Hat Brasilien jetzt einen neuen Präsidenten, oder nicht?
Im ersten Wahlgang am Sonntag hat Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei die meisten Stimmen bekommen. Wer Brasilien ab 2023 regiert, entscheidet sich aber erst in einer Stichwahl Ende Oktober.
Der Herausforderer Lula hat keine absolute Mehrheit einfahren können, daran ist er knapp vorbeigeschlittert: 48,4 Prozent der Menschen in Brasilien stimmten für ihn. Der jetzige rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro erhielt 43,2 Prozent der Stimmen.
Bolsonaro hat das Land in den vergangenen Jahren ziemlich runtergerockt. Klimakatastrophe, Corona-Riesenkrise, Armut, wirtschaftlich schwierige Lage – Lula soll das jetzt alles wieder richten? Lula ist doch kein Wunderheiler.
Manche Brasilianer:innen glauben das tatsächlich. Oder besser: Sie hoffen es. Lula ist für sie eine Art Volksheld. Vor der Wahl wurden etwa Handtücher verkauft, auf denen er als Superheld abgebildet ist. Aber nicht nur für seine Wähler:innen ist Lula ein Held. Für viele war die Wahl von Lula eine strategische Entscheidung gegen Bolsonaro. Frei nach dem Motto: Schlimmer kann es ja nicht mehr werden.
Viele Medien haben getitelt, dass Bolsonaro zwar verloren hat, aber trotzdem der Gewinner sei. Was ist da dran?
Bolsonaro hat tatsächlich deutlich mehr Stimmen erhalten, als die Umfragen vor der Wahl hatten vermuten lassen. Expert:innen schieben das auf die „stillen“ Bolsonaro-Wähler:innen, die in den Umfragen geschwiegen haben. Es sieht dennoch danach aus, als würde Lula bald wieder die Macht übernehmen – aber sicher ist es nicht.
Wieder die Macht übernehmen?
Ja, Lula war von 2003 bis 2010 Präsident in Brasilien. Danach regierte fast sechs Jahre lang seine Parteinachfolgerin Dilma Rousseff. Ab 2014 kam es in Brasilien dann zur Aufklärung des riesigen Korruptionsskandals „Lava Jato“ (auf Deutsch: Autowäsche). Im Zusammenhang damit wurde Rousseff 2016 ihres Amtes enthoben und Lula verurteilt. Lula landete 2018 wegen desselben Skandals im Gefängnis. Ihm wurde Korruption vorgeworfen.
Ha, diese Wahl war ja wie eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera! Bolsonaro gilt als rechtsextremer, rassistischer und frauenfeindlicher Wissenschaftsleugner. Und Lula war wegen Korruption im Knast.
Es stimmt, dass sicher keiner der beiden Kandidaten ideal für Brasiliens Zukunft ist. Lula war bereits zweimal Präsident, außerdem ist er mit seinen 76 Jahren wirklich schon alt. Und ja, er war im Gefängnis. Bolsonaro hingegen ist in den vergangenen vier Jahren vor allem durch populistische Sprüche aufgefallen. Ein Mann, der Hass und Fakenews verteilt. Beides nicht gerade klasse. Ich finde allerdings, dass es schon deutliche Unterschiede bei der Frage gibt, wer von beiden „schlimmer“ ist.
Wie meinst du das?
Lula war im Gefängnis, weil er angeblich eine Wohnung als Bestechung angenommen hat. Dieses Urteil wurde inzwischen aufgehoben. Ihm konnte nie nachgewiesen werden, dass er sich da wirklich hat korrumpieren lassen. Viele Brasilianer:innen sagen, dass das Verfahren gegen Lula vor allem politische Gründe hatte. Das alles bedeutet nicht unbedingt, dass Lula tatsächlich nicht korrupt ist – aber es gibt zumindest keinen sicheren Beweis für diesen Fall. Seine Arbeiterpartei (Partido Trabalhador, PT) war jedenfalls schon in viel größere Korruptionsskandale verstrickt …
Wenn man ihm das alles nicht so richtig nachweisen kann, war er wenigstens ein guter Politiker?
Ich sags mal so: joa … Lula hat in seinen beiden Amtszeiten nach allgemeinem Verständnis gute Arbeit geleistet. So ist in der Zeit beispielsweise der Hunger im Land zurückgegangen und die Alphabetisierungsrate gestiegen.
Bolsonaro hingegen hinterlässt nach seiner Amtszeit politisch ein Trümmerfeld. Mehr als 30 Millionen Brasilianer:innen leiden nun wieder an Hunger, ungefähr die Hälfte der Menschen im Land ist von sogenannter Ernährungsunsicherheit betroffen. Das ist deutlich sichtbar: Immer häufiger sehe ich bettelnde Menschen auf der Straße. Außerdem sind fast 700.000 Personen in der Corona-Pandemie gestorben.
Stimmt, unter anderem, weil viel zu spät Impfdosen gekauft wurden. Richtig?
Genau. Außerdem hatte Bolsonaro auch gesagt, Corona sei nur eine „leichte Grippe“.
Sind denn die Folgen der Pandemie noch zu spüren?
Auf den ersten Blick kaum. Nirgends herrscht mehr Maskenpflicht, testen muss man sich so gut wie nie und Großveranstaltungen finden uneingeschränkt statt. Wenn ich aber mit den Menschen hier spreche, merke ich, dass der Schock und auch der Schmerz noch tief sitzen. Fast jede:r hat Menschen in seinem Umfeld verloren oder hat Freund:innen, die nahe Angehörige verloren haben. Mein Eindruck ist, dass die Angst vor dem Coronavirus deshalb größer ist als in Deutschland. Vielen Menschen ist klar, dass sie nicht auf ein relativ gut ausgerüstetes Gesundheitssystem zählen können, wenn sie schwer krank werden.
Gleichzeitig wird Brasilien derzeit von einer neuen Krise überrollt: Durch Inflation und Rezession können viele Menschen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Viele leiden Hunger. Und zu dieser Armutskrise kommt die Klimakrise.
Du hast anfangs gesagt, viele Leute bejubeln Lula wie einen Superstar. Wie ist Lula zum Held geworden?
Viele Brasilianer:innen verbinden gute Erinnerungen mit der Regierungszeit von Lula. Dafür gibt es zum einen rationale Gründe: Während seinen Amtszeiten ist die Mittelschicht gewachsen, viele Menschen kamen aus der extremen Armut und konnten sich plötzlich Autos oder den Besuch einer Hochschule leisten. Das lag zum einen an intelligenter Sozialpolitik, zum anderen aber auch an der guten wirtschaftlichen Entwicklung in jener Zeit. Auch international hat Brasilien damals Ansehen gewonnen.
Das ist aber nur die eine Seite. Es kommt auch noch dazu, dass Lula sich sehr erfolgreich als Gegenteil der weißen Politik-Elite im Land inszeniert hat. Er kommt aus der Gewerkschaftsbewegung und betont immer wieder, dass er aus einfachen Verhältnissen stammt. In einem Land, in dem manche Familien schon seit Generationen politische Macht untereinander aufteilen, ist das eine bemerkenswerte Aufstiegsgeschichte. Er hat die brasilianische Arbeiterpartei mitgegründet und aufgebaut und immer hervorgehoben, dass er sich für den „kleinen Mann einsetzt“. Diese Inszenierung ist erfolgreich. Vor der Wahl gab es Sticker von ihm im Che-Guevara-Revolutions-Look. Ich würde also sagen, diese Begeisterung für Lula ist eine Mischung aus Fakten und Romantisierung.
Aber heißt das, es gibt jetzt eine große Mehrheit für Lula?
In meiner Bubble könnte man dieses Gefühl bekommen – aber das ganze Bild ist das nicht. Nein. Bolsonaro hat schon auch viele starke Unterstützer:innen.
Wer unterstützt denn Lula?
Es gibt Bevölkerungsgruppen, die ziemlich geschlossen hinter Lula stehen: Künstler:innen, queere Menschen, auch sehr viele Lehrer:innen und Professor:innen. Und die zeigen ihre Unterstützung auch viel stärker als Wähler:innen in Deutschland das tun würden. Die Leute haben riesige Sticker auf ihren Autos, Aufkleber auf der Kleidung – und schon allein etwas Rotes zu tragen, führte in den vergangenen Wochen dazu, dass man als Lula-Unterstützer:in identifiziert wurde. Es gibt auch Unterstützungssongs. So wurde beispielweise ein bekannter Samba auf die Wiederwahl von Lula umgedichtet und gegen Bolsonaro die „Hymne von dem, dessen Namen nicht genannt werden darf“ gedichtet.
Viele Prominente hatten sich außerdem für Lula ausgesprochen. Besonders viel Aufmerksamkeit zog dabei der brasilianische Mega-Star Anitta auf sich. Die Sängerin sagte schon im Juli, dass sie Lula unterstützen wolle und hat ihm ihre Reichweite zur Verfügung gestellt. Und diese Reichweite ist beachtlich: Allein auf Instagram folgen ihr mehr als 60 Millionen Menschen. Kurz darauf teilte sie ein Bild von sich an einer Poledance-Stange in einer engen roten Leggins und dem typischen Stern der Arbeiterpartei auf ihrem Hintern. Das sorgte für ziemlich viel Wirbel.
Und wer unterstützt Bolsonaro?
Sehr unterschiedliche Gruppen! Zum Beispiel steht die Agrarindustrie geschlossen hinter ihm. Ich war in der vergangenen Woche in Mato Grosso unterwegs. Der Bundesstaat liegt im Südosten von Brasilien und ist fast dreimal so groß wie Deutschland. Von dort exportiert Brasilien jedes Jahr die größte Menge an Soja ins Ausland, aber es gibt auch wahnsinnig viele Rinder. Fleisch und Soja, damit verdienen die Leute hier viel Geld. In Mato Grosso habe ich die Unterstützung für Bolsonaro deutlich gespürt. Mir ist dort oft Bolsonaros typische Handgeste begegnet: eine mit der Hand geformte Pistole. Das passt auch zu zwei anderen wichtigen Gruppen, die Bolsonaro unterstützen: das Militär und die Polizei.
Vor vier Jahren hatten auch viele evangelikale Christ:innen Jair Bolsonaro gewählt. Umfragen deuten darauf hin, dass er da jetzt ein bisschen Rückhalt verloren hat. Auch viele Menschen aus der Mittelschicht wie Verkäufer:innen oder Taxifahrer:innen stehen hinter Bolsonaro. Natürlich konnte Bolsonaro ebenfalls auf die Unterstützung von Prominenz zählen. Der Fußballstar Neymar hat auf Tiktok und Twitter ordentlich Werbung für ihn gemacht.
Das klingt ja nach zwei sehr rivalisierenden Lagern. Merkt man das in Brasilien?
Absolut. Ich habe die Stimmung hier noch nie so angespannt erlebt wie zurzeit. Der Wahlkampf war wahnsinnig hitzig und hasserfüllt. Leute wurden angepöbelt, weil sie den „falschen“ Kandidaten unterstützten. Auf der Straße, in sozialen Netzwerken, einfach überall. Außerdem hat die politische Gewalt zugenommen. Es gab mehrere Morde, die direkt mit den Wahlen zusammenhängen. Im Bundestaat Ceará ist ein Mann in eine Bar gestürmt und hat gerufen „Wer wählt hier Lula?“ Als ein Mann sich meldete, erstach er ihn. Im Bundestaat Santa Catarina wurde in einem Streit ein Mann getötet, der ein Bolsonaro T-Shirt trug. Viele Leute haben aktuell Angst, ihre politische Meinung zu sagen. Verständlicherweise.
Das klingt fürchterlich. Da sind jetzt bestimmt alle froh, dass die Wahl vorbei ist?
Ja – manche haben aber auch Angst, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm ist. Bolsonaro hat immer wieder gesagt, dass er eine Wahlniederlage nicht anerkennen wird. Er hat den ganzen Wahlkampf lang immer wieder das brasilianische Wahlsystem in Frage gestellt und angedeutet, dass die Wahl gefälscht werden könnte. Viele seiner Anhänger:innen glauben das auch. Es gibt deswegen die Befürchtung, dass es zu einem Eklat oder gewaltvollen Ausschreitungen kommen kann.
Puh, hoffentlich nicht. Aber jetzt zurück zu dem neuen alten Präsidenten von Brasilien. Was verspricht Lula denn für die kommenden Jahre?
Seine Hauptthemen sind die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit in Brasilien. Er will außerdem für einen wirtschaftlichen Aufschwung im Land sorgen. Auch in Sachen Klima- und Umweltschutz will er vieles besser machen als Bolsonaro.
Denkst du, Lula meint das mit dem Klimaschutz ernst?
Eigentlich kann er es nur besser machen. Meiner Meinung nach ist es schwierig, eine desaströsere Umweltbilanz zu produzieren als Bolsonaro. Die Abholzungsraten sind so hoch wie lange nicht, es gibt wahnsinnig viele Waldbrände. Gleichzeitig hat Bolsonaro in den vergangenen Jahren mehr als 1.800 Pestizide zugelassen, viele mit hochgiftigen Inhaltsstoffen.
Ich glaube nicht, dass Lula so weitermachen will. Aber: Meiner persönlichen Einschätzung nach ist er von sich aus kein besonders grüner Präsident. Sein Fokus ist ein anderer. Die Konzepte „Entwicklung“ und „Fortschritt“ werden in Brasilien mit wirtschaftlichen Erfolgen verbunden. Nachhaltigkeit muss zurückstecken, wenn man gerade Hunger bekämpft.
Dennoch habe ich das Gefühl, dass viel in Bewegung ist. Vor der Wahl habe ich mit mehreren Menschen gesprochen, die am Klimaprogramm von Lula mitgearbeitet haben und die nachhaltige Entwicklung viel vernetzter verstehen. Das gibt mir Hoffnung. Außerdem ist sich Lula des internationalen Drucks rund um das Thema bewusst. Im Gegensatz zu Bolsonaro wird er eher auf Kooperation als Konfrontation setzen.
Apropos, international. Kannst du einschätzen, wie sich das Verhältnis zwischen Brasilien und Deutschland unter einer neuen Regierung Lula verändern würde?
Ja, das wird ziemlich sicher besser! Lula hat Regierungserfahrung, er weiß auch, wie man sich im internationalen Umfeld bewegt. Anders als Bolsonaro hat er Talent für Diplomatie. Er war zum Beispiel dieses Jahr im Frühling bereits auf Europatour und wurde dabei oft wie ein Staatsoberhaupt empfangen. Im Gegensatz dazu war Bolsonaro international meist isoliert. Zurzeit gratulieren Bolsonaro jedenfalls nur Gleichgesinnte wie Ex-US-Präsident Trump und Ungarns Premier Viktor Orbán zum angeblichen Wahlerfolg. Außerdem wird es unter Lula sicher wieder besser möglich sein, verbindliche Absprachen zu treffen und Kompromisse zu verhandeln – gerade auch mit Blick auf den Schutz der Amazonasregion.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert