Seit Samstag kann ich das Handy nicht mehr aus der Hand legen. Eine Stadt nach der anderen erobert die Ukraine im Osten des Landes zurück – damit hatte niemand gerechnet. Darum geht es heute. Außerdem beantworte ich die Frage, wie lange die Deutschen noch die Ukraine unterstützen wollen und gebe dir eine kleine Portion Hoffnung mit.
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Was ist gerade wichtig?
Irgendwann passierte es im Stundentakt: Eine Stadt nach der anderen fiel in den vergangenen Tagen zurück an die Ukraine. Innerhalb von fünf Tagen konnte die ukrainische Armee größere Gebiete erobern, als die russische Armee in all ihren Operationen seit April, wie es das Institute for the Study of War analysierte. Es sei die größte Gegenoffensive in der Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges, schrieb einer der Experten des Instituts auf Twitter. Ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums redete die Erfolge klein und sprach lediglich von „Umgruppierungen“ russischer Truppen.
Ist der Krieg bald vorbei?
Wenn wir etwas in den sechs Monaten, seit dieser Krieg andauert, gelernt haben, dann dies: Kriegsgeschehen seriös vorherzusagen ist unmöglich, genauso gut könnte ich einen Blick in eine Kristallkugel werfen. Wolodymyr Selenskyj jedenfalls schwor seine Landsleute auf die kommenden drei Monate ein. „Die vor uns liegenden 90 Tage werden entscheidender sein als die 30 Jahre der Unabhängigkeit der Ukraine“, sagte er in einer Rede.
Sicher ist, dass die Ukraine nicht nur große Flächen Land gewinnen, sondern strategisch wichtige Orte einnehmen konnte. Etwa Isjum oder Balaklija, die helfen, die Versorgungslinien der russischen Armee abzuschneiden. Auffällig ist auch, dass sich die russischen Soldat:innen offenbar nicht geordnet zurückziehen, sondern fluchtartig die Gegend verlassen. Das führt dazu, dass sie beispielsweise Panzer oder Munition zurücklassen, die dann der ukrainischen Armee nutzen.
Kurz gesagt: Es sieht gut aus für die Ukraine. Das wirkt sich natürlich auch auf die Moral der Soldat:innen aus – motivierend für die Ukraine und demotivierend für Russland. Und auch das haben wir in den vergangenen Monaten gelernt: Die Moral der Truppen ist ein wichtiger Faktor für das weitere Kriegsgeschehen.
Interessant ist auch, wie russische Staatsmedien und pro-russische Blogger:innen auf die Nachrichten von der Front reagieren. Bisher berichteten sie immer nur von Erfolgen der russischen Armee. Die wiederholte Aussage Wladimir Putins, dass die „Spezialoperation“ ganz nach Plan laufe, ist sogar zu einem Meme geworden. Doch inzwischen sprechen staatlich kontrollierte Medien davon, dass in der Ukraine überhaupt nichts mehr nach russischem Plan läuft. Einige bringen ihre Besorgnis zum Ausdruck oder geben Fehler der russischen Armee zu.
Trotz all dieser Nachrichten gilt erst mal: abwarten. Dass es einmal so gut für die ukrainische Armee läuft, hätte vor ein paar Wochen niemand vorhergesagt. Genauso wenig wissen wir, was in den kommenden Wochen und Monaten passieren wird.
Die Frage der Woche
KR-Leser Christian fragt: „Was bedeuten die Sanktionen gegen Russland für jeden Einzelnen im täglichen Leben? Leider endet Solidarität meist, wenn es für einen ungemütlich wird. Ich fürchte, mit der Zeit wird es immer mehr ‚Putinversteher‘ geben und die Ukraine wird sich selbst überlassen.“
Russlands Invasion in der Ukraine trifft uns alle in unserem Alltag. Die Preise steigen so rasant wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, die Inflationsrate lag in Deutschland im August bei 7,9 Prozent. Die Neue Zürcher Zeitung zeigt mit täglich aktualisierten Grafiken, wie sich der Krieg auf die Wirtschaft in Deutschland auswirkt: Diesel kostete im Januar noch weniger als 1,60 Euro pro Liter, inzwischen sind es durchschnittlich 2,14 Euro. Der Preis für Erdgas stieg um mehr als das Dreifache, auch Lebensmittel wurden teurer.
Darunter leiden viele Menschen schon jetzt, vor allem Senior:innen, Arbeitslose und Alleinerziehende, denn sie können sich von ihrem Geld immer weniger leisten. Meine Kollegin Rebecca Kelber hat kürzlich Expert:innen gefragt, wie lange das noch so weiter geht. Für alle, die jetzt sparen müssen, hat sie hier Tipps gesammelt – der Artikel ist umsonst.
Trotzdem ist die Solidarität mit der Ukraine groß. Im aktuellen ZDF-Politbarometer waren 70 Prozent der Befragten dafür, dass die deutsche Regierung die Ukraine weiterhin unterstützt, auch wenn das für uns mit hohen Energiepreisen verbunden ist. 21 Prozent wollen die Ukraine nicht unterstützen, mit dem Ziel, die Energiepreise zu senken. Diese Zahlen sind seit Juli konstant. 40 Prozent fordern eine stärkere militärische Unterstützung für die Ukraine, 30 Prozent wollen das Engagement konstant halten und 24 Prozent wollen der Ukraine militärisch weniger helfen.
Auch die Ukraine weiß, dass ihr Überleben vom Wohlwollen und den Waffenlieferungen westlicher Staaten abhängt – und hat deshalb großes Interesse daran, noch vor dem Winter militärische Erfolge vorzuweisen. Das ist einer der Gründe, weshalb sie gerade jetzt ihre große Gegenoffensive gestartet hat. Und die ukrainischen Erfolge an der Front sind auch ein Signal an den Westen.
Der Link der Woche
Er ist der Christian Drosten der Kriegsführung: Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Masala erklärt uns seit Monaten den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er tritt regelmäßig in verschiedenen Medien auf und gibt auf Twitter fast täglich seine Einschätzungen ab. Vor wenigen Tagen hat er der Sendung Jung & Naiv ein dreistündiges Interview gegeben.
Masala erklärt darin, warum die ukrainische Armee auf eine unerwartete Weise kämpft, ob Deutschland in einer „amerikanischen Zwangsjacke“ steckt und warum Militärexpert:innen oft falsch liegen. Währenddessen raucht er zwei Zigaretten und erinnert deshalb ein bisschen an Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Die Hoffnung der Woche
Ein ausgebüxter Schimpanse konnte in seinen Zoo im ostukrainischen Charkiw zurückgebracht werden. Videos zeigen, wie eine Mitarbeiterin dem Schimpansen eine gelbe Jacke anzieht und ihn umarmt. Danach ließ sich der Schimpanse mit einem Fahrrad in den Zoo zurückrollen. Die Videos gingen im Netz viral – ein kleiner schöner Moment in einer Stadt, die seit Monaten vom Krieg erschüttert wird.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger