„In Deutschland seht ihr die Proteste auf den Straßen Teherans. Ihr seht, wie Frauen den Hijab ablegen und mit nacktem Haar U-Bahn fahren. Doch das ist nur ein Ausschnitt der Realität. In kleineren Städten, zum Beispiel dort, wo ich wohne, schlagen die Sicherheitskräfte die Proteste nieder, bevor sie richtig anfangen. Sie wollen das Auflehnen der Bevölkerung im Keim ersticken.
Ich selbst gehe nicht auf die Straße, weil ich Angst habe. So geht es vielen. Ich habe Angst davor, abgeführt und eingesperrt zu werden. Und ich habe Angst vor dem, was danach passieren kann. Es gibt hier keine unabhängige Justiz. Das heißt: Die Sicherheitskräfte können mit mir machen, was sie wollen.
Ich möchte euch etwas über den Alltag in Iran erzählen: Wir haben hier die App Snapp, eine Art iranisches Uber Eats. Menschen bestellen dort Essen und Kaffee. Doch der Geheimdienst greift ihre Daten ab. Viele Menschen wurden wegen ihrer Bestellungen über die App verhaftet. In einem Fall wollte sich jemand vor den Sicherheitskräften verstecken. Die Nachbarn sagten, er sei nicht da. Aber sie konnten sehen, dass er etwas über die App bestellt hatte. So haben sie ihn erwischt.
Das ist das Ausmaß der Gewalt. Das Beispiel zeigt: Die Gewalt des Regimes richtet sich gegen alle. Doch die Frauen leiden ganz besonders.
Die Hälfte der iranischen Bevölkerung wird unterdrückt. Jeden Tag. Jede Stunde ihres Lebens. Sogar zu Hause. Hier im Iran gelten Frauen als Eigentum ihrer männlichen Familienmitglieder. Das ist lächerlich. Doch selbst viele der progressiven Männer im Iran sind sehr konservativ. Sie glauben, sie würden entehrt, wenn ihre Schwester, Mutter oder Partnerin sich falsch anzieht. Sie haben Angst davor, ihre Ehre zu verlieren, wenn die Sittenpolizei ihre Tochter aufgreift. Sie haben Angst davor, ihr Gesicht zu verlieren. Denn sie werden dafür verantwortlich gemacht, wenn sie „ihre“ Frauen nicht im Zaum halten können. Andere machen sich dann über sie lustig. Sie werfen ihnen vor, kein echter Mann zu sein. Auch das ist lächerlich. Aber so ist es nunmal. Deshalb zwingen sie ihre Frauen und Töchter dazu, sich an die Regeln zu halten.
Das geht soweit, dass Frauen in vielen Familien nicht arbeiten dürfen. So war das auch in meiner Familie. Mein Vater erlaubte mir nicht einmal, in einer anderen Stadt zu studieren. Um es klar zu machen: Wir müssen gegen die kleinen Diktatoren in unseren Familien kämpfen und gegen die großen Diktatoren im Regime. Und weil wir das schon lange machen, sind wir gut vorbereitet.
Wir reden nicht mehr nur über den Hijab, wir wollen das Regime stürzen
Jetzt sagen wir: Es reicht. Frauen müssen ihre Rechte zurückbekommen. Frauen müssen selbst über ihren Körper bestimmen. Wir reden nicht mehr nur über den Hijab, wir wollen das Regime stürzen.
Am 13. September 2022 wurde die 22-jährige Mahsa Amini wegen „Tragens unangemessener Kleidung“ von der iranischen Sittenpolizei in Teheran festgenommen. Berichten zufolge sollen die Beamten sie geschlagen haben. Amini fiel ins Koma. Drei Tage später war sie tot. Seitdem gehen die Menschen in Iran auf die Straße. Sie protestieren gegen die Gewalt der Sittenpolizei und den Kopftuchzwang im Land – und fordern das Ende des Regimes.
T. ist eine junge Grafikdesignerin aus einer Stadt im Nordwesten des Irans. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Sie hat sich an uns gewandt, weil sie Bekannte in Deutschland hat, die Krautreporter lesen. Mir hat sie am Telefon erzählt, wie es ihr geht, wovor sie Angst hat, warum die Proteste sich nicht nur gegen den Kopftuchzwang im Land richten und wie die Regierung mithilfe von Technologie versucht, sie zu stoppen.
Wir haben schon viele Proteste im Iran gesehen. Im Jahr 2009 gingen die Menschen auf die Straße, um gegen die Wahl Mahmud Ahmadineschāds zu protestieren. Sie vermuteten Wahlbetrug. Im Jahr 2019 protestierten die Menschen erneut. Sie litten unter der schlechten Wirtschaftslage und machten auch das Regime dafür verantwortlich. Aber diese Proteste sind anders. Zwei Dinge haben sich verändert: Die Menschen, die protestieren. Und der Grund für ihre Wut.
Diese Revolution ist feministisch. Aber es sind nicht nur Frauen, die protestieren. Inzwischen gibt es eine vereinigte Opposition gegen die Regierung, die aus Frauen, Progressiven, Armen und ethnischen Minderheiten besteht. Sie protestieren gemeinsam gegen den religiösen Extremismus der Regierung und gegen den weit verbreiteten Traditionalismus im Land.
Die Regierung legt den Islam mittlerweile so extrem aus, dass sie inzwischen sogar die Unterstützung der religiösen Bevölkerung verliert. Das Regime versucht deshalb sogar, Märtyrer aus dem Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988 zu instrumentalisieren. Sie behaupten, dass diese iranischen Soldaten damals ihr Leben opferten, um die Frauen in Iran zu beschützen und das Tragen des Hijabs zu verteidigen. Doch damit kommen sie nicht durch.
Sogar die Töchter von zwei berühmten Märtyrern des Krieges stellen sich gegen die Regierung. Sie sagen: Mein Vater hat sein Leben nicht geopfert, um iranischen Frauen den Hijab aufzuzwingen. Sie haben ihr Leben gegeben, um sie zu beschützen. Stattdessen werden diese Frauen nun von den Sicherheitskräften der Regierung angegriffen, verprügelt und vergewaltigt. Viele Menschen, die auf die Straßen gehen, sind religiös. Aber sie haben genug von der Unterdrückung des Regimes. Es geht darum, das ideologische Fundament der Regierung zu kippen.
Das Regime versucht, die Gesellschaft zu spalten – aber sie hat uns geeint
In den letzten fünf Jahren ist die Wirtschaft in Iran eingebrochen. Die Mittelklasse ist verschwunden. Immer mehr Menschen leben in Armut, inzwischen sind es 17 Millionen. Und diese Menschen – egal ob religiös oder nicht – leben von der Hand in den Mund. Sie haben eigentlich gar keine Zeit für Protest. Sie haben für nichts Zeit. Sie müssen arbeiten. Auch so funktioniert Unterdrückung: Sorge dafür, dass das Volk keine Zeit hat, sich zu politisieren. Aber aktuell sind sogar die Armen auf den Straßen, etwa im ärmeren Süden von Teheran.
Was wir auch sehen, ist ein Kampf zwischen Zentrum und Peripherie. Die Menschen im Zentrum haben die Macht in Iran. Die ethnischen Minderheiten leben an den Grenzen, in den Randbezirken des Landes. Kurden, Araber, Belutschen oder Turkmenen. Sie leiden unter dem Regime. Sie werden wie Menschen dritter Klasse behandelt. Und die Regierung versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Sie behaupten zum Beispiel, die Kurden würden andere Minderheiten abschlachten. Oder dass die Araber dem Irak im Krieg gegen Iran geholfen haben. Die Regierung versucht, zu spalten. Das hat lange funktioniert. Aber jetzt sind wir geeint.
Die Generation Z führt diese Proteste an
Diese Proteste sind anders, weil sie uns zusammengebracht haben. Endlich. Die Revolution hat in Kurdistan begonnen. Aber der Funke ist in andere Regionen übergesprungen. Und die Proteste werden von einer neuen Generation angeführt, der Generation Z.
Die Generation Z ist in den sozialen Medien zu Hause, sie hören K-Pop und Ed Sheeran. Sie haben massiven Zugang zu Informationen im Netz. Sie sehen, wie absurd unser Leben hier ist. Und sie nutzen die sozialen Medien, um sich zu organisieren, während die Regierung versucht, einen psychologischen Krieg mithilfe von Technologie und Datenklau gegen uns zu führen.
Wir sind uns bewusst, dass viele Revolutionen in der Vergangenheit gescheitert sind, weil durch sie nur neue Diktatoren an die Macht gekommen sind. So war es auch 1979 in Iran, als der Schah gestürzt wurde. Damals war die Bevölkerung zersplittert, jeder wünschte sich eine andere Regierung. In diesem Machtvakuum konnte Ruhollah Chomeini sein islamisches Regime aufbauen.
Seit den Protesten bin ich arbeitslos – das ist der Preis für unsere Freiheit
Jetzt wollen wir es stürzen. Unser Leben hat sich über Nacht komplett verändert. Viele Menschen machen sich Sorgen um ihre Angehörigen, die auf die Straße gehen und protestieren. Die Wirtschaft bricht ein. Wegen der Internetblockade ist es derzeit besonders schwer für Menschen, die online arbeiten. Gerade verlieren viele ihren Job, die meisten davon sind Frauen. Apps wie Instagram sind oft die einzige Möglichkeit für sie, Geld zu verdienen. Dort können sie Produkte verkaufen. Auch ich bin seit den Protesten arbeitslos. Als Grafikdesignerin brauche ich Internet. Aber das ist der Preis der Freiheit. Den bezahlen wir gern. Es eint uns. Und motiviert, weiter zu kämpfen. Jeder kann etwas tun, jeder kann kämpfen – egal ob mit Hashtags, Streiks, Demonstrationen oder einfach nur damit, Freunde und Familie aufzuklären.
Deshalb sind jetzt drei Dinge wichtig. Erstens: Die Proteste dürfen nicht abflauen. Zweitens: Wir brauchen mehr Streiks. Aktuell kommen immer mehr ältere Menschen und Arbeiter aus der Ölindustrie zu den Protesten. Aber es müssen noch mehr werden. Drittens: Wir brauchen Berichterstattung. Weltweit. Schaut hin! Denn wenn die Welt wegschaut, macht die Regierung, was sie will.“
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Thembi Wolf, Bildredaktion: Lisa McMinn, Audioversion: Iris Hochberger