Heute geht es in meinem wöchentlichen Newsletter um Cherson. Das ist die Stadt, auf die am Wochenende viele Ukrainer:innen angestoßen haben, weil sie sich wieder in ihren Händen befindet. Außerdem beantworte ich die Frage, ob es überhaupt Frieden geben kann, solange Putin an der Macht ist. Und ich gebe dir eine kleine Portion Hoffnung mit.
Was ist gerade wichtig?
Hupkonzerte, tanzende Menschen, ukrainische Flaggen: Die Stadt Cherson ist wieder unter ukrainischer Kontrolle. Seitdem können wir im Fernsehen und in sozialen Medien Videos von euphorisch feiernden Menschen in den Straßen der Stadt sehen. Und mit ihnen feiert die ganze Ukraine.
Cherson liegt im Süden der Ukraine und war seit Anfang März besetzt. Vergangene Woche kündigten die russischen Truppen ihren Rückzug an: Es ist eine ihrer größten Niederlagen in den vergangenen fast neun Monaten Krieg.
Welche Rolle spielt Cherson in diesem Krieg?
Cherson ist eines der vier Gebiete, das Russland Ende September annektiert hatte. Zuvor fand ein Scheinreferendum statt, bei dem nach russischen Angaben mehr als 87 Prozent für den Beitritt zu Russland gestimmt haben sollen. In einer pompösen Zeremonie, die im Staatsfernsehen übertragen wurde, erklärte Putin, dass diese Menschen nun „für immer russische Staatsbürger“ seien. Das kam jetzt anders.
Bedeutsam ist der Rückzug russischer Truppen auch deshalb, weil er ohne eine akute Bedrohung mit Atomwaffen geschah. Viele hatten befürchtet, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte, wenn russisches Staatsgebiet – also nach russischer Logik auch annektierte ukrainische Gebiete – bedroht sind. Doch das ist nicht passiert.
Und dann ist da noch die Lage: Cherson ist aus verschiedenen Gründen strategisch wichtig. Erstens liegt die Region nahe der Krim. Nun, da die Ukraine Cherson wieder kontrolliert, ist das Land einen Schritt näher an der Rückeroberung der von Russland annektierten Halbinsel. Von der Region Cherson aus wird die Krim außerdem mit Wasser versorgt, denn hier beginnt der Nord-Krim-Kanal, der zeitweise 85 Prozent des Frischwasserbedarfs der Krim deckte – nach der Annexion 2014 drehte die Ukraine der Krim das Wasser ab. Cherson war aber auch aus anderer Perspektive wichtig: Von Cherson aus wollten die russischen Truppen weitere Gebiete Richtung Westen erobern, vor allem die Hafenstadt Odessa. Doch diese Pläne sind erst mal Geschichte.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Jessica fragt: „Besteht überhaupt eine Möglichkeit auf Frieden, solange Wladimir Putin Russland regiert?“
Kurz gesagt: Kommt drauf an. Nämlich darauf, was genau Frieden bedeutet. Wenn es bedeutet, dass die Ukraine ihre Kampfhandlungen beendet und besetzte Gebiete an Russland abgibt, dann wäre ein Frieden mit Putin an der Macht vermutlich möglich. Allerdings wäre es kein echter Frieden in den besetzten Gebieten, denn die Menschen müssten weiterhin Verfolgung, Folter und Mord durch die russischen Besatzer:innen fürchten.
Es wäre ein sehr instabiler Frieden, denn es wäre unklar, ob sich Russland damit zufrieden geben würde. Auch die Annexion der Krim hat Russland nicht davon abgehalten, einen verdeckten Krieg im Donbas zu führen und am 24. Februar die gesamte Ukraine anzugreifen. Außerdem hält die Mehrheit der Ukrainer:innen laut Umfragen eine solche Lösung gerade nicht für akzeptabel.
Wie ich schon einmal in früheren Ausgabe des Newsletters erklärt habe, könnte der Krieg auch so enden, dass Machtkämpfe in Moskau dazu führen, dass sich Russland aus der Ukraine zurückzieht. Einfach gesagt: Unzufriedene Personen aus der Machtelite schwächen oder stürzen Putin und ordnen dann den Rückzug der russischen Truppen an.
Friedensverhandlungen mit Putin halten die meisten Expert:innen derzeit für unmöglich. „Die bisherigen Verhandlungen zeigen, dass es vor allem Moskaus Kriegsführung und seine Herangehensweise an Verhandlungen sind, die eine diplomatische Lösung untergraben“, heißt es in einem Paper der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Ein Abkommen mit Putin wäre unsicher, denn zu oft hat er in der Vergangenheit schon Abkommen gebrochen und die Grenzen der Ukraine missachtet. Wolodymyr Selenskyj hat Ende September Verhandlungen mit Putin per Dekret ausgeschlossen. Demnach sei Kyjiw nur zu Gesprächen mit Russland, nicht aber mit Putin bereit. Das Dekret war eine Reaktion auf die russische Annexion von ukrainischen Gebieten. Das alles macht Frieden, solange Putin an der Macht ist, unwahrscheinlich.
Der Link der Woche
Vassili Golod ist ARD-Korrespondent und interviewt Politiker:innen, Aktivist:innen und Expert:innen in der Ukraine – viral ging aber sein Interview mit dem neunjährigen Askold. Der Junge spielte auf einem Spielplatz, der kurz zuvor von einer Rakete getroffen worden war und sagte im Interview, dass er keine Angst habe – weil er Ukrainer ist und Ukrainer:innen hätten vor nichts Angst.
Im Podcast Freiheit Deluxe spricht Vassili Golod darüber, wie dieses Interview auf dem Spielplatz zustande gekommen ist und wieso ihn manche Ukrainer:innen dafür kritisierten. Außerdem spricht er darüber, was für ihn Freiheit ist und was es bedeutet, als Reporter aus der Ukraine zu berichten.
Die Hoffnung der Woche
Der Streetart-Künstler Banksy war wohl in der Ukraine und hat dort ein Kunstwerk hinterlassen. Auf seinem Instagram-Account postete der Künstler, dessen echter Name unbekannt ist, ein Foto von dem Werk. Das gilt als Bestätigung, dass es wirklich von ihm stammt. Das Graffito zeigt eine Frau, die Handstand macht, und befindet sich auf einem von Bomben zerstörten Gebäude. Das Werk findet sich wohl in Borodjanka, einem stark zerstörten Vorort von Kyjiw.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert