Die Warteschlange zieht sich entlang einer scheinbar endlosen Backsteinmauer rund um die Passbehörde in Nepals Hauptstadt Kathmandu. Durch die glänzenden Stahltore sind auf dem Gelände eine Pinienallee und verschiedene Gebäude zu sehen. Die Morgensonne brennt. Unter einem grünen Plastikdach haben rund 100 Menschen Schatten gefunden.
Für Suresha Nepal gehen gerade sechs Stunden Wartezeit zu Ende. Er tanzt förmlich nach draußen mit seinem neuen Reisepass. Jetzt muss er nur noch auf seinen jüngeren Bruder warten. „Ich habe seit 2013 im Bau in Doha gearbeitet. Katar ist ein schönes Land mit einer guten Regierung“, sagt er fröhlich. Die kommende Reise an den Golf wird seine vierte innerhalb von zwei Jahren sein. Und er findet, dass niemand in der Warteschlange irgendetwas zu befürchten hat. „Mein jüngerer Bruder muss keine Angst haben. Er wird auch in einem Einkaufszentrum arbeiten, also nichts Gefährliches. Katar ist ein großartiges Land. Das beste!“
Diese Reportage ist erstmals im Juli 2022 beim schwedischen Magazin Blankspot erschienen. Das ist der zweite Teil der Reportage-Serie aus Nepal. Hier kommst du zum ersten Teil.
Suresha glaubt, die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 ist eine wunderbare Gelegenheit für seine Landsleute, Arbeit zu finden. Er freut sich auf die Spiele.
Ein neuer Pass ist der Schlüssel zu einem anständigen Job
Bevor sich unsere Wege trennen, zeigt er stolz seine Personalausweise aus Kuwait, Saudi-Arabien und Malaysia. Wie einen Fächer breitet er sie in seiner Hand aus. Auch in diesen Ländern hat er gearbeitet. „Von diesen Ländern habe ich Katar ausgewählt. Es ist das beste“, sagt Suresha Nepal und tippt auf den Ausweis, der in Doha, der Hauptstadt Katars, ausgestellt wurde.
Neben ihm lehnt sich der 28-jährige Durga Bahadur Dahal in schwarzer Jacke und mit Silberohrring in einem Ohr an die Backsteinmauer. Als Neuling hört er aufmerksam bei allem zu, was gesagt wird. Der Nachmittagsverkehr setzt ein. Um sich besser hören zu können, laufen der Dolmetscher, Durga Bahadur Dahal und ich zum nahe gelegenen Café Thami.
„Ich mache mir Sorgen, wie es sein wird“, gibt Durga Bahadur Dahal zu. „Sorgen über die Hitze und darüber, bezahlt zu werden.“ In seinem Heimatdorf Bhochbur hat er zwei Kinder zurückgelassen, die jünger als sieben Jahre alt sind. Hätte er die Wahl gehabt, wäre er bei seiner Familie geblieben. Vor Kurzem zahlte er einem Arbeitsvermittler 1.500 US-Dollar für einen Job als Fliesenleger in einer Baufirma in Katar. „Die Pandemie und der Lockdown in Nepal brachten mich zu der Entscheidung, ins Ausland zu gehen“, sagt er. „Ich habe seit einer Weile in Katar einen anständigen Job gesucht, bevor ich diesen hier annahm.“
Von den Unfällen im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft hat Durga Bahadur Dahal gehört. „Ich weiß, dass ich Sicherheit ernst nehmen muss, wenn ich arbeite“, sagt er. „Wenn ich vorsichtig bin und keine unnötigen Risiken eingehe, wird alles gut laufen.“
Wie ein Arbeitsvermittler Durga Dahal übers Ohr haute
Sein Flieger geht in drei Tagen und er ist vorbereitet. Seine Sachen sind gepackt, die Haare sind frisch geschnitten: rasierter Nacken und Pony. Die verbleibende Zeit verbringt der 28-Jährige damit, sich von Familie und Freund:innen zu verabschieden. Auch sie haben von der Hitze und den Unfällen gehört und machen sich Sorgen. „Arbeitslos zu sein ist ebenso eine Art von Tragödie“, sagt Durga Bahadur Dahal. „Mein Sohn ist sechs Jahre alt und war noch nicht einen einzigen Tag in der Schule. Ich will mir das leisten können.“ Wenn er genug verdient hat, will er mit seiner Familie nach Kathmandu ziehen. Auf dem Tisch liegt sein Handy, ein altes Modell aus den frühen 2000er Jahren. Der Ton ist angeschaltet und der Bildschirm leuchtet grün, wenn er SMS schickt und empfängt. Hinter ihm im Café hängt ein Poster, das Bustouren zum Chitwan-Nationalpark bewirbt.
Die meisten denken an Tourismus, wenn sie an Nepal denken. Aber der macht nur sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Überweisungen von Arbeiter:innen aus dem Ausland hingegen fast 40 Prozent. Durga Bahadur Dahal sagt, seine Familie will, dass er geht. Und das gesamte Dorf unterstütze die Entscheidung. „Ich habe Geld vom Dorfrat geliehen und das Ackerland meiner Eltern mit einer Hypothek belegt. Wenn ich nicht 1.350 Dollar innerhalb von fünf Monaten zurückzahle, werden sie das Land meiner Vorfahren verlieren.“
In Katar will er also nicht nur Geld verdienen, sondern auch eine Katastrophe verhindern. Wenn er nicht geht, läuft die Familie Gefahr, das Land zu verlieren, das die Familie seit Generationen versorgt hat. „Ich habe keine andere Wahl“, sagt er. Auf dem Tisch liegt ein grüner Plastikordner mit Kopien seines Visums und seines Arbeitsvertrags. Alles ist abgestempelt und unterschrieben.
Seit Kurzem kontrolliert Nepal jene, die als Arbeitsmigrant:innen das Land verlassen. Dafür machte die Regierung Arbeitsverträge und Gehälter öffentlich einsehbar, um zu verhindern, dass Arbeitsvermittler:innen die Arbeitsmigrant:innen betrügen. Eine schnelle Suche mit Durga Bahadur Dahals Reisepassnummer auf der Webseite des nepalesischen Außenministeriums zeigt, dass er für 270 US-Dollar im Monat für G.S. Employment Service Ltd. arbeiten wird. Das bedeutet, dass er gerade so das Darlehen an sein Dorf zurückzahlen kann – wenn er gesund bleibt und jedes Bisschen spart. Eine Gewinnspanne bleibt nicht. „Maurer“, steht in seinem Vertrag. „Maurer?“, fragt er und lacht. „Das muss ein Fehler sein, ich weiß nicht, wie man Mauern baut.“
Durga Bahadur Dahal gibt zu, dass er einen Arbeitsvermittler bezahlt hat. Das ist illegal und sollte nicht nötig sein, weil Katar vor einer Weile die Visumsgebühr abgeschafft hat. Zusätzlich zum Arbeitsvermittler bezahlte er noch zwei Mittelsmänner, um den Job zu bekommen. „Ich wusste nicht, dass das nicht nötig war“, sagt er. Unser Dolmetscher ruft den Arbeitsvermittler an und stellt sich als Durga Bahadur Dahals Bruder vor. Die Frau am Telefon ist misstrauisch und fragt nach dem Grund des Anrufs. Als der Dolmetscher ihr sagt, dass es keine Visumsgebühren mehr gibt, um nach Katar einzureisen, sagt sie, das stimme nicht. Und als der Dolmetscher droht, die Arbeitsbehörde anzurufen und die Vermittlungsfirma zu melden, legt sie auf.
Durga Bahadur Dahal sieht jetzt noch besorgter aus. Zusätzlich zu dem, was ihn in Katar erwartet, hat er jetzt die Leute verärgert, die sein Geld haben. Geld, das er sich geliehen hat.
Der Dolmetscher notiert die Handynummer von Nepals Arbeitsminister von der Regierungswebseite und empfiehlt ihm, den Minister direkt anzurufen, wenn es ein Problem gibt. Durga Bahadur Dahal nimmt die grüne Plastikmappe und steht auf. Im Dezember 2023 will er wieder zurück zu Hause sein. „Wenn ich die Möglichkeit bekomme, ein WM-Spiel zu sehen, werde ich das natürlich machen. Ich bin für Brasilien“, sagt er und verschwindet auf der belebten Straße.
Wie die Arbeit in Katar Ghanesh Dhakal zum Unternehmer machte
Die Lobby des Hotel Shramic ist voll mit Menschen. Gruppen von Nepales:innen drücken sich durch die Menge, während andere warten, hereinkommen zu können. Draußen düsen Fahrräder, Mopeds und Motorräder vorbei. Um die Ecke parken rund 100 Busse. Von hier aus kann man alle Dörfer und Regionen Nepals mit dem Bus erreichen, dem Verkehrsmittel, das das Land verbindet. Deswegen schossen hier um den Busbahnhof Hotels wie Pilze aus dem Boden für Arbeitsmigrant:innen, die Nepal verlassen, nach Hause kommen oder einen Zwischenstopp auf dem Weg von ihrem Dorf in die Golf-Staaten machen. Einige haben Schokolade und Spielzeug für ihre Kinder gekauft. Andere halten das hart erarbeitete Geld ganz beisammen.
Der 39-jährige Besitzer des Shramic, Ghanesh Dhakal, sitzt in einer grünen The-North-Face-Jacke an der Rezeption. Vor 15 Jahren ging er zum ersten Mal nach Katar. „Nichts von dem, was sie mir gesagt hatten, stimmte“, sagt er. „Als ich ankam, gab es keine Arbeit, sie haben mich betrogen.“
An der Wand neben ihm hängen über Kreuz zwei goldfarbene Gurkha-Messer, die Spezialeinheit von nepalesischen Kämpfern in der britischen Armee, neben gerahmten Urkunden und Auszeichnungen. In der Mitte kleben zwei Post-its, in pink und in gelb, die seine Kinder zum Vatertag geschrieben haben. „Für den besten Papa der Welt“.
Im Jahr 2003, als Ghanesh nach Katar ging, war gerade Bürgerkrieg in Nepal zwischen den kommunistischen Maoist:innen und der nepalesischen Regierung. Das seien andere Zeiten gewesen, sagt er und setzt sich in einen der Sessel. „Hierfür habe ich in Katar gearbeitet“, sagt er über sein Hotel. Er hat es „Shramic“ genannt, weil das „Arbeit“ heißt. „Es war nicht leicht, aber es war das, wovon ich jeden Tag träumte.“ Nachdem er jahrelang für fragwürdige Arbeitgeber:innen gearbeitet hatte, die ihn oft in bar bezahlten, fand Ghanesh endlich einen festen Job in der Hotelbranche. „Es war ein tolles Unternehmen. Ich lernte viel über die Hotelbranche und konnte meiner Familie Geld schicken. Aber ich war sehr unglücklich. Es war sehr hart.“
Ghanesh hatte Glück, durch das sogenannte Kafala-System schlüpfte er durch. Dieses System besagte damals, dass jede:r Arbeitsmigrant:in für eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis eine:n Bürgen:in im Land brauchte, oft übernahm der Arbeitgeber diese Rolle. Der kontrollierte dann, ob jemand im Land leben und arbeiten durfte. Über die Jahre wurde die nepalesische Community in Katar immer größer und die Leute begannen, sich gegenseitig zu unterstützen. Netzwerke spannten sich. Wenn jemand schlecht behandelt wurde, sammelten die anderen Geld. Mit der Zeit wuchsen in der Gemeinschaft das Bewusstsein und das Verständnis für die Gesetze und Vorschriften. Und nach fünf Jahren harter Arbeit, sieben Tage die Woche, kehrte Ghanesh nach Nepal zurück, heiratete und flog wieder nach Katar für vier weitere Jahre.
„Es dauerte acht Jahre, um genug zu sparen, um das Hotel zu kaufen. Das war die ganze Zeit mein Plan“, sagt er. Seinen Gästen bietet er nicht nur Essen und ein Dach über dem Kopf. Er teilt auch seine Erfahrungen mit den Wanderarbeiter:innen. „Das Bild, das meine Gäste oft von Katar haben, ist weit entfernt von der Realität, in der sie eigentlich landen werden“, sagt er. „Es gibt keine Abkürzungen für schnelles Geld. Ich sage ihnen, dass sie nicht schnell reich sein werden. Aber dass es möglich ist, wenn sie einen Plan und Geduld haben.“
Leider ist es für viele zu spät, Ghaneshs ersten und wichtigsten Ratschlag zu befolgen. „Gehe nirgendwo hin ohne Ausbildung oder irgendeine Art beruflicher Fähigkeiten. Wenn du einen Beruf erlernt hast, kannst du einen guten Job finden. Aber wenn du keine Erfahrungen oder Kenntnisse hast, wirst du nicht gut verdienen.“ Abgesehen davon haben diejenigen, die jetzt zurückkehren, weniger Horrorgeschichten zu erzählen als vor zehn Jahren. „Jeder hat Bankkarten und echte Konten. Ich höre nichts mehr von zurückgehaltenen Gehaltsschecks“, sagt Ghanesh.
Ist Katar ein gutes Land?
Im Restaurant ist es laut. Unter die lauten Gespräche mischen sich Geräusche von klappernden Töpfen und Pfannen in der Küche. An einem der Tische sitzen die Freunde Mohammed Habib Hussein und Mohammed Anowar. Mohammed Habib Hussein trägt eine schwarze Lederweste über einem karierten Hemd. Mohammed Anowar trägt ein Basecap mit „Armani“-Schriftzug. Die beiden sind 26 Jahre alt und kommen aus dem Distrikt Sunsari im Osten des Landes. Sie bleiben einige Nächte im Hotel auf dem Heimweg zu ihren Familien – nach zwei Jahren in Katar.
„Wir bekamen die Jobs, für die wir uns beworben hatten und die Bezahlung war so, wie es in unseren Verträgen stand. Wir haben von Leuten gehört, die andere Erfahrungen gemacht haben, aber ich bin zufrieden“, sagt Mohammed Habib Hussein. „Katar ist ein gutes Land.“ Beide putzten in Unterkünften der Baufirma Midmac Contracting, in denen einige der Arbeiter:innen untergebracht waren, die das Khalifa International Stadium bauten. In dem bis zu 40.000 Zuschauer:innen fassenden Stadion werden acht der 64 Fußballspiele der WM ausgetragen. „Die Firma baute sieben Stadien in Katar, aber auch Krankenhäuser, Museen, eine U-Bahn und viele andere Dinge. Es ist ein großes Bauunternehmen.“ Beide Männer sagen, dass die Sicherheitsbedingungen und das Essen gut gewesen seien.
„Wir haben niemanden sterben sehen und es gab keine Arbeitsunfälle dort, wo wir arbeiteten“, sagt Mohammed Habib Hussein. „Aber dass das an anderen Orten passierte, ist möglich.“ Der einzige Grund, warum sie Nepal als Arbeitsmigranten verließen, war es, ihren Familien Geld schicken zu können. „Nach zwei Jahren ist das Geld weg. Mein Kind ist krank, also ging das Geld dafür drauf. Aber ich werde wieder hinfahren“, sagt Mohammed Anowar. Er will sieben Jahre lang in Katar arbeiten. Das Bauunternehmen ist groß und es wird auch nach der Fußball-Weltmeisterschaft überall Arbeit geben.
„Mein Arbeitgeber und meine Freunde haben das Stadion gebaut, in dem das Finale stattfinden wird“, sagt Mohammed Anowar stolz. „Aber am meisten stolz bin ich darauf, dass meine Familie dank dieser Weltmeisterschaft Geld bekommen konnte.“
Das Leben in Katar ist wie eine Matrjoschka
Trotz der politischen Unruhen in Nepal gibt es Anzeichen von Veränderung – zumindest in der Hauptstadt. Der Mangel an Strom ist behoben und nun leuchtet Kathmandu nachts von all den Lichtern. Mit einer wachsenden Mittelschicht ist auch die Anzahl von Geschäften in der Hauptstadt gestiegen.
Draußen vor dem großen Fenster des Fischrestaurants sitzt auf einem Plastikstuhl Ganesh Gurung. Der Soziologe arbeitet für die Policy Research Academy, eine Denkfabrik in Nepal, und führte mehrere Studien über Auswanderung aus Nepal durch. Bis vor Kurzem war er am Nepal National Network of Safe Migration (NNSM) beteiligt. In den vergangenen zehn Jahren, seitdem Katar den Zuschlag für die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 bekommen hat, steht sein Telefon selten still. Ausländische Journalist:innen rufen an, um nach Kommentaren zu Gehältern, Geld, Verträgen, Rechten und der Zahl der Toten zu fragen.
„Aber niemand fragt danach, wie es den Migranten geht, den mentalen und sozialen Schwierigkeiten, die mit Migration einhergehen“, sagt Ganesh Gurung in corona-sicherem Abstand zu unserem Mikrofon. Er spricht fließend Englisch, Nepali, die Amtssprache Nepals, sowie Hindi und die lokale Sprache Gurung. Sprachen, die man braucht, um zu verstehen, was hinter all dem steckt.
Gurung beschreibt die Realität in Katars Hauptstadt als eine Matrjoschka. „Auf dem Papier steht ein Vertrag zwischen dem Staat und einem nationalen Bauunternehmen. Aber dieses wiederum beauftragt Subunternehmer aus Korea, die Subunternehmer aus Japan beauftragen werden, die wiederum Subunternehmer aus Nepal beauftragen“, erklärt er. „Schichten über Schichten über Schichten, bei denen es unmöglich wird, etwas zu erzwingen und die den Arbeitnehmern Probleme bereiten werden.“ Als ein Nepalese bei einem Selbstmordanschlag im Irak starb, kämpfte Ganesh Gurung, bis die Familie eine Entschädigung erhielt. Das legte den Grundstein für Entschädigungen, die Familien in solchen Fällen nun bekommen. Doch die Reformen der vergangenen Jahre in Katar, wie die Einführung eines Mindestlohns und die Abschaffung des verrufenen Kafala-Systems, waren aus seiner Sicht „zu wenig, zu spät“.
„Ich habe die katarische Regierung gefragt, warum sie diese Reformen nicht eingeführt habe, bevor sie die Fußball-Weltmeisterschaft zugesprochen bekommen hat. Es ist offensichtlich, dass sie das ohne die Weltmeisterschaft nie gemacht hätte. Und ich frage mich, ob sie mit den Reformen weitermachen, wenn die WM vorbei ist. Das sind keine Reformen auf lange Sicht.“ Ganesh Gurung hofft, dass seine Arbeit die Schwierigkeiten der Wanderarbeiter:innen mehr ins Licht der Öffentlichkeit rückt.
„Fast 60 Prozent der Haushalte in Nepal bekommen Geld von Verwandten, die im Ausland arbeiten. Sie sind noch abhängiger von diesen Geldern, wenn die Lage in ländlichen Gegenden instabil ist. Jetzt kann mit moderner Technologie das Geld unmittelbar von Doha ins Dorf geschickt werden. Es geht nicht durch verschiedene Hände. Und das bedeutet, dass sich die finanzielle Situation der Menschen verbessert.“ Die Forschung zeigt, dass es einen enormen Trend zur Landflucht gibt. Die Menschen in Nepal ziehen aus Armut von den Dörfern in die Städte. „Diejenigen, die ins Ausland gehen, gehören der unteren Mittelklasse an. Die sehr Armen schaffen es nicht nach Katar“, sagt Ganesh Gurung. „Das erste Jahr zahlen sie ihr Darlehen ab, das zweite Jahr reparieren sie das Dach und das dritte Jahr schicken sie ihre Kinder auf Privatschulen. Dann wird das Dach anstelle von Gras mit Blech gedeckt und danach zieht die Familie in die Stadt.“
Die Armut in Nepal gehe rapide zurück. Vor 20 Jahren lebten 42 Prozent der Haushalte in absoluter Armut. Heute sei die Quote bei 16 Prozent. Ohne diese Überweisungen von den Arbeitern aus dem Ausland wäre dieser historische Rückgang von Armut unmöglich gewesen, erklärt der Soziologe. Auch den Banken in Nepal gebe das eine kräftige Finanzspritze mit ausländischen Währungen, was der Wirtschaft des Landes dringend benötigte Stabilität gebe. „Die Überweisungen der Arbeiter aus dem Ausland sind heutzutage der Herzschlag Nepals.“ In der Vergangenheit sei das die Landwirtschaft gewesen.
Auf Gurungs Schoß liegen eine Mundschutzmaske und ein durchsichtiges Schutzvisier. Sein Handy klingelt immer wieder, aber er drückt die Anrufe weg. Der Tee auf dem Tisch ist kalt geworden, und er trinkt ihn in großen Schlucken aus. Auch wenn die internationale Presse im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft Wind von den Arbeitsbedingungen der Migrant:innen am Golf bekommen hat – er versuche seit Jahrzehnten, auf diese Probleme aufmerksam zu machen, sagt der Wissenschaftler.
Die Verletzten sind das eigentliche Problem
Und wie sieht es mit der Diskussion um die Anzahl der toten Wanderarbeiter:innen und den Todesursachen aus? Einige Quellen besagen, dass rund 6.500 Menschen bei Unfällen im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft gestorben sind. Katar hingegen gibt nur 30 Todesfälle zu. Wer hat Recht und was ist die richtige Zahl? „Das weiß niemand. Diese Statistiken gibt es nicht.“ Was wir wissen, sei, wie viele Leichen nach Nepal überführt werden. Darunter seien Haushälter, Landschaftsgärtner. „Es ist sehr kompliziert und gleichzeitig wirklich einfach. Jeden Tag werden Tote nach Nepal zurückgebracht. Es sind keine alten Leute. Sie sind jung. Als sie weggingen, waren sie gesund, als sie am Golf ankamen, waren sie gesund, aber jetzt sind sie tot. Das bedeutet, dass die Totenscheine falsch sind. Sie sind nur eine Formalie, die die Fluggesellschaften brauchen, um die Leichen transportieren zu dürfen.“
Das eigentliche Problem sei aber nicht die Anzahl der Toten, sondern das sind die Verletzten. Ganesh Gurung glaubt, dass es zum Schutz der Arbeitsmigrant:innen einige Präzedenzfälle vor Gerichten in Katar geben müsste, bei denen die Unternehmen in die Öffentlichkeit gestellt werden und möglicherweise strafrechtlich verfolgt. „Es muss Unternehmen und Länder teuer zu stehen kommen, wenn Arbeiter bei Unfällen sterben. Aber die nepalesische Botschaft hat nicht einmal einen festen Anwalt, an den sich die Bürger wenden können, um Unternehmen vor Gericht zu bringen.“
Obwohl 1.200 Nepales:innen in Särgen nach Kathmandu zurückkehrten, wächst die Zahl derer, die zum Arbeiten ins Ausland gehen wollen. Sogar jene bleiben, deren Arbeitgeber:innen ihnen die Bezahlung verweigern. Warum gehen sie nicht einfach zurück? „Es ist ein Push- und Pull-Faktor. Es ist hart für sie in Katar, aber sie haben große Träume. Sie haben diejenigen gesehen, die erfolgreich waren. Die es geschafft haben, in die Stadt zu ziehen, ihre Kinder auf gute Schulen zu schicken, auf die Universität, und dort sehen sie auch sich selbst. Sie sind frei darin, nach Nepal zurückzukehren, aber sie sind gefangen in ihren Träumen von einem anderen Leben.“
Ganesh Gurung glaubt, dass sich viel verbessern würde, wenn die Arbeitsmigrant:innen ihre Träume konkretisieren würden und einen Plan für die Arbeit anderswo aufstellen würden. „Sagen wir mal, dein Traum ist es, einen kleinen Bauernhof mit 25 Kühen zu kaufen. Du kannst Milch verkaufen und Käse machen. Das ist ein konkretes Ziel. Wenn du dich dann auf eine Stelle auf einem Bauernhof in Katar bewirbst, kannst du Geld und Erfahrung nach Hause mitbringen. Leider schicken zu viele Menschen jede Münze, die sie verdienen nach Hause und investieren nichts. Und am Ende wird es für Handys, Fernseher und andere Konsumgüter ausgegeben.“
Unsere Teetassen sind leer und die Sonne hat sich über Kathmandu gesenkt. Ein Jahr vor der Weltmeisterschaft waren die Stadien fertig gebaut, die Wanderarbeiter:innen kehrten nach Nepal zurück. „Es ist wie zu alten Zeiten, als die untersten Kasten, die Dalits, auch ‚die Unberührbaren‘ genannt, die Tempel bauten. Als sie fertig waren, durften die Dalits diese nicht betreten, weil sie als unrein angesehen wurden“, sagt Ganesh Gurung. „Die Fußballstadien sind die Tempel unserer Zeit. Diejenigen, die sie gebaut haben, werden sie nie betreten. Sie werden sich die Spiele im Fernsehen anschauen müssen.“
Übersetzung: Marion Bergermann, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert