Vor drei Wochen saß ich in der chilenischen Hauptstadt Santiago in einem Kino und schaute mir den Dokumentarfilm „Mi país imaginario“ an. Übersetzt heißt das: Das Land, das ich mir wünsche. Es ist eine Utopie, aber eine, die wahr zu werden schien. In dem Film zeichnet der Regisseur Patricio Guzmán nach, wie die Massenproteste gegen soziale Ungleichheit im Jahr 2019 entstanden sind – und wie diese letztlich erwirkten, dass eine demokratisch gewählte Versammlung ein Jahr lang eine neue Verfassung ausarbeiten durfte. Diese sollte die bisherige ersetzen, die noch aus den Zeiten der Militärdiktatur Augusto Pinochets stammt.
Am Sonntag stimmte die chilenische Bevölkerung über den Verfassungsvorschlag ab. Und eine überwältigende Mehrheit von knapp 62 Prozent lehnte ihn ab. Damit hatten nicht einmal die zuversichtlichsten Gegner:innen der neuen, progressiven Verfassung gerechnet.
Es gibt zahlreiche Gründe für das Ergebnis: Chile hat traditionell eine sehr geringe Wahlbeteiligung. Jetzt galt eine Wahlpflicht. Das bedeutet: Zahlreiche Menschen, die sich seit Jahren von der Politik abgewandt haben, gingen erstmals wählen – und drückten ihre Politikskepsis an der Wahlurne aus. Bei den letzten Abstimmungen waren es vor allem linke Wähler:innen, die mobilisiert wurden. Aber die Wahlpflicht ist nicht der einzige Grund. Zwei weitere wichtige Faktoren spielten eine Rolle: Angst und Geld.
Die Angst vor dem Wandel
Nicht nur rechte und konservative Parteien, sondern auch zahlreiche Mitte-Links-Politiker:innen haben die „Rechazo“-Kampagne gegen die neue Verfassung getragen. Rechazo heißt Ablehnung. Diese hatte, dank zahlreicher Großspenden von einigen der reichsten und mächtigsten Familien im Land, ein mehr als dreimal so großes Budget wie die Befürworter:innen der „Apruebo“-Kampagne (Zustimmung) und bestimmte von der Einsetzung des Verfassungskonvents an auch den politischen Diskurs im Land. Weil größtenteils parteiunabhängige Aktivist:innen aus der Feminismus- und Klimabewegung in die Versammlung gewählt wurden, versuchten rechte und konservative Parteien und Medien, den Prozess selbst zu delegitimieren. Das verschaffte ihnen einen Startvorteil: Ihre politischen Gegner:innen waren ganz damit beschäftigt, sich im Verfassungskonvent auszulaugen und permanent auf Kritik zu reagieren.
Gleichzeitig haben die Corona-Pandemie und die seit Monaten explodierenden Preise die Bevölkerung stark getroffen. Viele sehnen sich nach Stabilität – und haben Angst vor einem radikalen Wandel. Genau den versprach aber die neue Verfassung. Und mit dieser Angst spielten sowohl die Gegner:innen der Verfassung, als auch eine umfassende Desinformationskampagne in den sozialen Medien und Messenger-Diensten: Die neue Verfassung würde Privateigentum verbieten, Indigenen mehr Rechte zugestehen als anderen Chilen:innen und Abtreibungen während der gesamten Schwangerschaft erlauben, hieß es zum Beispiel. Kritiker:innen bemängelten auch, dass der 388 Artikel umfassende Text viel zu lang und umständlich und deshalb kaum umsetzbar sei.
Was im fortschrittlichsten Verfassungstext der Welt steht
Jetzt steht fest: Die Verfassung wird in ihrer jetzigen Form nicht zustande kommen – und dürfte trotzdem in die Geschichte eingehen. Denn auf dem Nährboden der Massenproteste gegen soziale Ungleichheit entstand das erste paritätisch besetzte Verfassungsorgan der Welt. Monatelang debattierten und stritten die Mitglieder des Konvents, in dem kaum Berufspolitiker:innen saßen, über ihre Visionen für die Zukunft des Landes. Und Streit, nicht Harmonie, ist die Essenz einer lebendigen Demokratie. Dann am Ende dieses demokratischen Prozesses stand der wohl fortschrittlichste Verfassungstext, den die Welt bislang gesehen hat.
Auch wenn er vorerst nicht in Kraft tritt: Langfristig dürfte er die Politik im 21. Jahrhundert prägen und als Vorbild für eine ökologische, inklusive, sozial gerechte und feministische Demokratie herhalten. Kein Land, das sich in der von multiplen Krisen geprägten Gegenwart eine neue Verfassung geben möchte, wird an einer Auseinandersetzung mit dem Text vorbeikommen. Deshalb ist es wichtig, sich noch einmal vor Augen zu führen, was in dem Entwurf steht.
„Chile ist ein sozialer, demokratischer, plurinationaler, interkultureller, regional strukturierter und ökologischer Rechtsstaat“ heißt es in Artikel 1 der Verfassung. Darin werden der Bevölkerung unter anderem der Zugang zu Gesundheit, lebenslange Bildung und angemessene Renten garantiert.
Die Natur wird als eigenes Rechtssubjekt anerkannt. Das heißt: Sie bekommt eigenständige Rechte zugesichert und wird nicht als auszubeutende Ressource gesehen. Natürliche Gemeingüter wie Luft und Wasser stehen unter besonderem Schutz, im Bereich natürlicher Rohstoffe werden Entprivatisierungen ermöglicht, Ernährungssouveränität und der Schutz von Saatgut werden zu Staatszielen erklärt.
Erstmals in der Geschichte der Welt legt der Verfassungsentwurf fest, dass in allen öffentlichen Ämtern Geschlechterparität gelten soll: Mindestens die Hälfte aller staatlichen Ämter muss mit Frauen besetzt werden. Zudem werden Sorge- und Hausarbeit anerkannt, Schwangerschaftsabbrüche legalisiert, ein Recht auf nicht-sexistische Bildung festgeschrieben, die Gewerkschaften gestärkt und faire und gleiche Löhne versprochen.
Die in Chile lange unterdrückte indigene Bevölkerung bekommt Landrechte und ein Recht auf Selbstbestimmung zugesichert: Auf ihren Gebieten gelten ihre eigenen Rechte. Gerade dieser Punkt hat viele Chilen:innen dazu bewegt, gegen den Vorschlag zu stimmen.
Auch bemerkenswert: In dem Text werden ein Recht auf Pflege von Geburt bis zum Tod sowie auf würdevolles Altern und Sterben festgeschrieben. Ebenso ein Rechtsanspruch auf einen Internetzugang, Cybersicherheit, Datenschutz, Freizeit, nicht-sexistische Sexualerziehung und kostenlose Rechtsberatung für alle.
Und ja, ein Recht auf Wohnraum hat es tatsächlich auch in den Entwurf geschafft.
Dass all diese Rechte vorerst nicht in Kraft treten, ist besonders für die Jungen, Armen und Marginalisierten enttäuschend. Gleichzeitig gilt: Dass eine solch überwältigende Mehrheit gegen den Entwurf stimmte, sollte den linken Bewegungen ein Anlass zum Nachdenken sein. Moralische Überheblichkeit und Schuldzuweisungen sind jetzt fehl am Platz. Was es stattdessen braucht, ist eine Selbstreflexion über die eigene Kommunikationsstrategie und jene inhaltlichen Punkte, die vielen Chilen:innen offensichtlich zu viel waren: die Abschaffung des Senats, die umfassenden Autonomierechte für die indigene Bevölkerung, das Recht auf Freitod. Findet diese Reflexion ihren Ausdruck in einem umfassenden Dialog zwischen den politischen Lagern, könnten einige wichtige Punkte noch umgesetzt werden. Ganz abgesehen davon ist der Prozess selbst ebenfalls schon ein großer Erfolg.
„Unabhängig davon, ob der Verfassungsentwurf angenommen oder abgelehnt wird, hat in Chile ein unumkehrbarer, unaufhaltsamer Prozess begonnen, in dem die bis dahin Unsichtbaren beteiligt waren und dort entscheiden konnten, wo sie immer ausgeschlossen waren“, sagte der Philosoph Javier Agüero dem Nachrichtenpool Lateinamerika vor dem Referendum.
Es bleibt Hoffnung – und ein Lied
Zurück im Kino, in Santiago, Mitte August: Als der Abspann des Dokumentarfilms einsetzte, waren auf der Leinwand Bilder des 1973 gestürzten Präsidenten Salvador Allende zu sehen, untermalt von einem Lied der Band Quilapayún, die während der Militärdiktatur im Exil lebte und deren Widerstandslieder heute bei jeder Demonstration angestimmt werden.
https://www.youtube.com/watch?v=Cuzl_QTBlWI
Einige Zuschauer:innen standen auf. Sie begannen zu applaudieren. Es wurden mehr. Und dann, als der Applaus abebbte, war in der Dunkelheit ein Summen zu vernehmen. Erst leise, dann immer kräftiger, bis es zu einem Gesang anschwoll, der den Raum füllte. Einige reckten ihre Fäuste in die Luft, andere standen mit geschlossenen Augen vor den Samtsitzen. Gemeinsam sangen sie von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Diese Hoffnung wird nicht verschwinden. Sie muss vielmehr Ausgangspunkt einer kritischen Selbstbefragung werden – um anschließend die Vision einer sozial gerechten, inklusiven und ökologischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert weiter zu schärfen. Denn die massive soziale Ungleichheit, die 2019 zu Massenprotesten im Land führte, bleibt bestehen. Vorerst zumindest.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger