Eine Frau blickt in die Kamera, in der Hand hält die ein Portrait ihres Sohnes.

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Die unsichtbaren Toten der WM in Katar

Anish Guru, 19, wollte als Gastarbeiter seiner Familie in Nepal helfen. Kubir Singh seinen drei Kindern die Schule bezahlen. In Ihre Heimat kehrten sie nie zurück. Das sind ihre Geschichten.

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Vom Kopf des 19-jährigen Anish Gurung ist nur noch ein blutiges Durcheinander übrig. Sein Schädel ist zertrümmert. Um ihn zusammenzuhalten, ist der Kopf fest mit weißen Stoffstreifen und Klebeband umwickelt. Der tödliche Autounfall ist fast eine Woche her. Aber in Katar ist es verboten, Tote einzuäschern.

Als ob der Zustand von Anishs Leichnam nicht schon schlimm genug wäre, wurde Anishs Familie am Flughafen Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, den ganzen Tag mit Bürokratie aufgehalten. Sein Vater, Jagan Gurung, seine Schwester Amina und Lachin, ein Freund der Familie, versuchen gemeinsam, die Erlaubnis zu bekommen, den Leichnam mitzunehmen und aus der Gepäckhalle zu bringen. Sie verbringen den Tag damit, von einem Ende zum anderen zu jagen für die richtigen Stempel, die Todesurkunde, Kopien des Reisepasses.

Es ist fast Mitternacht, als sie Anishs Leiche auf einem Gepäckwagen die kurze Strecke vom Flughafen zum goldenen Tempel Pashupatinath fahren. Sie treiben Feuerholz auf, das teuer ist und wecken einen Mönch, der das Bestattungsritual durchführen kann.

Viele der Toten können nicht einmal bestattet werden

Die Tradition besagt, dass der Mönch Essen in den Mund des Verstorbenen legen muss. Aber das ist unmöglich. Glocken läuten in der Dunkelheit und die Schreie der Familie hallen zwischen den Steintempeln am Flussufer wider. Sie versuchen, so gut es geht, das Essen in das zu schieben, was von Anishs Gesicht übrig ist.

Um „das Feuer zu reinigen“, wirft Anishs Vater Zucker, Senfkörner und Getreide in die Flammen. Rund um den in ein orangefarbenes Leichentuch und mit Ringelblumen dekorierten Leichnam haben sie 50 kleine Schalen mit Essen gestellt. Kurz nachdem die traditionellen Bestattungsriten vorüber sind, verschlingen die Flammen den Körper des 19-jährigen Wanderarbeiters vollständig.

So hätte es nicht enden sollen.

Ein Haus in Seitenansicht, im Hintergrund sind Berge. Eine Frau steht davor.

Anishs Dorf inmitten der Berge

Jedes Jahr verlassen 400.000 Nepales:innen ihre Städte und Dörfer, um anderswo Arbeit zu suchen. Sie sind keine richtigen Auswanderer:innen und werden Gastarbeiter:innen oder Arbeitsmigrant:innen genannt – je nach Perspektive. Zwei volle Boeing-747-Maschinen verlassen Nepal jeden Tag. Malaysia, Kuwait, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate waren lange die größten Arbeitsmärkte. Seit 2010 geht jede:r vierte der nepalesischen Wanderarbeiter:innen nach Katar. Der Hunger der dortigen Baubranche nach billigen Arbeitskräften ist im Grunde unstillbar, seit das kleine Land am Persischen Golf von der FIFA den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft 2022 bekam.


Diese Reportage ist erstmals im Juli 2022 beim schwedischen Magazin Blankspot erschienen. Das ist der erste Teil der Reportage-Serie aus Nepal. Hier kommst du zum zweiten Teil.


Von den 22 Männern des FIFA-Exekutivkomitees, das 2010 die WM an Katar vergab, wurden 16 wegen Korruption suspendiert, strafrechtlich verfolgt oder zu Gefängnisstrafen verurteilt. Seitdem reisten viele Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen aus der ganzen Welt nach Katar. Sie waren schockiert von der Korruption, der Ausbeutung und den vielen Todesfällen von Arbeitsmigrant:innen. Wie Leibeigene schienen die zu leben, ohne Möglichkeiten, den Job zu wechseln oder nach Hause zurückzukehren.

Die WM ist nur ein Grund dafür, dass 2,3 Millionen Arbeitsmigrant:innen in Katar leben. Ein weiterer findet sich rund 2.000 Meter über dem Meeresspiegel, im Heimatdorf von Anish Gurung.

Eine Berglandschaft, im Vordergrund sind Hausdächer zu erkennen

Eine Wolkendecke legt sich über den Macchapuchre.

Während der Regenzeit in Zentralnepal lassen die Wolken die Berge rund um das Dorf Ghandrung nie ganz los. Wenn die Dämmerung hereinbricht, saugen sich die Täler mit Nebel voll. Danach ist die Luft frisch und klar. Wie ein südasiatisches Aquarell, das gerade getrocknet ist. Die weite Aussicht endet am heiligen Berg Macchapuchre, was „Fischschwanz“ auf Nepalesisch heißt. Es ist verboten, den Berg im Annapurna-Gebirge mit den zwei Spitzen zu besteigen, die an die Form einer Schwanzflosse erinnern.

Wanderarbeit als Weg aus der Armut

In der Vergangenheit gab es für die Bewohner in dieser Region vor allem einen Weg aus der Armut: den Militärdienst in der Gurkha-Brigade der britischen Armee. Manche der Älteren im Dorf haben sich einen Namen gemacht als einige der weltbesten Soldaten und sind Teil der Spezialkräfte in der britischen Armee. An die Allerbesten wurden Arbeitsvisa für Großbritannien vergeben. Vor etwa 20 Jahren begannen die Männer und Frauen des Dorfs, auch in die Länder rund um den Persischen Golf zu reisen. Als treue und fleißige Arbeiter:innen hatten sie schnell einen Ruf als geschickte Bauarbeiter und fleißige Haushälterinnen. Währenddessen schossen immer mehr futuristische Wolkenkratzer aus dem Boden und ragen heute in den Himmel, wie Soldaten aus Stahl, Glas und Beton.

Noch bis vor wenigen Jahren konnte man das Dorf Ghandrung nur zu Fuß oder auf dem Rücken eines Esels erreichen. Als eine richtige Straße gebaut wurde, fing Anish Gurung sofort an, Autofahren zu lernen. In diesem Teil der Welt ist es wichtig, Kurven und unbefestigte Wege fahren zu können, ohne dass das Auto wegrutscht. Daran zu denken, die Handbremse zu benutzen und am Hügel zurückzusetzen, wenn einem ein Bus entgegenkommt. In der letzten Steigung kurz vor dem Dorf stürzte vor kurzem ein Bus den Abhang hinunter. Ein Mädchen überlebte, indem es aus dem Fenster sprang und sich an einen Baum klammerte. Alle anderen Insassen starben bei dem Unfall.

Anish und seine Freund:innen waren überzeugt: In Doha, der Hauptstadt von Katar, muss es mit den asphaltierten Straßen und Ampeln viel einfacher sein, Auto zu fahren. Wenn er seinen Führerschein machen würde, könnte er als Fahrer arbeiten.

Das letzte Stück des Weges bis zu Anish Gurungs Elternhaus ist mit schwarzem Schiefer gepflastert. Getrocknetes Holz ist in ordentlichen Stapeln aufgeschichtet. Die Fenster sind sehr klein. Auf einer Erhebung vor dem Haus sortiert Anishs Mutter, die 51-jährige Khuili Gurung, Feuerholz. Der Winter naht und ohne Holz verwandeln sich die Steinhäuser auf dieser Höhe von 2.000 Metern in Kühlschränke. Sie setzt sich auf einen Hocker, wickelt sich in einen Schal und beginnt, über ihren Sohn zu reden.

„Er war kein schelmisches Kind, eher schüchtern und ein bisschen ruhig. Und er half mir immer mit dem Kochen und Saubermachen hier zu Hause“, sagt sie. „Sobald er fertig war, fragte er, ob er Basketball spielen gehen dürfe und rannte dann weg; das spielte er so gerne.„ Eine Gruppe junger Männer in Anishs Alter rennt am Haus vorbei. Sie sind auf dem Weg zum heutigen großen Event im Dorf – einem Basketballturnier zum Gedenken an Anish. „Wenn ich seine Freunde sehe, erwarte ich immer, auch Anishs Gesicht zu sehen. Aber er wird nie zurückkommen“, sagt seine Mutter. „Unsere Zukunft starb mit ihm. Er war unsere einzige Hoffnung.“

Anishs Mutter sitzt vor einem Haus, sie hält eine Tasse Tee in der Hand.

Anishs Mutter, die 51-jährige Khuili Gurung, trauert um ihren Sohn.

Drinnen im Haus wird das Essen auf einem offenen Feuer gekocht. Auf einem anderen Feuer kocht ein Wasserkessel. An den Wänden hängen Kochtöpfe aus rostfreiem Stahl. Anish hatte schon nach der siebten Klasse versucht, einen Job im Ausland zu finden. Aber die Gesetze waren verschärft worden und es war nicht mehr möglich, mit einem gefälschten Personalausweis zu reisen, wenn man unter 18 Jahren alt war. Und weder in seinem, noch in den Nachbardörfern gab es Jobs. Die Tourist:innen, die normalerweise die Wanderung in Richtung des Berges Annapurna machen, waren nach der Corona-Pandemie nicht zurückgekommen.

Wie Anish nach Katar kam

„Mein Sohn machte gar nichts, er lag nur zu Hause herum. Und wenn wir ihn drängten, es weiter zu versuchen, sagte er, er könne sich vorstellen, im Ausland zu arbeiten“, sagt Jagan Gurung, Anishs Vater. Aber er wollte seinen einzigen Sohn nicht so jung zum Arbeiten in ein fremdes Land schicken. „Ich sagte ihm, er solle heiraten, sich hier ein Leben aufbauen“, sagt Jagan. „Aber er lehnte ab.“

Jagan verbrachte 2002 selbst zwei Jahre in Katar, um Tunnel zu bauen. Aber er verdiente sehr wenig und hatte das Gefühl, zu Hause sein zu müssen, solange die Kinder klein waren. Wenn Anish weggehen wollte, riet er seinem Sohn immer wieder davon ab. „Wenn es Arbeit hier in unserem Dorf gegeben hätte, hätten wir ihn niemals gehen lassen“, sagt er. Gleichzeitig finanzierten seine Eltern ihn, Monat für Monat. Auch wenn Anish zu Hause half: Ein Einkommen hatte er nicht, obwohl der jüngste Sohn der Tradition nach eines haben sollte. Nachdem er sah, wie sein Sohn sich seinen Lebensunterhalt nicht verdiente, mit faulen Freund:innen herumhing und immer verwöhnter wurde, gab Jagan nach und sagte Anish, er könne gehen. Sie zahlten einem Arbeitsvermittler umgerechnet rund 900 Euro für einen Job und das Visum. Kurz darauf fing Anish als Fahrer in Katar an.

Landschaftsaufnahme: Ein Fluss zieht am einem waldigen Berg vorbei.

Der Mardi ist die Hauptader der Region.

Sie hielten engen Kontakt und sprachen fast jeden Tag. Dann, eines Tages, am 7. Juli 2021, starb Anish mit drei Landsleuten bei einem Autounfall. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit gewesen. „Er saß vorne, neben dem Fahrer, als sie verunglückten“, sagt Jagan. Er hat das Gefühl, sein Sohn könne jeden Moment anrufen. Deswegen ist sein Handyakku immer aufgeladen und das Handy in Reichweite. „Ich warte nur darauf, dass er anruft und sagt: ‚Aama, Babaa.„ Jagans abgetragene Lederstiefel sind schlammig nach einem langen Arbeitstag. Als Anish noch lebte, träumten sie davon, ein eigenes Haus von dem Geld zu kaufen, das er in Katar verdienen würde. Jetzt geht es nur noch ums tägliche Überleben. „Wir haben kein festes Einkommen und wir werden nicht jünger. Wie lange werden wir es schaffen zu arbeiten?“

Als Anish starb, rutschte seine Mutter in eine tiefe Depression, erzählt Jagan. Sie mussten viel Geld für Arztbesuche und Medikamente ausgeben. „Er war unser einziger Sohn und hatte gerade begonnen, Geld nach Hause zu schicken, als er von uns genommen wurde. Jetzt haben wir niemanden, der uns hilft“, sagt er. Außerdem wissen sie nicht, wie lange sie in dem einfachen Haus bleiben können, in dem sie leben. Sie fürchten, dass der Besitzer es an andere vermieten will, wenn die Touristen zurückkommen. Die kleine Entschädigung von der nepalesischen Regierung hilft, aber von Anishs Arbeitgeber bekamen sie kein Geld. Weil Anish auf dem Weg zur Arbeit starb – und nicht bei der Arbeit. Von der Fußball-Weltmeisterschaft hat Anishs Mutter gehört. Über Fußball wisse sie aber nicht so viel, sagt sie. Ihr Sohn spielte nur Basketball.

Laut Zahlen der nepalesischen Botschaft in Katar ist Anish Gurung einer von 292 Todesfällen, die durch Verkehrsunfälle in Verbindung mit der Arbeit und außerhalb des Arbeitsortes zwischen 2010 und 2019 passierten. Über die Zahl der Toten tobt eine Debatte, seit die englische Zeitung The Guardian einen investigativen Artikel veröffentlicht hat, demnach 6.500 Arbeitsmigranten seit der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft an Katar gestorben sind. Die katarischen Behörden antworteten, dass sie die Zahl an sich nicht in Frage stellten. Sondern, dass bei der hohen Anzahl von mehr als zwei Millionen Arbeitsmigrant:innen eine solche Sterberate nicht ungewöhnlich sei.

Die Diskussion um Sterberaten und Statistiken ist nicht neu. Seit Jahrzehnten stritten Politiker darüber, ob das Geld, das Arbeitsmigrant:innen regelmäßig nach Hause schicken, wirklich ein Weg aus der Armut ist. Oder eine neue Form von Sklaverei, bei der Menschenleben auf dem Spiel stehen. Wer sind also die Menschen, die starben, und warum gingen sie nach Katar?

Ein Sportturnier, zum Gedenken an die Toten

In Anish Gurings Dorf hört man das Echo einer Lautsprecherstimme zwischen hohen Bergen. Basketball ist die Sportart der Kinder hier in dieser bergigen Gegend, die es unmöglich macht, Fußball zu spielen. Alles ist schief, bis auf den Busbahnhof und den Basketballplatz. Die Linien des Spielfelds sind per Hand mit weißer Farbe auf den rissigen Beton gemalt worden. Auf einmal zerschneidet ein Pfiff die Luft, gefolgt vom Aufprallen eines Basketballs.

Mehrere Kinder und Jugendliche verfolgen das Basketball-Spiel.

Junge Menschen beobachten das Basketballspiel zu Ehren von Anish.

Der 21-jährige Gautam Gurung täuscht vor einem Spieler an und springt hoch zum Korb. Auf der Rückseite seines grauen Trikots steht in schwarz „Ghandruk“ geschrieben, der Name des Dorfes, und die Nummer eins. Er ist zwei Jahre älter und war ein enger Freund von Anish. Hier auf dem Platz haben beide unzählige Nächte gespielt, bis es zu dunkel wurde, um den Ball zu sehen. „Ich habe ihn schon sehr vermisst, als er nach Katar ging“, sagt Gautan. „Aber wir blieben in Kontakt. Er sollte eigentlich für das jährliche Tihar-Fest zurückkommen. Und jetzt kann er nicht mehr hier mit uns sein.“

Anish war im Dorf beliebt. Das zeigt sich auch daran, dass im Ort Geld für die Familie gesammelt wurde. Um seine sterblichen Überreste von Katar nach Nepal zu bringen und um das Feuerholz für die Einäscherung im Pashupatinath-Tempel und den Transport der Asche ins Dorf zu bezahlen.

„Er war ein ehrlicher Mann. Einer der besten Basketballspieler, die wir hatten. Er kümmerte sich auch um die Kleinen in Ghandruk, jeder kannte ihn“, sagt Lachin Gurung, der Freund der Familie, am Rande des Basketballspiels. Der Ansager gibt den Spielstand bekannt und das Spiel geht weiter. Niemand weiß, wie viele der zehn Spieler auf dem Platz nach ihrem Schulabschluss noch in diesem Dorf leben werden.

Ein Hotel in den Bergen. Ein Mann läuft über den Hof.

Ein Haus in Ghandrung. Nicht nur Anish verließ seine Heimat, um Arbeit zu finden.

Lachin trägt eine Adidas-Kappe, Sonnenbrille und eine glänzende schwarze Jacke mit Fellkragen. „Er sagte nur: ‚Ich gehe.‘ So machen wir das hier so. Wir gehen, um irgendwo anders weit weg zu arbeiten“, sagt er. „Was hätte ich ihm sagen sollen, gehe nicht, es ist gefährlich?“, erklärt Lachin und überlegt einen Moment. Dann erzählt er, wie das, was passiert ist, sein verklärtes Bild vom Arbeiten in Katar zerschlagen hat. „Niemand will dort hingehen und arbeiten, nach dem, was Anish passiert ist.“

Lachins Vater war Soldat in der Gurkha-Brigade. Nach einer langen Zeit im Militärdienst durfte er Staatsbürger in Großbritannien werden. Lachin ging zurück ins Dorf, um ein Hotel zu bauen. „Wenn du reisen willst, um anderswo Arbeit zu finden, ist es leicht, Geld zu leihen“, sagt er. „Aber wenn du hier im Dorf was aufbauen willst, will dir niemand ein Darlehen geben. Das ist unsere Realität.„ Zwei Jahre lang schlief Lachin in einem blauen Zelt, während das Hotel gebaut wurde. Das Zelt steht immer noch da. „Ich möchte den jungen Menschen in unserem Dorf eine Möglichkeit geben, Geld zu verdienen, ohne ins Ausland gehen zu müssen“, fügt er hinzu. „Ich hoffe, sie können bleiben und das Land bestellen oder etwas anderes tun, auf das sie stolz sein können. Anstatt für Mindestlöhne wie Tiere behandelt zu werden.“

Als das Basketballspiel vorbei ist und die Sonne über Ghandrung untergeht, versammeln sich Anishs Freunde bei einem der Häuser, um zu tanzen und Tihar, das Fest des Lichts, zu feiern. „Wenn Anish am Leben wäre, wäre er hier bei uns dabei gewesen“, sagt einer seiner Freunde. „Aber er hätte wahrscheinlich nicht getanzt, weil er sehr schüchtern war.“

Eine Frau und ein Mädchen sitzen im Hauseingang. Sie halten Portraits eines Mannes.

Die Witwe Sita Kumari vor ihrem Haus.

19 Jahre lang lebte Sita Kumaris Familie ohne den Vater

Wenn man dem wilden Fluss Mardi etwa 50 Kilometer folgt, dieser Hauptader der Region, die sich von den südlichen Hängen des Himalaya Richtung Flachland schlängelt, kommt man zum Haus der Witwe Sita Kumari. Die Dorfbewohner:innen haben einen Ochsen geschlachtet, die besten Stücke sorgfältig zubereitet und gekocht. Der Anlass ist das Tihar-Fest, das Lichterfest. Sita Kumari und ihre Kinder werden ihr Haus dieses Jahr nicht mit Lichterketten schmücken, weil sie trauern. Kubir Singh, ihr Ehemann und Vater der drei Kinder, kam nie aus Katar zurück.

Im Haus wickelt sich Sita Kumari in das rot-rosa gemusterte Schultertuch und drückt sich gemeinsam mit ihren Kindern auf die kleine Veranda. Der Jüngste, Manish, ist acht Jahre alt und trägt einen grauen Kapuzenpullover. Seine Schwester Salina, elf Jahre alt, trägt rote Jogginghosen. Die Älteste, die 19-jährige Sunita, trägt ein hellgrünes Shirt mit Micky-Maus-Aufdruck. Am Handgelenk trägt sie die Uhr ihres verstorbenen Vaters.

Das Dach besteht aus Wellblech und die Böden sind kalt. Seit dem Verlust ihres Vaters und ihres Mannes, der ihr Ernährer war, mussten sie umziehen. Sie mieten nun ein Zimmer neben dem Fluss. Auf Land, das ihnen nicht gehört. „Dieses Haus wurde durch das Erdbeben beschädigt, deshalb können wir es billig mieten“, sagt Sita Kumari. „Der Plan war, ein Haus für die Familie zu bauen, aber jetzt sitzen wir hier fest.“

Kurz nachdem Sunita, die Erstgeborene, auf die Welt gekommen war, reiste Kubir Singh nach Katar, um die Zukunft seiner Familie zu sichern. „Er bediente schwere Maschinen, er fuhr eine Dampfwalze“, sagt die Witwe. Als Kubir Singh zum ersten Mal wegging, in den frühen 2000er Jahren, gab es weder soziale Medien noch Whatsapp. Die letzten Jahre war es dann einfacher, in Kontakt zu bleiben. Alle zwei Jahre kam er zurück nach Nepal und zu seiner Familie. Aber den Großteil der 19 Jahre lebte er sein Leben in Katar und die Familie ihres in Nepal.

Drei Kinder sitzen auf einem Bett. An der Wand hängt ein Bild ihres Vaters.

Sunita, 19, Salina, 11, und der Sohn Manish, 8: Alle vermissen ihren Vater.

Eines ihrer letzten Gespräche wird Sita Kumari nie vergessen. Er sei fertig mit Katar, sagte ihr Mann. Er wolle nach Hause kommen. Die nächste Reise würde seine letzte sein. Er habe sich oft darüber beschwert, dass er und seine Kollegen auch arbeiten mussten, wenn sie krank waren, erzählt sie. „Wenn sie einen Tag auf der Arbeit fehlten, verloren sie zwei Tage Lohn. Aber ich habe ihm immer gesagt, sich nicht unter Druck zu setzen, wenn er krank war“, erzählt Sita Kumari. „Er hat nicht drauf gehört. Ohne sein Einkommen können unsere Kinder nicht zur Schule gehen, sagte er.“

Kubir Singh erzählte seiner Familie, dass sie sehr viel Arbeit hätten wegen der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft. Eine der Straßen, die er mitbaute, führte zu einem neu gebauten Stadion. Eines Nachts erzählte er seiner Frau, dass er sich krank fühle und beim Fahren von der Dampfwalze gefallen sei, er sei einfach zusammengebrochen. „Er betrachtete das als Zeichen und sagte, er habe ein Flugticket für seine Rückkehr nach Hause gebucht.“ Kubir Singh brach wieder zusammen und wurde ins Krankenhaus gebracht.

Zehn Tage später landete sein Leichnam am Flughafen in Kathmandu. „Auf seiner Sterbeurkunde steht, dass er an ‚hohem Blutdruck, der die Nieren beeinträchtigte‘ starb.„ Seine Witwe ist am Boden zerstört, dass die Firma sich nicht um seine Krankheit kümmerte. „Sie haben ihn arbeiten lassen, wenn er krank war, das zerreißt mir das Herz. Jetzt stehen wir ohne Einkommen da. Und ich denke, jeder kann sich vorstellen, wie das enden wird“, sagt Sita Kumari und schaut zu ihren Kindern herüber. Sie bekam umgerechnet rund 4.100 Euro von der Firma. Aber von den ausstehenden Gehaltschecks und Prämien, von denen Kubir Singh gesprochen hatte, sah sie nichts. „Das ganze Geld, was er nach Hause schickte, benutzten wir für die Bildung der Kinder“, sagt sie. „Wir wollten den Kindern eine bessere Zukunft geben.“

Die Golf-Männer schuften für die Hoffnung auf den Bildungsaufstieg

Die Kinder gehen in das Familien-Schlafzimmer, setzen sich aufs Bett und zeigen ein Porträt ihres Vaters, das an einer gelb gestrichenen Wand hängt. Keines von ihnen hatte die Möglichkeit, eine längere Zeit mit dem Vater zu verbringen. Oder ihn wirklich kennenzulernen. Sie wurden gut darin, sich um sich selbst zu kümmern – und auf ihren Vater zu warten, dass er nach Hause kommt. Er hat 19 Jahre lang sein Leben für ihre Zukunft geopfert. Wenn jetzt kein Wunder geschieht, müssen sie alle drei die Schule abbrechen. Neben dem Foto von Kubir Singh hängt ein Bild mit abgebildeten Rosen. Als alle das Zimmer verlassen haben, wechselt die älteste Tochter ihr Micky-Maus-T-Shirt eilig gegen ein glitzerndes Kleid, das ihr Vater auf einer seiner vielen Reisen gekauft hat. Sein Tod ist nun fast ein ganzes Jahr her und sie will am Abend unbedingt ausgehen und das Lichterfest mit ihren Freunden feiern.

Fluss in den Bergen

Der Fluss Mardi fließt am Haus der Familie Bishworkarma vorbei und erreicht schließlich den Süßwassersee Phewa Tal, der zweitgrößte in Nepal. Umrahmt von Bergen liegt er wie ein Juwel im südlichen Pokhara-Tal. Kleine Boote und Kanus liegen an Land gezogen und warten darauf, mit einer Ladung Tourist:innen aufzubrechen. Wenn es irgendwelche Tourist:innen zu führen gäbe, würden Bine Bahadur Bishworkarmas Söhne genau das tun.

Stattdessen sitzen seine erwachsenen Kinder Suresh, Raj, Amit und Krishna zu Hause in einem einfachen Zimmer mit blauen Wänden. Eine Matratze aus Schilfrohr und eine grüne Decke liegen auf einem Holzbett. Das einzige Möbelstück im Zimmer ist eine große Kommode mit kaputten Griffen. Als Kinder kritzelten sie mit Bleistift und Tinte auf die blaue Wand. Die Spuren sind noch deutlich zu sehen. Jetzt sind sie zwischen 21 und 34 Jahre alt. Vier Söhne und die Jüngste, Sumitra. Ihre Mutter, Nir Maya Bishworkarma, trägt ein blaues Kleid und ein rotes Schultertuch.

Sie setzt sich aufs Bett. Der Tod ihres Mannes im Mai 2020 zerschmetterte die Hoffnung der Familie auf eine bessere Zukunft. „Wir konnten es uns nie leisten, unsere Kinder zur Schule zu schicken, als sie klein waren. Deshalb sind sie jetzt alle arbeitslos“, sagt sie. Ein gelbes Stromkabel hängt von der Decke herab. Viele der Nachbarn gingen in den vergangenen 20 Jahren nach Katar, und viele kamen als „Golf-Männer“ nach einigen Jahren zurück. Mehr Backsteinhäuser wurden gebaut und die Alphabetisierungsrate stieg – zu einem hohen Preis.

Während seiner Jahre in Katar erzählte Bine Bahadur Bishworkarma ihnen, wie hart das Leben als Arbeitsmigrant war und drängte seine Kinder dazu, fleißig zu lernen, damit sie eine Arbeit in Nepal finden können. „Er verbot ihnen, für die Arbeit zu reisen“, sagt seine Frau. „Und solange er am Leben war, hatten wir nie Geldprobleme. Jetzt wissen wir nicht, was wir machen sollen.„ Der Vater, der mit 52 Jahren starb, sprach selten über die Arbeit, wenn er zu Hause anrief. Aber sie wussten, dass er teure Materialien wie Marmor in den neuen Hotels verlegte. „Er sagte immer, dass er nie wieder ins Ausland zurückgehen werde, wenn er seinen Bonus habe“, sagt die Witwe.

Während all der Jahre träumten Bine Bahadur Bishworkarma und seine Frau von einer besseren Zukunft für ihre Kinder. „Ich stritt mich regelmäßig mit ihm und versuchte, ihn zu überzeugen, die Kinder nach Katar gehen zu lassen, als sie hier arbeitslos waren. Aber er war dagegen. Heute verstehe ich, warum,“ sagt sie.

Eine Frau mit dem Portrait ihres Mannes.

Nahm sich Bine Bahadur Bishworkarma das Leben? Seine Witwe zweifelt daran.

Im Frühling 2020, als die ersten Kollegen an Corona erkrankten, versuchten viele, nach Hause zu kommen. Bine Bahadur Bishworkarma nicht. Er machte sich Sorgen, die Krankheit ins Dorf zu bringen und entschied zu bleiben. „Als sein Chef Corona bekam, klang mein Mann sehr erschrocken, als ich mit ihm am Telefon sprach“, sagt die Witwe. Was in der Nacht des 19. Mai geschah, weiß niemand wirklich. Eine halbe Stunde vor der Mittagspause am nächsten Tag fanden Kollegen Bine Bahadur Bishworkarma tot auf. Die offizielle Sterbeurkunde sagt, dass er Selbstmord begangen hatte. Aber sein Sohn Raj sagt, sein Vater sei wie immer gewesen und habe nicht depressiv gewirkt.

Was geschah mit Bine Bahadur Bishworkarma?

„Dass er sich umbrachte aus Sorge, uns bei der Rückkehr nach Nepal das Virus zu übertragen? Das ist eine recht weit hergeholte Theorie“, sagt Raj. „Er hatte ein Rückflugticket gekauft. Kaufst du ein Ticket, wenn du vorhast, dich umzubringen? Ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß nicht einmal, wo sein Leichnam ist. Sie haben ihn uns nie übergeben, auch nichts von seinen Sachen, sie haben nichts zurückgegeben“, sagt Raj.

Irgendwo in Katar befindet sich der Leichnam von Bine Bahadur Bishworkarma, zusammen mit seinen Habseligkeiten, Bankkarten, Geld und Möbeln. „Den Leichnam meines Vaters nicht nach Hause bringen zu können, war absolut schrecklich. Wir mussten eine lebensgroße Puppe formen, mit seinen Kleidern anziehen und sie dann verbrennen.“ Zwar erhielt die Familie eine Entschädigung von den nepalesischen Behörden und umgerechnet rund 9.100 Euro von der Lebensversicherung des Vaters. Doch vom ehemaligen Arbeitgeber haben sie nur einen geringen Betrag erhalten.

Nir Maya Bishworkarma hat angefangen, in einem Krankenhaus für Corona-Patienten als Reinigungskraft zu arbeiten. Sie macht sich Sorgen, zu alt zu werden, um arbeiten gehen zu können. „Alles, was ich will, ist, dass meine Kinder heiraten, damit ich mir Essen und die Miete leisten kann“, sagt sie. Sie warten immer noch darauf, dass die Touristen zurückkommen. Bis dahin liegen Rajs Kanus ungenutzt am See. Wenn es nicht regnet, streicht er Häuser im Ort.

„Ich habe auf Facebook gesehen, dass viele Menschen über die Fußballweltmeisterschaft schreiben“, sagt er. „Ich bin stolz darauf, dass mein Vater Marmor auf den Hotelböden verlegt hat. Die, die nach Katar fahren werden, um die Fußballspiele anzusehen, werden sich an seiner Handwerkskunst erfreuen. Aber für uns ist es eine Tragödie.“


Übersetzung: Marion Bergermann, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Die unsichtbaren Toten der WM in Katar

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