Hier ist Isolde und ab heute bekommst du wieder wöchentlich meinen Ukraine-Newsletter. In den vergangenen Wochen ist viel passiert, in der Ukraine, aber auch in Russland. Ich beantworte deshalb heute die Frage, ob es wirklich eine gewaltbereite russische Widerstandsgruppe gibt. Außerdem erkläre ich, warum die Lage im Atomkraftwerk in Saporischschja so dramatisch ist. Und wie immer gebe ich dir eine kleine Portion Hoffnung mit.
Was ist gerade wichtig?
Das größte Atomkraftwerk Europas steht in Saporischschja, im Südosten der Ukraine. Seit März ist es von russischen Truppen besetzt, trotzdem arbeitet dort weiterhin ukrainisches Personal. Seit Wochen wird das Atomkraftwerk beschossen – Russland und die Ukraine machen sich gegenseitig für die Angriffe verantwortlich.
Vor wenigen Tagen machte sich eine Delegation der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) vor Ort ein Bild von der Sicherheitslage. Am Wochenende teilte sie mit: Alle Hauptstromleitungen seien gekappt worden. Das Atomkraftwerk hänge nur noch an einer Reserveleitung.
Wie gefährlich ist die Lage im Atomkraftwerk?
Das Atomkraftwerk ist essentiell für die Energieversorgung der Ukraine. Es versorgt fast den gesamten Süden des Landes und auch weite Teile des Ostens mit Strom. Russland hat vermutlich vor, das Atomkraftwerk vom ukrainischen Netz zu trennen und den Strom stattdessen auf die von Russland annektierte Krim zu liefern. Das glaubt Petro Kotin, der Chef der ukrainischen Atombehörde Energoatom. Er warnte davor, dass man dafür das Atomkraftwerk kurzzeitig komplett vom Netz nehmen und es zu einer Kernschmelze kommen könne. „Wir sind nur einen Schritt von der ersten Stufe der Fukushima-Katastrophe entfernt“, sagte er.
Das Problem mit einem Atomkraftwerk ist nämlich, dass man es nicht einfach abschalten kann. Selbst wenn man die Kernspaltung stoppt, müssen die Brennelemente noch über Monate gekühlt werden. Und für diese Kühlung braucht ein Atomkraftwerk Strom. Nimmt man ein Atomkraftwerk vom Netz oder unterbricht die Leitungen, springen zwar Notfallgeneratoren an, doch bei technischen Problemen besteht die Gefahr, dass die Kühlung unterbrochen wird.
Die Lage im Atomkraftwerk ist ohnehin schon brenzlig genug. Eine Recherche der russischen Zeitung The Insider zeigt, unter welchen Bedingungen die Mitarbeitenden das Werk am Laufen halten. Sie berichten von Entführungen, Folter und Mord. Und von der Verantwortung, für die Sicherheit des Atomkraftwerks zu sorgen. Einer der Mitarbeitenden erzählte von einem Stromausfall. Unter den Kolleg:innen sei Panik ausgebrochen, sie hätten im Dunkeln arbeiten müssen. Ein anderer berichtete, warum er weiterarbeite, obwohl er das Atomkraftwerk auch verlassen könnte: „Es ist eine Frage der Anlagensicherheit, so einfach ist das nicht, man kann unsere Leute nicht mit jemandem von der Straße ersetzen. Ich weine sehr oft und bin angespannt, meine Stimmung wechselt ständig zwischen Wut und totaler Apathie.“
Sollte es zu einem Atomunfall kommen, dann droht nicht unbedingt ein zweites Tschernobyl. Die Reaktortypen in Saporischschja unterscheiden sich von denen in Tschernobyl. Expert:innen vergleichen die möglichen Folgen eines Atomunfalls deshalb eher mit dem Reaktorunfall in Fukushima von 2011. Das Gebiet mehrere Hundert Kilometer rund um das Atomkraftwerk könnte unbewohnbar werden. Ob auch andere Regionen betroffen wären, hängt von den Wetterbedingungen und der Windrichtung ab.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Elisabeth fragt: „Gibt es wirklich eine russische Widerstandsgruppe und hat sie Aussicht auf Erfolg?“
Es klingt ein bisschen wie aus einem Roman: Darja Dugina, die Tochter des russischen Ideologen Alexander Dugin, starb bei einem Anschlag mit einer Autobombe. In dem Auto hätte eigentlich ihr Vater sitzen sollen. Wenige Stunden später behauptet der frühere Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow in einem Video, dass die „Nationale Republikanische Armee“ für den Anschlag verantwortlich sei, eine Widerstandsgruppe, von der bis dahin noch nie jemand gehört hatte. Nein, kein Thriller, sondern die Realität in Russland. Seit dem Anschlag rätseln viele, wer hinter dem Mord steckt und vor allem, ob es diese Widerstandsgruppe wirklich gibt.
Kurz zu Alexander Dugin und dessen Tochter: Dugin ist einer der bekanntesten russischen Rechtsextremen und Vertreter des Neo-Eurasismus. Anhänger:innen dieser Theorie glauben, dass Europa und Asien eine Art natürliches Riesenreich und Gegengewicht zu den USA bildeten. Darja teilte die Ansichten ihres Vaters Alexander Dugin. Beide traten in der Öffentlichkeit auf, hetzten gegen die Ukraine und unterstützten den Krieg. Alexander Dugin ist zwar nicht „Putins Rasputin“ oder sein „Chefideologe“, aber einige Ansichten Putins überschneiden sich mit denen Dugins.
Wer hat also Darja Dugina umgebracht? Es gibt drei Möglichkeiten.
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Ukrainische Geheimdienste haben den Anschlag verübt. Das behauptet Russland – und hat auch schon eine Tatverdächtige präsentiert, die nach Estland geflohen sein soll. Die Ukraine weist die Anschuldigungen zurück.
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Die ominöse russische Widerstandsgruppe steckt dahinter. Selbst Expert:innen zweifeln allerdings an deren Existenz. Ilja Ponomarjow, der früher Abgeordneter in der russischen Duma war und heute in der Ukraine lebt, behauptet, für diese Widerstandsgruppe zu sprechen. Er hat auch ein Interview dazu gegeben, das allerdings mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
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Der russische Geheimdienst FSB hat den Anschlag verübt und das Video der „Nationalen Republikanischen Armee“ gefälscht. Warum? Weil sie die Ukraine als Terrorstaat darstellen und mit noch schärferen Repressionen gegen Oppositionelle und Kritiker:innen vorgehen wollen.
Das sind die wahrscheinlichsten Möglichkeiten. Insgesamt bleibt der Anschlag mysteriös. Wer wirklich dahintersteckt, bleibt im Dunkeln.
Der Link der Woche
Meine Kollegin Esther Göbel war kürzlich in Narva, einer estnischen Stadt an der Grenze zu Russland. Dort hat sie die Bürgermeisterin interviewt, die allerdings ziemlich gestresst war und Esther mit diesen Worten begrüßte: „Sie sind einfach zu einem sehr schlechten Zeitpunkt gekommen, vielleicht in der für Narva anstrengendsten Zeit seit 1993.“ In Narva ist ein Drittel der Bevölkerung ethnisch russisch und die Stadt ringt ständig um ihre Identität, ihre Erinnerungen an die Sowjetunion und ihre Haltung zu Russland.
Die Hoffnung der Woche
Wäre sie nur zwei Tage später gekommen, wäre ihre Mutter nicht mehr am Leben gewesen. Agnetta Kewsegi ist Ukrainerin und lebt seit 30 Jahren in Georgien. Ihre 84-jährige Mutter lebt in Donezk in der Ostukraine, wo schon seit 2014 Krieg herrscht. Wie viele Menschen wollte die Mutter ihr Zuhause nicht verlassen und harrte mitten im Kriegsgebiet aus. Irgendwann brach der Kontakt ab und Agnetta machte sich solche Sorgen, dass sie beschloss, nach Donezk zu fahren. Sie nutzte Mitfahrgelegenheiten, wurde sogar selbst beschossen, aber erreichte irgendwann das Haus ihrer Mutter. Die alte Frau war kaum noch am Leben, hatte weder Essen noch fließendes Wasser. Gerade noch rechtzeitig konnte Agnetta ihre Mutter retten. Jetzt sind sie beide in Sicherheit in Georgien und haben der NGO Helpdeskmedia ihre Geschichte erzählt.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert