durchsetzen konnten, flohen sie nach Tiraspol, der heutigen Hauptstadt Transnistriens und erklärten ihre Unabhängigkeit von Moldau.
Der Konflikt eskalierte 1992 und Moldau versuchte, die abtrünnige Region zurückzuerobern. Auf der Seite Moldaus kämpften rumänische Freiwillige, auf Seiten Transnistriens russische und ukrainische Freiwilligenverbände. Nach vier Monaten griff die 14. Gardearmee ein, eine Einheit der russischen Streitkräfte, und erzwang einen Waffenstillstand. Insgesamt starben in dem kurzen Krieg mehr als 1.000 Menschen. Seitdem ist Transnistrien – de facto – unabhängig.
Russland ist Transnistriens bester Freund
Während ich durch die Stadt laufe, merke ich sofort, dass Russland als Schutzmacht Transnistriens sehr präsent ist. An allen öffentlichen Gebäuden, wie zum Beispiel dem Justizministerium, hängt nicht nur die transnistrische rot-grün-rote Flagge, sondern auch die russische. Was mir aber auch auffällt: Ich sehe keine Plakate mit dem Z-Symbol oder dem schwarz-orangenen Georgsband. Das sind Symbole, die in Russland zur Unterstützung des Krieges in der Öffentlichkeit an Autos, Gebäuden oder Plakatwänden hängen.
Ob die Menschen in Transnistrien zu Russland gehören wollen, ist schwierig herauszufinden. Die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt, Wahlen und Umfragen sind oft nicht vertrauenswürdig. Die Nichtregierungsorganisation Freedom House bewertet Transnistrien als „nicht frei“. 2022 erreichte Transnistrien auf dem Global Freedom Score 20 von 100 Punkten.
Laut der Umfrage eines russischen Umfrageinstituts von 2016 glaubten 86 Prozent der in Transnistrien Befragten, dass der Beitritt zu Russland der beste Weg für die Entwicklung Transnistriens sei. Selbst wenn man diese Zahl nicht allzu ernst nimmt, gehen auch Expert:innen davon aus, dass es einen recht großen Teil in der Bevölkerung gibt, der sich Russland zumindest zugehörig fühlt.
Vor einem gelb gestrichenen Universitätsgebäude probt eine Gruppe junger Menschen einen Tanz. „Und noch einmal!“, ruft eine Studentin. Sie tritt nach links, nach rechts und hüpft. Ich schaue ein wenig zu und treffe Dima und Roman. Ihre echten Namen wollen sie nicht nennen. „Sie wissen ja, dass es gefährlich sein kann, auf manche Fragen zu antworten“, sagt Roman. Die beiden sind 18 Jahre alt und studieren seit wenigen Wochen Geografie an der staatlichen Taras-Schewtschenko Universität. Sie stehen am Anfang ihres Erwachsenenlebens – in einer Region, die für junge Menschen wenig Perspektiven bietet.
Zwischen 1990 und 2019 ist die Bevölkerungszahl in Transnistrien nach Schätzungen des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) um ein Drittel auf rund 465.000 Personen zurückgegangen. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber der Großteil derjenigen, die das Land verlassen, sind zwischen 15 und 34 Jahre alt und wollen im Ausland studieren oder arbeiten. „Viele wollen weg, weil sie hier keine großen Perspektiven sehen“, sagt Roman. Dima sagt: „Zumindest ist es hier gerade besser als in Moskau. Immerhin gibt es hier die Chance, nicht zu sterben.“ In Russland werden zu dem Zeitpunkt unseres Gesprächs Männer einberufen, um im Krieg gegen die Ukraine zu kämpfen.
Inzwischen hat der Rest der Gruppe den Tanz zu Ende geprobt, sie haben ihn für ein Event an der Uni einstudiert. Nach und nach löst sich die Gruppe auf. Aber Roman und Dima bleiben, sie wollen noch erzählen. Die beiden antworten sehr nachdenklich auf meine Fragen. „Wenn man ganz ehrlich ist, dann befindet sich Transnistrien unter der Kontrolle von Moskau“, sagt Dima. Und Roman erklärt, dass er sich mehr Meinungsfreiheit, zum Beispiel in Form von Protesten wünscht. Er sagt aber auch: „Ich würde trotzdem sagen, dass hier nicht alles schlecht ist. Vor allem, wenn wir die Situation zum Beispiel mit Russland vergleichen.“
Als ich die beiden frage, was sie sich für die Zukunft Transnistriens wünschen, versichern sie sich erst noch einmal, dass ihre Namen auch wirklich anonym bleiben. Dann sagt Dima, dass er es am besten fände, wenn Transnistrien ein unabhängiges, von allen anerkanntes Land wird. Roman sieht es anders: „Ich würde mir wünschen, dass dieses Territorium zu Moldau gehört.“
Der eigentliche Chef von Transnistrien heißt Sheriff
In Transnistrien wird vor allem Russisch gesprochen und ohne Russland gäbe es den De-facto-Staat gar nicht. Die Bevölkerung von Transnistrien ist aber zu jeweils einem Drittel russisch, ukrainisch und moldauisch. Nach dem Angriff Russlands nahm Transnistrien viele ukrainische Flüchtende auf. Odessa ist nur 100 Kilometer entfernt. Und auch zu Moldau ist die Verbindung eng: Moldau liefert Transnistrien Gas, und Transnistrien liefert Moldau Strom. Weil kein Land der Welt die transnistrischen Pässe anerkennt, haben viele Menschen zusätzlich einen russischen, ukrainischen oder moldauischen Pass. Oder alle drei. Dima drückt es so aus: „Wir sitzen zwischen den Stühlen.“
Roman und Dima wissen, dass Transnistrien noch ganz andere Probleme hat als das Völkerrecht und die Abhängigkeit von Russland. In Transnistrien hat nämlich nicht nur Russland das Sagen, sondern vor allem Sheriff. Das ist eine Unternehmensgruppe, die 60 Prozent der Wirtschaft Transnistriens kontrolliert. Sheriff gehören unter anderem Supermärkte, Tankstellen und Öl-Depots. Außerdem finanziert Sheriff den Fußballclub Sheriff Tiraspol und hat einen Sportkomplex gebaut. Rise Moldova, ein investigatives Medium aus Moldau, nannte Transnistrien einmal „Sheriff-Republik“.
Zwei Oligarchen gründeten Sheriff in den 1990er Jahren und kontrollieren Transnistrien heute auch politisch: Von den 33 Abgeordneten des transnistrischen Parlaments sind 29 von der Partei „Erneuerung“, die von Sheriff gegründet wurde. Und auch die restlichen vier Abgeordneten stehen Sheriff nahe, etwa durch Geschäftsbeziehungen. Es gibt einen Witz in Transnistrien: Viele Staaten haben einen Supermarkt. Aber nicht jeder Supermarkt hat einen Staat.
Ich treffe mich mit einer, die Transnistrien zu einem besseren Ort machen will: Luisa Doroschenko ist Gründerin und Vorsitzende von „Media Zentr“. In der Organisation arbeiten ungefähr zehn Personen. Luisa arbeitet mit Folteropfern, beispielsweise mit Menschen, die für Verbrechen inhaftiert wurden, die sie vermutlich nicht begangen haben. Die Berichte, was genau ihnen zugestoßen ist, lese sie aber nicht durch, sagt sie. „Ich schütze mich auf diese Weise”, sagt sie. „Ich bin kein gleichgültiger Mensch, ich kann das nicht distanziert betrachten.”
Wer kritisch ist, der wird bedroht und eingeschüchtert
Nichtregierungsorganisationen werden bedroht und eingeschüchtert, wie in verschiedenen Berichten zur Menschenrechtslage in Transnistrien dokumentiert ist, beispielsweise von der moldauischen Organisation Promo-LEX oder dem US-Außenministerium.
Alle drei Jahre müsse sie bei einer Steuerprüfung Fragen beantworten, die überhaupt nichts mit Steuern zu tun hätten, berichtete Luisa. „Man hat den Eindruck, nicht beim Finanzamt, sondern beim KGB zu sitzen”, sagt sie. Beispielsweise habe sie sich bei einer solchen Steuerprüfung dafür rechtfertigen müssen, eine moldauische Kreditkarte zu benutzen – wie es die meisten Menschen in Transnistrien tun. Luisas Erzählung deckt sich mit dem Bericht des US-Außenministeriums, in dem steht, dass Nichtregierungsorganisationen von übermäßig restriktiven Gesetzen eingeschränkt werden.
Sieht sie sich als Gegenspielerin der De-facto-Regierung? „Wir sind offen dafür, mit ihnen zusammenzuarbeiten”, sagt Luisa. Alle demokratischen Länder seien durch undemokratische Phasen gegangen, sagt Luisa. „Man versucht zwar, uns zu kontrollieren”, sagt sie. „Aber in gewisser Weise ist das verständlich, denn wir sind eine besondere Region, die sich im Spannungsfeld geopolitischer Interessen befindet.”
Seit 1993 gibt es die sogenannten 5+2-Verhandlungen. Das sind regelmäßige Gespräche zwischen der Republik Moldau und Transnistrien. Russland, Ukraine und die OSZE sind die Mediatoren, die EU und die USA Beobachter. Diese Verhandlungen haben immer wieder kleine Erfolge erzielt: Wer beispielsweise ein in Transnistrien zugelassenes Auto besitzt, bekommt seit 2018 ein neutrales Nummernschild, um damit auch in andere Länder fahren zu können. Mit transnistrischen Nummernschildern wäre das nicht möglich, weil ja kein Land der Welt Transnistrien anerkennt. Solche Kompromisse erleichtern zwar den Alltag der Menschen – den Konflikt lösen sie aber nicht.
Transnistrien ist nur ein Werkzeug für Russland
Der Konflikt um Transnistrien ist seit 30 Jahren eingefroren. Seitdem existieren in der Bevölkerung beide Seiten nebeneinander: die prorussische und die andere. Der Konflikt aber geht über Transnistrien hinaus.
Russland nutzt ihn, um seinen Einfluss in der Region sicherzustellen. Solange Moldau einen ungelösten Territorialkonflikt hat, kann es nicht der EU beitreten. Russland hat so also ein konstantes Druckmittel gegen Moldau in der Hand.
Am nächsten Tag fahre ich mit der Marschrutka nach Chișinău zurück. Es ist typisch für eine Marschrutka, dass der Fahrer (es sind immer Männer) sie individuell schmückt, meist mit Teppichen und Wimpeln. Der, in dem ich sitze, hat verschiedene Flaggen aufgehängt: die transnistrische, die ukrainische, die russische, aber auch die amerikanische und eine EU-Flagge. Und ein bisschen steht diese Marschrutka, die durch die Weinberge von Tiraspol nach Chișinău fährt, für ganz Transnistrien.
Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Christian Melchert