Heute geht es darum, wer für die Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines verantwortlich sein könnte. Außerdem beantworte ich die Frage, warum niemand an die Ergebnisse der Scheinreferenden in der Ukraine glaubt und gebe dir wie immer eine Portion Hoffnung mit.
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Was ist gerade wichtig?
Aus insgesamt vier Lecks trat aus den beiden Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 tagelang Gas aus. Politiker:innen und Expert:innen gehen von Sabotage aus. Zwar ist gerade keine der beiden Pipelines in Betrieb, aber aus technischen Gründen befand sich in den Röhren Gas. Jetzt sind die Lecks erst mal gestopft und alle fragen sich: Wer wars? Um das zu beantworten, hilft eine andere Frage:
Wer profitiert davon?
Die Pipelines liegen in bis zu 80 Metern Tiefe. Eine Hobbytaucherin könnte dort jedenfalls nicht einfach so hinschwimmen und an vier Stellen Explosionen auslösen. Es spricht also einiges dafür, dass ein staatlicher Akteur verantwortlich ist. Am wahrscheinlichsten ist, dass Russland selbst hinter der Sabotage steckt. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
Nord Stream 2 war nicht nur für Deutschland, sondern auch für Russland ein innenpolitisches Fiasko. Russland hat zig Millionen Euro investiert und die russische Propaganda versucht seit Jahren, das Bild zu vermitteln, Nord Stream 2 sei ein sinnvolles, für alle vorteilhaftes Projekt. Doch nach Beginn des russischen Angriffskrieges stoppte Deutschland die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 – und will auch in Zukunft ganz auf russisches Gas verzichten. Wie soll der Kreml das der Öffentlichkeit erklären? Er braucht einen Sündenbock.
Wenn eine „fremde Macht“ die Pipelines sabotiert, kann sich Russland aus der Verantwortung ziehen. Nicht die Sanktionen sind schuld oder gar Russland selbst, das Deutschland mit ausbleibenden Gaslieferungen erpressen will, sondern die mysteriösen Lecks in den Pipelines. Die Erzählung ähnelt der um die angeblich fehlerhafte Turbine, laut der Gazprom nach einer Wartung Nord Stream 1 nicht mehr in Betrieb nehmen konnte. Siemens Energy, der Hersteller der Turbine, hatte der Darstellung von Gazprom damals widersprochen.
Gleichzeitig soll die Sabotage an den Nord-Stream-Pipelines Angst und Verunsicherung auslösen. Denn wenn ein unbekannter Staat einfach so ein paar Löcher in Leitungen sprengen kann, dann kann es auch andere Pipelines treffen, die uns gerade mit Gas beliefern. Beispielsweise die Baltic Pipe durch Polen oder die Europipe von Norwegen nach Deutschland.
Könnten es nicht doch die USA gewesen sein? Die waren schließlich von Anfang an gegen den Bau von Nord Stream 2! Das ist unwahrscheinlich. Schließlich wurde Nord Stream 2 wegen des russischen Angriffskrieges ohnehin nicht in Betrieb genommen. Aus Sicht der USA war das Ziel also schon erreicht. Aus der Sabotage der Pipelines ziehen sie keinen Vorteil.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Stefanie fragt: „Wo fühlt sich die Bevölkerung in der Ostukraine an der Grenze zu Russland zuhause? Wie können wir das herausfinden?“
Vergangenen Freitag erklärte Wladimir Putin die Annexion der ukrainischen Gebiete Lugansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Dem vorausgegangen waren gefälschte Abstimmungen, sogenannte Scheinreferenden, in denen sich nach russischen Angaben eine große Mehrheit für den Anschluss an Russland ausgesprochen haben soll. Niemand zweifelt daran, dass die Referenden gefälscht sind, kein Staat außer Russland erkennt sie an.
Das Kyiv International Institute of Sociology führte von 2014 bis zu Beginn des Angriffskrieges regelmäßig Umfragen in den betroffenen Gebieten durch. Wir wissen also ziemlich gut, was die Menschen dort denken – und dass sie sich in einem echten Referendum kaum für einen Anschluss an Russland ausgesprochen hätten.
Im April 2014 sprachen sich in Cherson nur vier Prozent der Befragten für einen Anschluss an Russland aus. In Saporischschja waren es sechs Prozent. In Donezk war mit 28 Prozent und in Lugansk mit 30 Prozent ein bedeutend größerer Teil für den Anschluss an Russland. In beiden Oblasten war aber immer noch eine Mehrheit von 52 Prozent dagegen.
In den Daten von 2021 und 2022 gab es keine vergleichbare Frage. Deshalb erstellte das Umfrageinstitut auf Grundlage der Daten von 2014 ein Modell, um zu berechnen, wie viele Menschen sich kurz vor der Invasion für einen Anschluss an Russland ausgesprochen hätten. Demnach hätte es in keinem der vier Oblasten eine Mehrheit für einen Anschluss an Russland gegeben. Der potentiell höchste Zustimmungswert wären demnach 22 Prozent in Lugansk gewesen.
Zum Vergleich: Nach russischen Angaben stimmten bei den Scheinreferenden in Cherson 98 Prozent für den Anschluss an Russland, in Donezk sollen es unglaubliche 99 Prozent gewesen sein.
Russland versucht, seinen Machtanspruch auf Gebiete geltend zu machen, wo Menschen ethnisch russisch sind oder Russisch sprechen. Viele denken, dass die Menschen in der Ost- und Südukraine, wo eher Russisch als Ukrainisch gesprochen wird, sich automatisch Russland zugehörig fühlen. Russland verbreitet diese Erzählung absichtlich. Doch das ist ein Fehlschluss. Ein Gedankenspiel zur Erklärung: Österreicher:innen sprechen Deutsch, trotzdem fühlen sie sich österreichisch und haben eher keine Lust, als 17. Bundesland an Deutschland angeschlossen zu werden.
Der Link der Woche
Als Wladimir Putin die „Teilmobilmachung“ ausrief, zweifelten bereits viele daran, ob Russland so viele Soldaten ausrüsten und ausbilden kann. Inzwischen zeigt sich: Die Zweifel waren berechtigt. In diesem Protokoll erzählt ein Rekrut aus Kaliningrad von den Zuständen in seiner Basis. Soldaten bekommen von Moos bedeckte Stiefel und Kalaschnikows aus den 1980er Jahren, ein Rekrut ohne Führerschein wurde zum Panzerfahrer ernannt und 19-Jährige ohne militärische Erfahrung bekommen kein einziges Schießtraining. Den ganzen Text gibt es hier auf Englisch.
Die Hoffnung der Woche
Knapp ein halbes Jahr war Isjum von Russland besetzt, vor knapp drei Wochen eroberte die ukrainische Armee die Stadt zurück. Einer der berühmtesten Musiker:innen der Ukraine, Swjatoslaw Wakartschuk, reist seit Beginn des Angriffskrieges durch das ganze Land. Hier sitzt er in Isjum auf einer Parkbank und singt mit Bewohner:innen ukrainische Lieder.
https://twitter.com/Gerashchenko_en/status/1576617790081228804?s=20&t=fTEUvkBIlEw7iItsEfmW6g
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert