Vor zwei Wochen war in Köln Christopher Street Day und ich bin mit einer riesigen Regenbogenfahne durch die Straßen gezogen. In Russland wäre das unmöglich. Deshalb geht es heute um die Queerfeindlichkeit in russischer Propaganda, denn die spielt auch im Krieg gegen die Ukraine eine Rolle.
Apropos, Propaganda: Nachdem ich in diesem Newsletter mal gesagt hatte, westliche Propaganda gebe es nicht, ging es in meinem Postfach ziemlich rund. Ich habe deshalb noch einmal ganz weit ausgeholt und mir Zeit genommen, Propaganda verständlich zu erklären. Mein Text erscheint morgen auf Krautreporter. Du willst informiert werden, wenn er erscheint? Dann abonniere jetzt unser Nachrichtenupdate am Morgen, die Morgenpost.
In diesem Newsletter beantworte ich dir heute außerdem die Frage, ob wir Angst vor einem Atomkrieg haben müssen – und gebe dir wie jede Woche eine Portion Hoffnung mit.
Was ist gerade wichtig?
In vielen Ländern der Welt demonstrieren Menschen zurzeit auf Pride-Paraden für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transpersonen und Intersexuellen. In Russland sind Pride-Paraden verboten. Aktivist:innen haben zwar immer wieder versucht, eine Parade zu organisieren, aber ohne Erfolg. Wladimir Putin betrachtet „traditionelle Werte“ als Grundlage der Gesellschaft und Queerfeindlichkeit ist fester Bestandteil der russischen Propaganda. Sie richtet sich seit Jahren auch gegen Menschen in der Ukraine.
Was nützt Putin Queerfeindlichkeit?
Als Wladimir Putin 2012 zum dritten Mal Präsident wurde, war seine Macht nicht so sicher wie heute. Zwischen 2011 und 2013 bildete sich die damals größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Hunderttausende demonstrierten gegen Wahlfälschungen und gegen Putin selbst. Putin brauchte also eine Erzählung, wieso es ihn als starken Mann an der Spitze braucht: Er stellte sich als Verteidiger von „traditionellen Werten“ dar. Was diese traditionellen Werte sein sollen, weiß zwar niemand so genau, aber Putin nutzte das Narrativ, um die Einzigartigkeit der russischen Kultur zu betonen und sich gegen den Westen abzugrenzen.
Diese Agenda ist klar in den staatlich kontrollierten Medien erkennbar. Ein Beispiel: Im Januar outeten sich bei uns in Deutschland mehr als hundert Mitarbeitende der katholischen Kirche als queer. Viele feierten den Mut der Katholik:innen und solidarisierten sich mit der Bewegung. In diesem Beitrag des russischen staatlichen Senders NTV aber wird die Aktion als „LGBT-Propaganda“, „antikatholischer Angriff“ oder sogar als „Apokalypse“ bezeichnet.
Das ist nur ein Beispiel von vielen, aber das Narrativ ist klar: Die spinnen, die im Westen! 2013 sagte Ramsan Kadyrow, Diktator von Tschetschenien und treuer Gefolgsmann Putins, dass Europa „unmenschliche Dinge“ gutheiße, weil gleichgeschlechtliche Ehen normal seien. „Ich persönlich möchte kein Europäer sein“, sagte er.
Das Ergebnis der Propaganda lässt sich auch in Umfragen erkennen: 2013 sprachen sich 60 Prozent der Menschen in Russland gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen aus, 2021 waren es neun Prozent mehr, nämlich 69 Prozent, wie eine Befragung des unabhängigen Lewada-Zentrums ergab. Die Queerfeindlichkeit ist unter Putin also angestiegen.
Hass gegen queere Personen nutzen russische staatliche Medien auch im Krieg gegen die Ukraine. Beispielsweise sagte die Moderatorin eines staatlichen Fernsehsenders 2021, dass Wolodymyr Selenskyj auf Befehl von Joe Biden „Homosexualisten“ an die Front im Donbass schicken würde. Vergangenen Juni lautete eine Schlagzeile, dass die Ukraine „Nazi-Schwule“ in den Kampf entsende. Ja, du hast richtig gelesen: „Homosexualisten“ und „Nazi-Schwule“.
Kurz nach Beginn der russischen Invasion sagte Patriarch Kyrill in einer Predigt, dass Pride-Paraden in der Ukraine der Grund für den Krieg seien. Man müsse die Bevölkerung davor beschützen. Die russisch-orthodoxe Kirche teilt die „traditionellen Werte“ Putins. Putin wiederum profitiert von der Unterstützung der orthodoxen Kirche. Wie genau ihrer beider Interessen zusammenhängen, habe ich hier schon einmal beschrieben.
An dieser Stelle muss ich dazusagen: Auch in der Ukraine sieht es für queere Menschen nicht gerade rosig aus. Sie haben nicht die gleichen Rechte wie heterosexuelle und Cis-Menschen, werden bedroht und müssen sogar körperliche Gewalt fürchten. Aber in den vergangenen Jahren gab es Verbesserungen: 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz zum Schutz sexueller Minderheiten am Arbeitsplatz. Und in den vergangenen Jahren fanden in Kyjiw Pride-Paraden statt, auch wenn die Teilnehmenden von der Polizei geschützt werden mussten.
Auf die Queerfeindlichkeit in Russland hinzuweisen, bedeutet also nicht, Diskriminierung in der Ukraine zu ignorieren. Aber während sich die Ukraine zumindest in kleinen Schritten öffnet, ist Queerfeindlichkeit in Russland ein Phänomen, das der Kreml benutzt, um Stimmung gegen andere Länder zu machen.
Die Frage der Woche
KR-Leserin Anja fragt: „Müssen wir Angst vor einem Atomkrieg haben? Sind wir in Deutschland in Gefahr?“
Tatsächlich ist die Gefahr eines Atomkriegs so hoch wie wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Davor warnt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri in seinem aktuellen Jahresbericht. Obwohl die Zahl der atomaren Sprengköpfe 2021 leicht zurückging, erwartet das Institut im kommenden Jahrzehnt einen Zuwachs an Atomwaffen auf der Welt. Putin droht dem Westen seit Monaten mit Atomraketen und im russischen staatlichen Fernsehen spekulieren die Moderator:innen offen darüber, in wie vielen Sekunden man europäische Städte in Schutt und Asche legen könnte.
Doch das bedeutet nicht, dass nächste Woche die Welt untergeht. Russlands Strategiepapiere sehen den Einsatz von Atomwaffen nur dann vor, wenn die Existenz des Landes auf dem Spiel steht. Außerdem weiß Putin, dass der Einsatz von Atomwaffen einen Gegenschlag provozieren würde. Die Auswirkungen wären – auch für Russland – so gravierend, dass Putin sehr große Hemmungen haben dürfte, tatsächlich Atomwaffen einzusetzen.
Natürlich wirkt Putin in letzter Zeit nicht gerade friedliebend. Aber er weiß genau, was seine Drohungen auslösen: Er erpresst uns mit der Angst vor einem Atomkrieg. Diese Angst ist bis zu einem gewissen Grad berechtigt, aber sie ermöglicht Russland auch, einen Eroberungskrieg in unserer direkten Nachbarschaft zu führen. Die Atombombe ist in erster Linie eine politische Waffe – und das weiß Putin ganz genau. Mehr Informationen findest du auch in unserem Zusammenhang „Was du über Atomwaffen wissen musst“.
Hast du eine Frage zum Krieg in der Ukraine? Dann nimm jetzt an meiner Umfrage teil.
Der Link der Woche
Einige Ukrainer:innen, die in umkämpften Gebieten leben, wollen ihre Wohnungen und Häuser nicht verlassen. Sie fürchten um ihren gesamten Besitz und ihr Zuhause. Der Kyiv Independent hat zwei Freiwillige begleitet, die Zivilist:innen von der Front evakuieren. Einer der beiden sagt: „Die Angst der Menschen, ihr Hab und Gut, die materiellen Dinge zu verlieren, führt dazu, dass sie ihr Leben verlieren. Sie müssen da raus. Sie müssen packen und verschwinden, solange sie noch können.“
Die Hoffnung der Woche
Die Journalistin Isabel Schayani ist bekannt für ihre eindrückliche und mitfühlende Berichterstattung. Gerade ist sie für die ARD in der Ukraine.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Julia Kopatzki, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert