Seit einem Jahr haben die radikalislamischen Taliban in Afghanistan wieder das Sagen. Seitdem bangen vor allem diejenigen, die an die Demokratisierung des Landes geglaubt hatten, um ihr Leben. Die Menschen hungern. Die Wirtschaft droht zusammenzubrechen. Frauen wurden viele grundlegende Menschenrechte genommen.
Katja Mielke
Katja Mielke forscht am Bonn International Centre for Conflict Studies zu Konflikten, Migration und Entwicklung. Sie hat mehrere deutsche Ministerien und Organisationen wie die GIZ oder die Welthungerhilfe beraten. Gemeinsam mit dem Friedens- und Konfliktforscher Conrad Schetter veröffentlichte sie das Buch „Die Taliban: Geschichte, Politik, Ideologie“.
Ein Jahr nach der Machtübernahme möchte ich genauer wissen: Wie geht es der Bevölkerung heute? Wie führen die Taliban das Land? Welche Befürchtungen aus den ersten Tagen der Machtübernahme haben sich bewahrheitet? Deshalb habe ich mit der Afghanistan-Expertin Katja Mielke gesprochen. Sie sagt, nicht nur die Taliban, sondern auch westliche Politiker:innen hätten viele Fehler gemacht. Und es gebe sogar eine positive Entwicklung: Es ist sicherer geworden im Land.
Ich habe noch die dramatischen Szenen vom Kabuler Flughafen von vor einem Jahr im Kopf. Nach der Machtübernahme der Taliban versuchten Tausende Menschen das Land zu verlassen. Die Bundesregierung evakuierte über 5.000 schutzbedürftige Menschen, die mit der deutschen Regierung zusammengearbeitet hatten, über eine Luftbrücke. Tausende dieser sogenannten Ortskräfte harren aber weiter im Land aus. Wie sieht ihr Leben in Afghanistan heute aus?
Viele verstecken sich, weil sie Angst haben. Das Problem liegt allerdings schon in dem Begriff „Ortskräfte“. Das ist eine Verallgemeinerung. Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen oder Menschen, die vor längerer Zeit mit deutschen Organisationen oder deutschen Ermittler:innen zusammengearbeitet haben, fallen zum Beispiel nicht unter diese Kategorie. Sie sind offiziell keine Ortskräfte, weil sie über keinen Vertrag einer ausländischen Organisation beschäftigt waren. Für diese Menschen ist es besonders schwer, aus dem Land zu kommen, weil es einen großen Rückstau gibt.
Kennen Sie jemanden, der aktuell in dieser Lage ist?
Mein ehemaliger Forschungsassistent möchte mit seiner Familie ausreisen. Er hat sich als Journalist und Poet immer wieder kritisch zu politischen Entwicklungen in Afghanistan geäußert. Seit August letzten Jahres stehen wir in Kontakt und haben immer wieder versucht, ihn auf verschiedene Listen zu setzen, damit er evakuiert werden kann. Das ist zuletzt daran gescheitert, dass die Familienmitglieder keine Reisepässe haben. Jetzt hat die Bundesregierung in Aussicht gestellt, dass ein afghanischer Ausweis reicht, um evakuiert zu werden und Betroffene so zumindest nach Pakistan ausreisen können. Für meinen Kollegen war das bisher leider auch keine Lösung. Er hat Angst, dass er verfolgt und getötet wird.
Der Westen hatte sich einen moderaten Umgang der Taliban mit regimekritischen und regimefeindlichen Menschen erhofft.
Es sah auch zuerst danach aus. Gleich nach ihrer Machtübernahme vor einem Jahr haben die Taliban eine Generalamnestie für all diejenigen erlassen, die im Dienst der Vorgängerregierung gearbeitet hatten. Das galt vor allem für Angehörige der sogenannten Sicherheitskräfte, die im Innenministerium, bei der Polizei oder in der Armee gedient hatten. Viele dieser Menschen hatten vor dem Umsturz gegen die Taliban gekämpft.
Die Taliban behaupten, dass diese Amnestie eingehalten wird. Sie haben selbst mehrere Kommissionen eingerichtet, um mögliche Verletzungen zu ahnden. Die UN-Organisation UNAMA hat allerdings erst vor Kurzem einen Bericht veröffentlicht, der systematische Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Das spricht dafür, dass die Taliban sich nicht an ihre eigenen Regeln halten.
Können Sie ein Beispiel für diese Menschenrechtsverletzungen nennen?
Einzelne Menschen sind verschwunden und wurden einige Tage später enthauptet oder an einem Baum aufgehängt gefunden. Darunter waren vor allem Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte, aber auch Leute, die im Verdacht stehen, dem Islamischen Staat in Afghanistan nahe zu stehen. Die Taliban sagen, dass all diese Morde individuelle Akte seien, die von den Taliban nicht gebilligt werden, sondern ganz im Gegenteil von ihnen sogar noch untersucht würden. Es liegt aber nahe, dass die Verbrechen Vergeltungsakte lokaler Taliban-Kommandeure oder anderer Taliban-Angehörigen sind.
Die Taliban herrschten auch von 1996 bis 2001 in Afghanistan. Wie haben sich die Taliban im Vergleich zur ersten Herrschaft verändert?
Niemand wird zur Moschee geprügelt, um zu beten. Es wird toleriert, wenn nicht jeder Mann die traditionelle islamische Kleidung trägt. Die Bartlänge ist auch nicht mehr so entscheidend wie in der ersten Talibanperiode. Die aktuelle Talibanregierung bemüht sich, moderat zu agieren. Das sieht man auch daran, dass sie niemanden systematisch verfolgen.
Aber die Taliban müssen das tun, weil sie auf Anerkennung angewiesen sind, wenn sie dauerhaft regieren wollen. Es geht nicht nur um internationale Anerkennung, sondern ganz besonders um Rückhalt in der Bevölkerung. Als sie zwischen 1996 und 2001 regierten, fehlte der den Taliban. Das lag an den starken Repressionen. Daraus haben die Taliban gelernt.
Außerdem sind die Taliban diplomatisch viel versierter geworden. Seit fast zehn Jahren haben sie immer wieder auch mit internationalen Vertretern verhandelt. Ab 2013 hatten die Taliban ein politisches Büro in Doha. Hier haben sie nicht nur die Gespräche mit der US-amerikanischen Regierung für das Doha-Abkommen geführt, sondern waren auch mit internationalen Organisationen im Austausch, die in von Taliban beherrschten Gebieten arbeiten wollten und sich dort die Erlaubnis dafür geholt haben.
Echte PR-Profis!
Ja. Das haben sie während der letzten 20 Jahre in der Widerstandsbewegung gelernt. Sie haben ihre eigenen Webseiten und Radiostationen aufgebaut. Die Taliban twittern 24 Stunden am Tag. Das hat ihnen in den Monaten nach dem Doha-Abkommen und bei der Einnahme von Kabul im letzten Jahr sicherlich geholfen, weil sie durch diese selbstbewusste Kommunikation auch die normalen Afghan:innen erreichen. Mit dieser Selbstinszenierung waren sie der afghanischen Regierung in den letzten Jahren immer überlegen.
Ist das alles nur ausgefuchste Diplomatie – oder haben die Taliban sich ideologisch tatsächlich gemäßigt?
Wir können nur spekulieren, wie die Taliban ideologisch genau aufgestellt sind. Man nimmt an, dass alle Taliban weiterhin radikalislamisch sind und ein schariabasiertes politisches System errichten wollen. Das Problem ist: Wir wissen nicht, wie genau die Taliban die Scharia interpretieren. Sie kommunizieren keine klaren Regeln. Das weist übrigens auf einen internen Konflikt zwischen religiös konservativen und liberaleren Taliban hin.
Die Taliban sind innerlich zerstritten?
Ja. Dieser Konflikt wurde etwa am 23. März deutlich, als das neue Schuljahr begann und Mädchen ab der siebten Klasse wieder zur Schule gehen sollten. Das wurde am Vortag noch von den Taliban-Behörden befürwortet. Zum Schulbeginn wurde diese Entscheidung aber wieder zurückgenommen. Das deutet auf einen Konflikt zwischen dem Kabinett und dem Bildungsministerium unter Abdul Baqi Haqqani und der obersten geistigen Führung unter Haibatullah Akhundzada hin, der aus Rücksicht auf Religionsgelehrte zurückgerudert ist.
Sind sie mit ihrer PR denn erfolgreich? Wie beliebt sind sie in der Bevölkerung?
Das ist schwer zu sagen, aber es fällt zumindest auf, dass es keine massive aktive Gegenbewegung im Land gegen die Taliban gibt. Die breite Oppositionsbewegung ist gescheitert. Nach der Machtübernahme hatte sich eine politische Opposition unter den Kräften von Ahmad Massoud gebildet. Aber er konnte kaum Menschen mobilisieren. In meiner Wahrnehmung haben Afghan:innen verstanden, dass die Leute aus dieser Politik-Clique ihre Regierungsposten auch nur dafür genutzt haben, sich selbst zu bereichern. Darunter haben die Menschen gelitten.
Ein weiterer Punkt, der für Zustimmung spricht, ist, dass es keine Massenflucht gegeben hat. Natürlich sind viele Menschen aus den Städten geflohen, die gute Jobs hatten und einen hohen Verlust ihrer Freiheit in Afghanistan fürchteten. Insgesamt sind die Zahlen der geflüchteten Afghan:innen aber überhaupt nicht mit denen der 80er- und 90er-Jahre vergleichbar.
Das größte Problem für die Bevölkerung ist die Unsicherheit. Sie wissen nicht, was morgen kommt: Werden die Taliban irgendwann durch die internationale Staatengemeinschaft anerkannt und können sich an der Macht halten? Oder dominiert irgendwann wieder politische Gewalt durch eine weitere Intervention?
Ursprünglich waren die Taliban eine bewaffnete Widerstandsbewegung. Sind sie überhaupt regierungsfähig?
Das wird sich noch zeigen. Die Taliban haben eine große Regierung mit mehr als 50 Posten aufgestellt. Diese Zahl deutet darauf hin, dass verschiedene Interessen und Bedarfe unterschiedlicher Fraktionen innerhalb der Taliban bedient werden mussten. Sie sind zersplittert. Ich kann noch nicht beurteilen, wie erfolgreich die Talibanregierung tatsächlich sein wird. Das hängt von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Sie haben es aber geschafft, ein Budget mit einem vergleichsweise geringen Defizit zusammenzustellen. Sie sagen, dass sie aufgrund ihrer radikalen Korruptionsbekämpfung erhebliche Mehreinnahmen zum Beispiel beim Zoll haben.
Wissen wir, wie erfolgreich diese Korruptionsbekämpfung der Taliban tatsächlich ist?
Natürlich gibt es Selbstauskünfte der Taliban. Aber auch Analysen zur ökonomischen Situation der Taliban, die zeigen, wie sie ihr Budget strukturieren und dazu auf Zolleinnahmen und Besteuerungen zurückgreifen. Laut eigenen Angaben haben sie deutlich mehr Einnahmen als die Vorgängerregierung. Anscheinend ist ein Großteil dieser Einnahmen zuvor wirklich nicht in der Staatskasse gelandet.
Das heißt, die Taliban haben mehr Geld zur Verfügung als ihre Vorgänger?
Nein, denn bis zum Ende der Republik Anfang August war das afghanische Budget zu etwa drei Viertel vom Ausland finanziert. Diese Einnahmen sind komplett weggebrochen. Auch deshalb brauchen sie dringend internationale Anerkennung. Außerdem wurden die ausländischen Staatsreserven der afghanischen Regierung bei der Machtübernahme der Taliban eingefroren. Sie müssen sich komplett selbst finanzieren, was eine riesige Herausforderung ist und die humanitäre und wirtschaftliche Lage noch mal krass verschärft.
Aktuell scheint es keine realistische Alternative zur Talibanregierung zu geben.
Die Taliban sind sehr gefestigt in ihrer Macht. Außer der versprengten Opposition und den Angriffen des Islamischen Staats gibt es keine Gegenwehr. Der langfristige Erfolg der Taliban hängt davon ab, wie gut sie die Hunger- und Wirtschaftskrise meistern.
Wie gehen die Taliban mit der Hunger- und Wirtschaftskrise um?
Die Hungerkrise bekämpfen vor allem wir, nicht die Taliban. Die Taliban ermöglichen westliche humanitäre Hilfen. Sie selbst versuchen mit einem Verbot des Opiumanbaus einheimische Bauern zum Anbau von Lebensmitteln zu zwingen.
Dass sich das Verbot zum Drogenanbau und des Handels durchsetzen lässt, ist aber unrealistisch, weil viele afghanische Kleinbauern davon leben. Andere Anbaukulturen wie Weizen brauchen außerdem mehr Wasser als der Drogenanbau. Dafür brauchen die Landwirt:innen Sonnenkollektoren oder Geld für Diesel, um eine Wasserpumpe zu betreiben. Und das haben sie nicht. Ich glaube, dass die Taliban das Verbot vor allem angekündigt haben, um die internationale Gemeinschaft zu beschwichtigen, die geschockt darüber war, dass sie kurz zuvor Mädchenbildung ab der siebten Klasse untersagt hatten.
Mädchen dürfen keine weiterführenden Schulen mehr besuchen. Frauen, die zuvor für die Regierung gearbeitet haben, sind jetzt ausschließlich für den Haushalt zuständig. Außerdem wurde die Burkapflicht wieder eingeführt. Auch wenn Männer ihren Bart tragen können, wie sie wollen, geht es Frauen und Mädchen unter der Talibanregierung besonders schlecht. Glauben Sie, dass sich das bessern wird?
Besonders in den Städten haben Afghaninnen in den vergangenen 20 Jahren von der Liberalisierung der Gesellschaft profitiert. Frauen konnten sich bilden, um zu arbeiten und haben am öffentlichen Leben teilgenommen. Für diese Frauen, die Anwältinnen, Richterinnen oder Journalistinnen geworden sind, ist die Talibanherrschaft ein riesiger Rückschritt. Sie können ihren Beruf nicht mehr ausüben. Die Taliban haben die Träume junger Mädchen vernichtet. Wer davon geträumt hatte, zu studieren, dem wurde die Zukunft geraubt. Viele Eltern denken deswegen darüber nach, das Land mit ihren Familien zu verlassen.
Kürzlich fand die Schura, die große Ratsversammlung der Religionsgelehrten in Kabul statt. Auf der Agenda stand auch die Mädchenbildung. Der geistige Führer hat sich nach wie vor dagegen ausgesprochen. Es gibt aber auch eine achtköpfige Regierungskommission, die das Thema weiter verfolgt. Ich bin gespannt, ob es dazu noch eine Stellungnahme oder sogar einen Vorstoß gibt, um die Bildungschancen afghanischer Mädchen zu verbessern. Momentan hört man leider überhaupt nichts darüber.
Vor einem Jahr habe ich mit der Afghanistan-Expertin Almut Wieland-Karimi über die Notlage der Frauen und Mädchen im Land gesprochen. Sie sagte, wir im Westen haben ein ganz anderes Verständnis von Frauenrechten als Afghan:innen.
Für die Rolle der Frau gibt es je nach Koranauslegung durchaus die Möglichkeit, dass Frauen am öffentlichen Leben teilnehmen. Ein Anknüpfungspunkt sind Suren, die von einer Gleichheit von Mann und Frau sprechen. Die Forderungen nach mehr Teilhabe von afghanischen Feminist:innen unterscheiden sich dabei nicht von den Forderungen westlicher Feminist:innen. Die Argumentation ist aber anders: In der afghanischen Gesellschaft ist die Rolle von Frauen innerhalb der Familie der Ausgangspunkt, um afghanische Männer und Religionsgelehrte von mehr weiblicher Teilhabe zu überzeugen. Das Argument, dass Frauenrechte ein Menschenrecht sind, funktioniert in Afghanistan nicht. Die Teilhabe von Frauen würde dann als westliches Exportprodukt verstanden, das afghanische Männer übernehmen müssen. Der westliche Ansatz, so Frauenrechte zu fördern, war unglücklich.
Man hört aber auch von Ausnahmen. An manchen Orten können Mädchen noch zur Schule gehen. Wie kann das sein?
Es gibt zahlreiche Ausnahmen. Der Gesundheitsbereich ist ein Klassiker, weil das der einzige Sektor ist, in dem Frauen arbeiten sollen, da ja auch weibliche Patientinnen eine Versorgung brauchen, die nach der Moral nicht von Männern gewährleistet werden kann. Das ist der erfrischende Pragmatismus, den man bei einzelnen Fraktionen der Taliban erkennen kann.
Auch Privatuniversitäten und Privatschulen sind vom Lernverbot ausgenommen. Hier dürfen Mädchen weiterhin ab der siebten Klasse unterrichtet werden. Außerdem gibt es lokale Ausnahmen, weil die Bevölkerung vor Ort lokale Talibanautoritäten überzeugen konnte, dass Mädchenbildung eine gute Sache ist. In Masar-i Scharif gibt es zum Beispiel viele Schulen, in denen Mädchen ab der siebten Klasse weiterhin zur Schule gehen können.
Abgesehen von der Notlage der Frauen – wie steht es zurzeit um die Sicherheit im Land?
Die Sicherheitslage im Land hat sich sehr positiv entwickelt. Der einfache Afghane, der nachts immer damit rechnen musste, dass entweder die Taliban oder afghanische Streitkräfte in sein Haus eindringen, es durchsuchen und Familienmitglieder entführen, einsperren und foltern, lebt jetzt ruhiger.
In Kabul gab es riesige Mauern, die mit Sandsäcken und Steinen gefüllt waren. Diese Mauern waren von Menschen mit Hightech-Waffen bemannt, die aus kleinen Schächten auf die Passanten geschaut haben. Das alles muss jetzt weg sein. Ich glaube, das sind die ersten Monate, in denen man in Kabul wieder ruhig schlafen kann. In denen man vielleicht nachts sogar mal das Fenster aufhaben kann. Diese Atmosphäre trägt sicherlich auch zur Akzeptanz der neuen Machthaber bei.
Aber das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: In den vergangenen Jahren haben die Taliban gegen die Zentralregierung gekämpft. Nun sind sie an der Macht. Es ist also kein Wunder, dass seit der Einnahme Kabuls weitgehend Gewaltfreiheit herrscht. Die Zahl der Gewalttaten ist laut einer Statistik um 91 Prozent zurückgegangen. Für die verbleibenden neun Prozent ist der Islamische Staat mit sehr gut koordinierten Anschlägen verantwortlich. Bei diesen Terrorattacken wurden in den vergangenen Monaten viele Menschen – vor allem Schiiten – in öffentlichen Orten wie Moscheen ermordet.
Viele Menschen in Europa bekommen davon gar nichts mit. Denn Krieg gibt es jetzt auch hier. Hat der Ukraine-Krieg den Blick auf Afghanistan verändert?
Die volle internationale Aufmerksamkeit richtet sich aktuell auf den Ukraine-Krieg. Das ist aber nicht unbedingt das Schlechteste. Afghanistan hat mittlerweile eine gute Lobby. Und der Westen kümmert sich nun weniger um die Politik, sondern konzentriert sich auf die humanitäre Notlage in Afghanistan, also auf die Menschen vor Ort. Davor hat sich die internationale Gemeinschaft der Illusion hingegeben, sie könne die Politik der Taliban mit ihren üblichen Forderungen und Drohungen beeinflussen. Dabei zeigte sich eine gewisse Überheblichkeit des Westens, der politische Forderungen im Tausch für Gelder stellte. Das hat nicht funktioniert. Das Land ist bisher trotzdem nicht zusammengebrochen. Vor einem Jahr hat man gesagt, dass es schon ein Erfolg sei, wenn nach einem halben Jahr Talibanreigerung noch politische Stabilität herrscht.
Hat Afghanistan unter den Taliban die Chance, politisch stabil zu bleiben?
Das wird sich noch zeigen. Das hängt auch davon ab, ob die Talibanregierung irgendwann international anerkannt wird. Die politische Stabilität durch die Talibanregierung wurde aber auch durch die Tötung des Al-Kaida-Chefs Al-Sawahiri wieder infrage gestellt.
Viele fragen sich jetzt, ob die Taliban wussten, dass er mit seiner Familie in Afghanistan lebte. Wenn es als Reaktion darauf weniger internationale Hilfszusagen gibt, würde sich das auch auf die politische Stabilität im Land auswirken.
Was kann ich in Deutschland tun, um Menschen in Afghanistan zu unterstützen?
Am besten ist es, für humanitäre Organisationen wie etwa die Welthungerhilfe, die Caritas, zivilgesellschaftliche Initiativen wie afghanische Schulen oder Afghanic e.V. zu spenden. Diese Organisationen arbeiten seit Jahrzehnten vor Ort und haben auch nach der Machtergreifung durch die Taliban keine Pause gemacht. Das fand ich immer beeindruckend. Viele Organisationen arbeiten mit festen Mitarbeiter:innen vor Ort. Durch die Löhne stärken sie afghanische Familien und auch die afghanische Wirtschaft.
Auf einer virtuellen Geberkonferenz wurden nach UN-Angaben 2,44 Milliarden Dollar für das Land zugesagt. Kommen Hilfsgelder wie diese überhaupt weiterhin bei der afghanischen Bevölkerung an?
Die internationale Gemeinschaft umgeht die Talibanregierung, um humanitäre Hilfen durch UN-Organisationen und deren Partner vor Ort zu ermöglichen. Dabei geht es um Geld, aber auch um grundlegende Hilfe wie die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und medizinische Versorgung. Ich höre aber auch, dass die Taliban versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Listen derjenigen, die Hilfsmaßnahmen bekommen. Das müsste man sich systematisch anschauen, ob das nur einzelne lokale Talibangrößen sind, die ihre Lokalmacht ausnutzen, oder ob das ein systematischer Ansatz der Talibanregierung ist.
Kann der Westen durch dieses dringend benötigte Geld Einfluss auf die afghanische Politik nehmen?
Dafür bräuchten sie das Geld nicht, sie könnten einfach Angebote machen, mit ihnen zu reden. Die Taliban wollen schließlich ins Gespräch kommen. Allerdings reden viele westliche Regierungen nicht mit den Taliban, weil sie ihre Regierung nicht anerkennen. Ich denke, dass es ein großer Fehler ist, nicht mit den Taliban zu reden – und, was noch wichtiger ist, ihnen zuzuhören. Viele Regierungen sind nicht mit Botschaften vertreten und beobachten die Lage nicht vor Ort.
Für grundlegende Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit wäre es wichtig, dass man sich Formate ausdenkt, um mit den Talibanbehörden thematisch problemorientiert in einen Austausch zu treten. Das wäre wichtig, um die Agenda der jeweils zuständigen Behörde überhaupt zu verstehen und daraufhin zu erkennen, wo gegebenenfalls ein Engagement deutscher Organisationen sinnvoll ist, um die Situation der Menschen genau in dem Bereich zu verbessern. Wenn die Taliban zum Beispiel sagen, dass Mädchen ab der siebten Klasse aufgrund der Scharia-Auslegung einer dominanten Gruppe innerhalb der Taliban nicht zur Schule gehen sollen, könnte man vielleicht über mehr separate Schulen nachdenken oder mehr Lehrerinnen ausbilden, damit Mädchen weiterhin die Schule besuchen können. Die Taliban sagen, dass sie nicht grundsätzlich gegen Mädchenbildung sind. Laut ihnen sind gemeinsame Schulen und Schulwege das Problem.
Wir sollen also Kompromisse finden – mit den Taliban?
Gesprächsforen mit den Taliban zu etablieren, muss nicht heißen, dass wir die Regierung anerkennen. Es heißt, dass wir versuchen, die Lage der Afghan:innen auch über einfach Nothilfe hinaus zu verbessern. Der Westen hat in den letzten Jahren einen Verlust an Glaubwürdigkeit in Afghanistan und darüber hinaus erlitten. Wenn Sie mich fragen, ob der Westen die Talibanregierung beeinflussen kann, ist die Problematik eher, dass er in den Augen der neuen Machthaber und vieler Afghan:innen keine Legitimität besitzt, um die Regierung zu beeinflussen. Trotzdem hat er meines Erachtens eine Verantwortung, die Afghan:innen jetzt nicht im Stich zu lassen.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert