Es ist niederschmetternd, das zu schreiben, aber Aserbaidschan hat Armenien angegriffen. Ich erkläre dir heute, was das mit dem Krieg gegen die Ukraine zu tun hat und warum es nicht „nur“ um die umstrittene Grenzregion Bergkarabach geht (diesen Konflikt erklärt dir hier meine Kollegin Marianna Deinyan. Außerdem beantworte ich die Frage, ob Putin jetzt gestürzt wird und wer nachkommen könnte. Natürlich gebe ich dir auch wie immer eine Portion Hoffnung mit.
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Was ist gerade wichtig?
Vor knapp einer Woche hat Aserbaidschan Armenien angegriffen. Die beiden kaukasischen Staaten sind schon lange verfeindet – Hauptkonflikt ist die mehrheitlich von Armenier:innen bewohnte Region Bergkarabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Jetzt hat Aserbaidschan nicht nur Städte in Bergkarabach angegriffen, sondern auch Gebiete im armenischen Inland. Insgesamt starben bisher rund 150 Menschen. Nach wenigen Tagen handelten die beiden Länder einen Waffenstillstand aus, doch der Konflikt schwelt weiter.
Warum hat Aserbaidschan ausgerechnet jetzt Armenien angegriffen?
Russland galt lange als Schutzmacht von Armenien. Die Betonung liegt auf „galt“, denn auf Russlands Schutz kann Armenien offenbar nicht mehr zählen. Beide Länder sind Mitglied in der OVKS, einem von Russland angeführten Militärbündnis. Der armenische Premierminister bat das Militärbündnis nach dem aserbaidschanischen Angriff um Hilfe. Doch Wladimir Putin lehnte es ab, militärisch einzugreifen. Aserbaidschan hat vermutlich genau darauf gezählt und die Gelegenheit genutzt, während Russlands Kräfte in der Ukraine gebunden sind und die Weltöffentlichkeit ebenfalls mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine beschäftigt ist.
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan reicht viele Jahrzehnte zurück. Anfang der 1990er Jahre kam es zu einem Krieg, beide Seiten begingen Massaker an der Zivilbevölkerung des jeweils anderen Landes. Viele Menschen können das der anderen Seite bis heute nicht verzeihen. Im Jahr 2020 kam es erneut zu einem Krieg – damals vermittelte Russland und konnte einen Waffenstillstand aushandeln. Den jetzigen Waffenstillstand führte allerdings nicht Russland herbei, sondern die internationale Gemeinschaft.
Für Deutschland und Europa ist das ein Dilemma. Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, wollen wir von russischem Gas unabhängig werden: Kein Gas von einer Diktatur, die ihr Nachbarland angreift, so der Konsens. Im Juli reiste EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen deshalb nach Aserbaidschan, um dort ein Gas-Abkommen zu unterzeichnen. Tja.
Ab 2027 soll Aserbaidschan mehr als 20 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr liefern – mehr als doppelt so viel wie jetzt. Von der Leyen nannte Aserbaidschan einen „vertrauenswürdigen Partner“. Jetzt hat Aserbaidschan, ein autoritär geführtes Land, ebenfalls sein Nachbarland angegriffen. Und viele sehen einige Gemeinsamkeiten zwischen dem aserbaidschanischen Machthaber Ilham Alijew und Wladimir Putin.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Marcus fragt: „Was würde passieren, wenn Putin nach den ukrainischen Rückeroberungen abgelöst oder gestürzt werden würde?“
Vor einer Woche haben 18 lokale Abgeordnete aus Moskau und St. Petersburg Putin zum Rücktritt aufgefordert. Das bedeutet nicht, dass Putin bald gestürzt wird – ein Skandal war es trotzdem. Und es macht Hoffnung.
Die ukrainische Gegenoffensive macht nicht nur die Ukrainer:innen hoffnungsvoll, auch Putins Macht in Russland hat dadurch einen Riss bekommen. Das hat verschiedene Gründe: Zum ersten Mal wirkt Putin nicht mehr unverwundbar. Selbst staatlich kontrollierte Medien geben zu, dass die „Spezialoperation“ in der Ukraine nicht gut läuft und lassen Menschen zu Wort kommen, die an der Sinnhaftigkeit des Krieges zweifeln.
Außerdem könnte sein, dass auch hochrangige und mächtige Unterstützer:innen Putins keine Lust haben, den Krieg gegen die Ukraine zu verlieren. Sie konnten sich in den vergangenen Jahren ungehindert bereichern, aber die zunehmende Isolation Russlands und die westlichen Wirtschaftssanktionen könnten auch sie zum Zweifeln bringen. Doch wie groß diese Zweifel wirklich sind, darüber rätseln gerade viele.
Es ist unklar, wer auf Putin folgen könnte. Die meisten Oppositionspolitiker:innen sind geflohen oder sitzen im Gefängnis. Realistische Nachfolger:innen wären eher der Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, oder Russlands Ministerpräsident Michail Mischustin. Doch vielleicht ist es gar nicht so wichtig, wer genau auf Putin folgt. Sondern dass die Person es schafft, das politische System Russlands zu reformieren. Ähnlich wie Michail Gorbatschow, der zwar die Sowjetunion erhalten wollte, aber gleichzeitig einer der wichtigsten Reformer:innen des 20. Jahrhunderts war.
Die Links der Woche
In den Gebieten, die die Ukraine zurückererobert hat, werden nun grausige Nachrichten öffentlich. In einem Pinienwäldchen nahe Isjum haben Arbeiter:innen etwa 450 Tote exhumiert. Bei den meisten soll es sich um Zivilist:innen handeln, die in den Bombardierungen starben. Reporter des Kyiv Independent haben die Stadt besucht, mit Einwohner:innen gesprochen und erklärt, welche Probleme jetzt noch auf die Stadt zukommen. Beispielsweise ist sie von der Strom- und Gasversorgung abgeschnitten und viele Gebiete sind vermint.
Eine Reporterin des Guardian war im befreiten Balaklija und berichtet von einem „Informationsvakuum“ der Bewohner:innen. Die waren über Monate vom Mobilfunknetz und vom Internet abgeschnitten, hatten noch nichts von den russischen Verbrechen in Butscha oder Mariupol gehört und deshalb nicht die gleiche gesellschaftliche Entwicklung mitgemacht, wie der Rest der Ukraine. Das könnte in den kommenden Wochen und Monaten eine Herausforderung für die ukrainische Gesellschaft sein.
Die Hoffnung der Woche
Gerade ältere Russ:innen schauen meist russisches Staatsfernsehen – und glauben der russischen Propaganda. Manche junge Russ:innen greifen deshalb zu kreativen Methoden, um ihren Eltern unabhängige Informationen zugänglich zu machen. Dem Portal Helpdesk.media erzählten sie, wie sie den Fernseher heimlich mit dem Wlan verbanden und regimekritische Videos auf der Startseite platzierten. Einer beispielsweise montierte das Label eines russischen Staatssenders auf eine Doku über Nawalny und schaltete diese Doku dann statt des eigentlichen Senders ein. Im Zitat des Screenshots steht: „Mein Vater ist kein Putinist mehr.“
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert