Ich wurde 1986 geboren und seit ich Nachrichten nicht nur gucke, sondern auch verstehe, gibt es eine Sache, die gleich bleibt: Ständig tauchen Menschen auf, die vor dem Untergang der Demokratie warnen. Vor 20 Jahren soll es die Politikverdrossenheit gewesen sein, die die Demokratie gefährdet, heute sind es Populismus und Polarisierung.
Als im Jahr 2016 die Briten für den Brexit stimmten, die US-Amerikaner Donald Trump zum US-Präsidenten machten, gute 15 Prozent der Deutschen regelmäßig für die AfD stimmten, in Frankreich die rechtsextreme Marine Le Pen gute Aussichten auf das Präsidentenamt hatte, die Lega Nord sich in Italien ausbreitete, Ungarn einen Grenzzaun baute und in Brasilien der Hardliner Jair Bolsonaro seinen Wahlkampf vorbereitete, schwall die Welle der Warnungen vor dem Demokratie-Untergang zu einem Tsunami an.
Was sagt der Faschismus nochmal, wenn er wiederkehrt?
Der französische Intellektuelle Didier Eribon warnte in der Süddeutschen Zeitung: „Wer jetzt Macron wählt, bekommt in fünf Jahren Le Pen” und auf Facebook und Twitter machten im Wochentakt Spruchbilder des berühmten Zitats von Ignazio Silone die Runde: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus‘. Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus.‘“ Eine Anspielung auf offensichtliche Neo-Nazis wie Björn Höcke, die bei jeder Gelegenheit unterstreichen, dass sie keine Nazis sind; eine typische Taktik der neuen Rechten.
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Heute heißt der französische Präsident immer noch Emmanuel Macron, die AfD dümpelt in den Umfragen vor sich hin, in Großbritannien ist der populistische Politikclown Boris Johnson von seiner eigenen Partei vom Hof gejagt worden und Donald Trump konnte als Amtsinhaber, mit einer vor Kraft strotzenden Wirtschaft im Rücken Joe Biden und Kamala Harris nicht besiegen.
Es hätte alles schlechter laufen können. Das groß annoncierte Autokratenbeben, das wir 2016 erlebten, war nicht der Beginn eines starken Trends, der quasi automatisch in den Faschismus führt. Die Demokratie ist zäher als ihre ängstlichen Verteidiger und Verteidigerinnen glauben.
Optimismus und Pessimismus sind Populisten in deinem Kopf
Es ist mir wichtig, das in diesem Newsletter festzuhalten, weil ich gerade eine schicksalsergebene Verzagtheit bei viele Menschen, die die Demokratie schätzen, spüre. Die Verzagtheit rührt nicht aus dem was war, sondern aus dem, was passieren könnte. Die Szenarien: Trump wird auf jeden Fall wieder Präsident der USA. Und wenn er es nicht wird, putschen sich die Republikaner mit windigen Wahlgesetzen an die Macht und das wird das Ende der US-Demokratie sein. Die Rattenfänger werden überall in Zeiten hoher Inflation, Wirtschaftskrise und Kulturkämpfe um Geschlecht und Identität die Chance ergreifen und nun vollenden, was ihnen zwischen 2016 und 2020 nicht gelungen war.
Das ist das pessimistische Szenario. Aber Pessimismus ist genauso wie sein Zwilling Optimismus kein guter Ratgeber. Beide flüstern uns mit vielen Worten und immer sehr einleuchtenden Argumenten ein, warum schon alles gut wird oder eben die Welt den Bach runtergeht. Sie manipulieren unseren Geist, sie liefern Gewissheit, aber keine Erkenntnis. Pessimismus und Optimismus sagen uns, was wir hören wollen. Darin gleichen sie den Autokraten und Populisten.
Höcke, komm’ von der Bierkiste runter!
Eine Demokratie braucht aber keine Optimisten oder Pessimisten, sie braucht Menschen mit Zuversicht oder – etwas religiöser konnotiert – mit Hoffnung. Vor drei Jahren schrieb ich in einem Essay über Lösungen in der Klimakrise: „Wer hofft, hat die Lage verstanden, analysiert.“ Und eine zurückhaltende Analyse, die nicht von Vorneherein in Extremen denkt, lässt den Schluss zu, dass die Demokratien auch diese Welle von Rechtsextremen und Populisten überdauern können. Nicht jeder Höcke auf einem Marktplatz muss gleich zur grundsätzlichen Gefahr für die offene Gesellschaft hochstilisiert werden.
Denn die Kernstrategie, um Demokratien dauerhaft vor Totalitarismus zu schützen, ist einfach: Die Rattenfänger nicht größer machen als sie sind. Ihnen nicht mehr Macht, mehr Plan, mehr strategische Exzellenz zusprechen als sie in Wahrheit haben. Denn Leute wie Donald Trump, Boris Johnson oder auch Recep Tayyip Erdoğan beziehen einen sehr großen Teil ihrer Legitimität aus einer sehr trivialen Sache: Unantastbarkeit. Auf ihre offensichtlichen Misserfolge und ihre Inkompetenz hinzuweisen, hat deswegen überproportional viel Wirkung. Der Kaiser ist nackt!
Nehmen wir Boris Johnson. Der führte seine Partei, die konservativen Tories, zur absoluten Mehrheit und konnte sich danach erlauben, was er wollte – bis die Tories bei den Kommunalwahlen im Mai eine krachende Niederlage erlitten. Damit änderte sich, wie Johnsons Parteikolleg:innen auf ihn blickten: Er war zu Beginn eine Bereicherung, jetzt wurde er zur Last mit all seinen Skandalen und Fehltritten.
Eine Welt ohne Trump ist möglich und sinnvoll
Oder Donald Trump. Zu viele Menschen leiden unter Trump-PTSD. Wie kommt es, dass so viele einen Mann fürchten, der seinen Bürgern zwar tausende Dollar geschenkt hat und so viel Medienzeit wie kein zweiter frei Haus bekam, aber trotzdem gegen einen Gegner verlor, der Probleme hat, fehlerfrei von einem Teleprompter abzulesen? Donald Trump ist ein Wahlverlierer, dem Gefängnis droht. Das erkennen sie inzwischen auch in der republikanischen Partei, wo es eben keine ausgemachte Sache ist, dass Trump oder der „Trumpismus“ bei der nächsten Wahl zu Kandidaten gemacht oder gar siegen werden. Es sind noch zwei sehr lange Jahre bis dahin.
Die AfD hat in den letzten elf Wahlen in Bund und Ländern Stimmen verloren. Sie ist mit dem Thema Eurokrise groß geworden, war Anfang 2014 dem politischen Tod schon nahe, da begann die Flüchtlingskrise und damit auch ihr eigentlicher Aufstieg. Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie aber dringt sie nicht mehr durch. Sie hat kein zugkräftiges Thema mehr und in Zeiten einer globalen Pandemie haben viele Menschen gemerkt, dass es zwar ganz nett ist, denen da oben mit ihrem „Gendergaga“ mal eins auszuwischen, sie aber lieber doch nicht von Beatrix von Storch und Gunnar Lindemann regiert werden wollen, wenn es um Fragen von Leben und Tod geht.
Das Orakel von Washington, nun ja
Bei einigen von euch, liebe Leserinnen und Leser, steigt gerade der Blutdruck. Das weiß ich. Naiv sei ich, privilegiert, selbstgefällig, unachtsam. Typisch liberale Mitte, die an ihre Institutionen und Normen glaubt und den Beelzebub noch zur Podiumsdiskussion einlädt. Sieht der denn nicht, was der Oberste Gerichtshof in den USA gerade anrichtet, dieser gigantische konservative „Rollback“?
Natürlich sehe ich das. Aber die USA haben Probleme, die speziell amerikanisch sind. Wie der Oberste Gerichtshof aufgebaut ist, ist eines davon. Neun auf Lebenszeit ernannte Richter, die zu jedem Thema in immer der gleichen Besetzung urteilen? So sieht kein modernes Verfassungsgericht aus (eine exzellente Podcast-Episode zu diesem Thema findet ihr hier). Die ständigen Blockaden im Senat durch den sogenannten filibuster; das überholte Wahlmänner-System; die absurden Regeln, die millionenschwere Wahlwerbung von Unternehmen als free speech schützen; und nicht zuletzt das präsidentielle System selbst, das eine extreme Polarisierung fördert: Das sind spezifische Probleme der USA, aber nicht der Demokratie.
In Deutschland regiert eine etwas unförmige, aber Respekt verdienende Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen und es funktioniert. Demokratie, Pluralismus und Offenheit sind durch den Ukraine-Krieg wieder zu Werten geworden, für die die Menschen bereit sind, zu kämpfen. Und Menschen, die sich wirklich frei aussuchen können, wohin sie migrieren, wählen nicht China oder Russland, sondern Kanada, Deutschland, Neuseeland.
Die US-Demokratie hat Dutzende Wirtschaftskrisen, zwei Weltkriege, 21 Attentate auf den Präsidenten und einen Bürgerkrieg überstanden. Die britische den Niedergang des Empire und die Angriffe Nazi-Deutschlands. Und Deutschland selbst, als Kanzlerdemokratie mit autoritären Zügen unter Adenauer gestartet, ist heute eine gefestigte Demokratie. Genauso wie Korea oder Japan.
Geschichte ist nicht vorbestimmt. Brust raus, Demokraten und Demokratinnen!
Redaktion: Julia Kopatzki, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert