Ein Kraftwerk im Abendlicht.

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Die explodierenden Strompreise, verständlich erklärt

Nach Gas wird nun auch Strom rasant teurer. Warum? Wer macht damit gerade den Gewinn des Jahrzehnts? Wird es Stromausfälle geben? Hier beanworte ich die wichtigsten Fragen.

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Politik- und Klimareporter

Wie viel kostet Strom gerade?

Im Moment, in dem ich diese Zeilen tippe, kostet eine Megawattstunde Strom mit Lieferung im nächsten Jahr um die 650 Euro. Es waren aber auch schon über 1.000 Euro.

Um ehrlich zu sein: Nur diese Zahl sagt mir jetzt nicht viel.

Kann ich verstehen. Veranschaulichen wir es. Diese Grafik zeigt die Preisentwicklung für Strom, der im Januar 2023 geliefert werden soll.

Chart zeigt Strompreis für Lieferung im Januar 2023: Kurve steigt steil an seit dem Ukraine-Krieg.

Sieht aus wie eine Corona-Infektionskurve mitten im Herbst.

Anderes Thema, aber ja. Wir scheinen zumindest für eine kurze Zeit in eine exponentielle Phase eingetreten zu sein. Das heißt: die Strompreise steigen immer schneller.

Was hast du für einen Kühlschrank?

Einen richtig großen! Gemüsefach etwas kühler als der Rest, eigenes Flaschenregal. Sehr komfortabel, das Teil.

So einen hier?

Das Bild zeigt einen handelsüblichen Mittelklasse-Kühlschrank mit Gefrierabteilung.

Ja, ungefähr.

Wenn du diesen Kühlschrank mit Strom zu den aktuellen Marktpreisen betreiben würdest, würde dich das 90 Euro im Jahr kosten. Nur der Kühlschrank.

Wir befinden uns mitten in einer großen Gaskrise. Die Rechnungen für Menschen wie dich und mich haben sich verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht. Nun kommt auch noch eine Stromkrise dazu. Sie wird vor allem Menschen mit kleinen Einkommen hart treffen, genauso wie große Teile der deutschen Industrie. Anders als bei vergangenen Krisen, etwa bei der Finanzkrise im Jahr 2008 oder während des Corona-Lockdowns 2020, kommt der Schock für die Unternehmen dieses Mal nicht von außen, sondern von innen. Ein Strom-Schock ist ein systemischer Schock. Der Ökonom Steve Keen formulierte es mal so: „Arbeit ohne Energie ist eine Leiche und Kapital ohne Energie ist eine Skulptur.“ Erste deutsche Firmen halten auch bereits ihre Produktion an, weil sie die aktuellen Stromkosten nicht mehr schultern können. Energie ist die zentrale Bedingung für Wohlstand.

Die Gefahr von Stromausfällen ist höher als im vergangenen Jahr und während die Menschen und viele Unternehmen sich fragen, wie sie ihre Stromrechnungen bezahlen können, gibt es eine ganze spezielle Branche, die gerade in Deutschland gewaltige Gewinne einfahren kann und wenig in den Schlagzeilen ist.

Welche?

Wegen der stark gestiegenen Öl- und Gaspreise machen Unternehmen wie Shell oder BP hohe Gewinne, logisch. Und von den inzwischen exorbitanten Strompreisen profitieren jene Firmen, die sehr günstig Strom produzieren können, weil ihre Ressourcen frei Haus von der Natur geliefert werden: Wind- und Solarfirmen wie Encavis oder Energiekontor. „Viele Erneuerbare machen ungefähr so viel Gewinn in einem Jahr wie sonst in zehn Jahren“, sagt Jörn Richstein, Klimaökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Aber natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gaskrise und der sich gerade entfaltenden Stromkrise. In Deutschland stehen mehr als 90 Gaskraftwerke mit einer Leistung von mehr als 100 Megawatt. Sie sind die Reserve im Netz für die Zeiten, in denen Sonne und Wind nicht genug Energie liefern können. Diese Gaskraftwerke sind, wenn sie laufen müssen, maßgeblich für den Strompreis.

Deswegen hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kürzlich angekündigt, den Gas- vom Strommarkt zu entkoppeln. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ging sogar noch einen Schritt weiter: Sie kündigte eine „Notfallmaßnahme“ und „strukturelle Reformen“ an.

Warum sind Gaskraftwerke maßgeblich für den Strompreis? So ein Kraftwerk hat, wie du gerade geschrieben hast, höhere Produktionskosten als ein Windpark. Wieso ist nicht der Windpark maßgeblich?

Strom ist Strom. Ob aus einem AKW, einem Wasserkraftwerk oder einem Hamsterrad gewonnen, es macht für diejenigen, die Strom brauchen, keinen Unterschied, wo er herkommt. Das Produkt ist immer gleich und austauschbar. Wenn nun die eine Firma Strom für 300 Euro die Megawattstunde am Markt anbietet und die andere Firma ihren Strom aber für 100 Euro pro Megawattstunde produzieren kann, was wird diese Firma tun? Was würdest du an ihrer Stelle tun, wenn Strom trotz allem zum Preis von 300 Euro gekauft wird?

300 Euro für die Megawattstunde verlangen – so wie der teurere Anbieter.

Exakt. Deswegen sind Gaskraftwerke gerade maßgeblich. Sie sind die teuersten Stromerzeuger am Markt. Sie setzen den Preis, nach dem sich alle anderen Erzeuger richten können. Das ist so verbindlich geregelt. Dieses Prinzip heißt Marginal Pricing bzw. Grenzkosten-Bepreisung. Lion Hirth ist Professor für Energiepolitik an der Hertie School of Governance. Er sagt: „Marginal Pricing ist die grundlegende Art und Weise, wie sich in einer Marktwirtschaft Preise einstellen.“ Das gleiche Prinzip lasse sich auch auf anderen Märkten feststellen, bei denen die Güter prinzipiell austauschbar sind: Weizen, Gas, fast alle Rohstoffmärkte. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.

Warum müssen denn überhaupt Gaskraftwerke laufen? Es ist noch Sommer, es war sehr sonnig. Noch nie wurde in Deutschland so viel Strom aus Erneuerbaren produziert wie in den vergangenen Monaten.

Das stimmt. Die Stromerzeugung in Deutschland ist stabil. Sie ist es aber nicht in Frankreich und nicht in der Schweiz. Deutschland exportiert seit dem Winter mehr Strom in die Nachbarländer als in anderen Jahren. Normalerweise kann Frankreich seinen Bedarf mit seinen Wasser- und Atomkraftwerken selbst decken. Aber zur Zeit sind nur noch 32 von 56 Blöcken in den Atommeilern in Betrieb. Entweder werden sie gerade saniert und gewartet, oder sie mussten ihre Leistung herunterfahren, weil in den Flüssen, insbesondere in der Rhône, nicht mehr genug Wasser war, um die Reaktoren zu kühlen. Das gleiche Problem besteht in der Schweiz: Die Wasserkraftwerke haben nicht genug Wasser, um zu laufen.

Beide Länder kaufen also in Deutschland Strom zu. Pikant daran: Dieser zusätzliche, exportierte Strom wird mutmaßlich in Gaskraftwerken produziert. Ganz sicher lässt es sich nicht sagen, weil – siehe oben – Strom ist Strom. Aber im Vergleich zum Vorjahr erzeugen die Gaskraftwerke mehr als 15 Prozent. Der Chef der Bundesnetzagentur genauso wie der Branchenverband Gas sehen in dem mutmaßlichen Stromexport den Grund für die zusätzliche Produktion, und das in einer Zeit, in der ja eigentlich jeder Kubikmeter Gas für Heizen und industrielle Prozesse gespart werden sollte.

Etwas auf die Spitze getrieben könnte man sagen: Über den deutschen Strompreis entscheidet im Moment nicht das letzte Kraftwerk, das Strom ins Netz einspeisen kann, sondern der Wasserpegel in französischen Flüssen.

Schon ein bisschen ironisch.

Warum?

Na, es wurde doch immer den Erneuerbaren vorgeworfen, dass sie zu sehr vom Wetter abhingen. Aber was ist mit den deutschen AKWs? Sie länger laufen zu lassen, könnte doch gerade jetzt helfen.

Noch drei Atommeiler produzieren in Deutschland Strom. Drei andere wurden erst Ende 2021 abgeschaltet. Würde man die Laufzeit der drei aktuell noch laufenden verlängern, könnten sie auch im Winter noch Strom liefern. In einem ersten Stresstest kam das von den Grünen geführte Bundeswirtschaftsministerium im Frühsommer allerdings zu dem Ergebnis, dass die AKWs nicht gebraucht werden würden. Nun läuft ein zweiter Stresstest. Dessen Ergebnisse stehen noch aus; danach könnten die deutschen Meiler tatsächlich ein paar Monate länger laufen.

Gibt es noch weitere Kraftwerksreserven?

Ja, Kohlekraftwerke – die klimaschädlichste Art, Strom zu erzeugen, die wir in Deutschland haben. Zehn Steinkohlekraftwerke kehren gerade ans Netz zurück, ein weiteres knappes Dutzend Kohlekraftwerke sollen später stillgelegt werden als geplant. Außerdem bereiten sich die Kraftwerksbetreiber darauf vor, im Notfall weitere Blöcke anschließen zu können.

Mehr Strom zu produzieren, ist eine Art, den Preis zu senken. Aber was kann noch getan werden?

Strom sparen ist der wahrscheinlich größte Brocken. Damit haben etwa die Bundesbehörden in Deutschland schon begonnen. Aber es geht natürlich noch viel mehr.

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Aber all das dauert sicher. Was kann getan werden, um die Menschen jetzt vor den hohen Strompreisen zu schützen?

Lion Hirth von der Hertie School of Governance sagt: „Die ideale Politik wäre: Man identifiziert, wer am meisten betroffen ist und diesen Leuten geben wir dann Geld und sagen ihnen, zweitens, dass sie Energie sparen sollen. Das ist aber extrem schwierig, weil wir nicht genau wissen, wer diese Leute sind.“

Dann könnten wir doch so etwas wie einen Stromrabatt einführen, analog zum Tankrabatt, bei dem das Benzin für alle billiger wurde.

Hirth dazu: „Das Problem an solchen Kompensationsmaßnahmen ist, dass sie die Nachfrage nicht dämpfen, sondern fördern. Wenn die Preise fallen, verbrauchen die Nutzer mehr.“ So ein allgemeiner Rabatt würde eben gerade das falsche Signal an uns Stromkunden in den Haushalten und an die Industrie senden.

Also, Augen zu und durch?

Keineswegs. Es kursieren noch mehrere andere Vorschläge, um den Strompreis zu senken beziehungsweise dessen soziale Folgen abzumildern. Ich greife mal die zwei heraus, über die gerade am meisten diskutiert wird.

Eine Übergewinnsteuer für Erneuerbare, die Direktzahlungen an arme Menschen finanziert. Erzeuger erneuerbarer Energien sind in den vergangenen Monaten unfreiwillig Krisenprofiteure geworden, wie auch die Öl- und Gasindustrie. Eine Idee wäre, diese großen Gewinne mit einer besonderen Steuer zu versehen und die Erträge dafür zu nutzen, Menschen zu helfen, die besonders unter den hohen Strompreisen leiden. Das wäre ein Eingriff in den Markt, den unter anderem Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei den Öl- und Gasfirmen kategorisch abgelehnt hat und es wohl auch hier tun würde. Wobei die Erneuerbaren nochmal ein leicht anderer Fall sind, wie Jörn Richstein vom DIW meint: „Bei den Erneuerbaren wurden Investitionsentscheidungen über Jahre unter hoher Sicherheit getroffen, da insbesondere ältere Erneuerbare-Projekte über die gleitende Marktprämie quasi zu ihren Vollkosten nach unten abgesichert waren und wenig Strommarktrisiken eingegangen sind.“ Aber aus ökonomischer Sicht sei ein nachträglicher Eingriff grundsätzlich immer bedenklich, weil es Investitionsunsicherheit schaffe, so Richstein. „Das hat man in der Vergangenheit in Spanien gesehen, wo bereits 2010 bis 2013 eine Übergewinnsteuer für Erneuerbare eingeführt worden ist. In den Folgejahren war es dort deutlich teurer, neue Projekte zu finanzieren.“ Ganz lehnt Richstein die Übergewinnsteuer aber nicht ab: „Die Regierung muss in einer Extremsituation wie jetzt verschiedene Eingriffs- und Finanzierungsmöglichkeiten gegeneinander abwägen. Da kann ein Abgreifen von Zufallsgewinnen bei verschiedenen Strommarkt-Akteuren und Ausgleich von Mehrkosten auf Stromrechnungen eine sinnvollere Lösung sein als ein kurzfristiger radikaler Umbau des Strommarktes.“

Man muss aber auch sagen: Dass Erneuerbare gerade so viel Geld verdienen können, ist ein hausgemachtes Problem. In Frankreich zum Beispiel ist es genau andersherum. Dort müssen die Betreiber von Windparks und Solarkraftwerken aktuell Geld an den Staat zahlen. Hintergrund: Die Firmen dort bekommen wie die deutschen eine Mindestvergütung, steigt der Strompreis aber über diesen Betrag, muss der Unterschied an den Staat geliefert werden. Das sind sogenannte Differenzverträge, die laut einer Studie von Jörn Richstein nicht nur helfen könnten, die Übergewinne zu verhindern, sondern mittelfristig die Finanzierungskosten erneuerbarer Energie zu senken.

Ein Preisdeckel. Auch das Modell kennen wir – vom Mietendeckel. Die Regierung zieht Obergrenzen für den Strompreis ein. Das könnte die Rechnung billiger machen für jeden. Wieder Spanien: Die Regierung dort hat ein Modell eingeführt, das einem Preisdeckel ähnelt. In der Folge stiegen die Stromexporte ins benachbarte Frankreich. Zudem liefert ein hoher Strompreis natürlich auch Anreize: Wann, wenn nicht jetzt, lohnt es sich, seinen Stromverbrauch durchzugehen oder neue Wind- und Solarparks zu planen? Leon Hirth sagt: „Die Preise sind gerade deswegen so hoch, weil das Angebot so niedrig ist. Wenn wir jetzt den Preis deckeln, wird wieder mehr verbraucht. Das funktioniert nur, wenn ich den Deckel mit Sparmaßnahmen koppele.“ Preisdeckel würden zu Rationierungen führen.

Für den Klimaökonomen Jörn Richstein ist noch eine dritte Sache wichtig: Planungssicherheit für alle am Markt. „Viele der hohen Preise sind erwartungsgetrieben, da ist eine hohe Risikoprämie drin. Es wäre hilfreich, wenn die Politik klare Entscheidungen trifft, wie sie mit der Krise umgehen will im Winter. Das würde die Unsicherheit senken.“

Apropos, Unsicherheit. Mir kam so ein Gedanke, vielleicht weit hergeholt: Wird es Stromausfälle geben in Deutschland?

Im Prinzip nein. Es gibt genug Energie. „Aber, wenn wir in eine Situation kommen, in der Strom billiger ist als Gas, und dann die Leute auf Twitter sagen: ‚Mach doch den Backofen an‘, dann könnten wir ein Problem bekommen“, sagt Lion Hirth.

Besser Pullover statt Backofen?

Bitte ja. Und noch ein Tipp: Mehr Geld für die Stromrechnung schon jetzt beiseite legen. Die nächste Rechnung wird höher ausfallen, so oder so.


Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Die explodierenden Strompreise, verständlich erklärt

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