Ich lese keine Newsticker, denn dafür habe ich weder Zeit noch Nerven. Als ich aber erfuhr, wie die Bundesregierung den Fachkräftemangel an den Flughäfen regeln will, fiel ich fast vom Stuhl.
Seit der Corona-Krise ist die Situation an deutschen Flughäfen gelinde ausgedrückt schwierig. Viele der Arbeitenden wurden in der Corona-Krise kurzerhand entlassen (also rausgeworfen) und suchten sich neue Jobs. Auch die Lufthansa entließ Angestellte. Nun fehlen laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft 7.200 Beschäftigte an deutschen Flughäfen.
Klar. Wenn man Leute entlässt, dann fehlen: Leute.
Nun werden also Flüge gestrichen oder ankommende Passagiere ohne Koffer nach Hause geschickt (so wie in Düsseldorf). Also muss eine Lösung her. Und zwar schnell.
Wer hat das nochmal verbockt? Ach ja, Fluggesellschaften wie die Lufthansa. Und wer löst jetzt das Problem? Die Bundesregierung.
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Die Bundesregierung hat sich eine Sonderregelung einfallen lassen: 2.000 Fachkräfte werden soeben aus der Türkei eingekauft. Dafür wird sogar die Visa-Erteilung beschleunigt, die Arbeitsagentur hat eine generelle Zustimmung für Abfertigungstätigkeiten an deutschen Flughäfen erteilt.
Wie das auf die vormals entlassenen Fachkräfte wirkt, will ich mir nicht ausmalen. Ich an ihrer Stelle wäre ziemlich sauer, vielleicht auch gekränkt, auf jeden Fall würde ich mir verarscht vorkommen.
Jetzt möchte ich dir eine Frage stellen: 7.200 Beschäftigte fehlen an deutschen Flughäfen. Was schätzt du, ohne zu googeln, wie viele Erzieher:innen in sozialen Jobs fehlen? Doppelt so viele? Zehnmal so viele? Ich hoffe, du sitzt gerade bequem, ansonsten hole dir bitte einen Stuhl.
Die Bertelsmann Stiftung analysierte im August letzten Jahres:
„Auf dem bundesweiten Arbeitsmarkt besteht zwischen dem prognostizierten Bedarf und dem voraussichtlichen Angebot an Fachkräften eine Lücke von insgesamt mehr als 230.000 Erzieher:innen.“
😮
Genau, so habe ich auch geguckt.
Zweihundertdreißigtausend. Das sind 3.000 Prozent mehr Menschen, als derzeit an deutschen Flughäfen fehlen. Vor 2030 wird sich in Deutschland keine kindgerechte Personalausstattung schaffen lassen, so die Bertelsmann Stiftung.
Niemand interessiert sich für Erzieher:innen
Das heißt: Das Kind ist im wahrsten Sinne des Wortes in den Brunnen gefallen. Und lässt sich so schnell auch nicht mehr herausziehen. Es ist zu spät. Und das ist auch der große Unterschied zwischen der unglücklichen Rettung der Flughäfen und der nicht existenten Rettung der Kitas. Und genau das ärgert mich.
Flughäfen aus der Patsche zu helfen, ist öffentlichkeitswirksam. Das sieht gut aus, hört sich gut an, und nebenbei lässt die Regierung ein bisschen Kulanz bei der Visaverteilung raushängen. Die Bundesregierung rettet unseren Urlaub!
Kitajobs interessieren hingegen keine Sau, denn niemand interessiert sich erstens für Kinder und zweitens für Erzieher:innen, deren Job sowieso niemand machen will, wie ich schon 2019 geschrieben habe. Dabei wäre die Schlagzeile doch eigentlich noch besser: Die Bundesregierung rettet unsere Kinder! Aber dafür müsste sie sich eingestehen, dass wir ein Problem haben. Und dass sie es selbst verbockt hat. Denn an dieser Misere ist nicht irgendein Unternehmen schuld, sondern der Staat selbst.
2004 absolvierte ich meine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher. Zuletzt arbeitete ich in einer Kita in Berlin-Kreuzberg. Wir waren (wer hätte es gedacht) chronisch unterbesetzt – und das trotz der nicht ausgebildeten Kräfte, die uns von einer Zeitarbeitsfirma gestellt wurden.
Ja, vielleicht ist das der größte Unterschied. Um Koffer aufs Band zu werfen oder Pakete zu schnüren, braucht man keine Ausbildung, nur Kraft. Um mit Kindern zu arbeiten, braucht man eine Ausbildung. Aber die Hilfskräfte, die bei mir in der Kita gearbeitet haben, hatten diese Ausbildung nicht. Doch die Hilfe wurde so dringend gebraucht, dass uns egal war, wer kommt. Hauptsache, wir wurden unterstützt.
Meine Kolleg:innen waren permanent gestresst und einige im ständigen Burnout. Eine Kollegin erlaubte sich selbst nicht, zu Hause zu bleiben, wenn sie krank wurde. Sie arbeitete IMMER. Denn sie wusste: Wenn ich fehle, leiden darunter die Kinder. Das Problem war: Sie hatte recht. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, woher sie die Kraft nahm. Stattdessen wurde sie wann krank? Natürlich in ihrer Urlaubszeit. Ich hoffe, sie will nicht gerade Urlaub machen und steht vor einer Tafel am Flughafen, auf der steht: Flug fällt aus!
Mich haben die Kita-Viren permanent ausgeknockt. Und selbst wenn ich gesund war, fühlte sich ein Arbeitstag an wie eine Woche auf dem Bau. Anfang 2022 habe ich gekündigt. Meine Hausärztin erstellte mir ein Attest, in dem steht, dass sie mir dringend rät zu kündigen, weil eine Weiterbeschäftigung nicht nur meine körperliche, sondern auch meine psychische Gesundheit gefährden würde.
Ich war am Arsch und kurz vor oder schon mitten im Burnout. Nachts konnte ich kaum noch schlafen und an den Wochenenden war ich so müde und ausgelaugt, dass ich niemanden treffen wollte. Ich befürchtete, in eine Depression zu schlittern und das kann für mich lebensgefährlich werden.
Kurz vor Weihnachten traf ich eine Kollegin, mit der ich vor Jahren in einer Einrichtung minderjährige Geflüchtete betreut hatte. Sie war damals meine Vorgesetzte. Als ich sie sah, war ich schockiert. Sie hatte Augenringe, sah ausgelaugt aus und hatte stark abgenommen. Das Erste, was sie mich fragte, war: „Martin, willst du wieder bei uns arbeiten? Wir nehmen gerade ALLE, die wir kriegen können. Es ist unfassbar hart, aber komm doch zu uns!“
Sie erzählte mir, wie verzweifelt die Geschäftsleitung nach Arbeitskräften sucht und wie hart das tägliche Arbeiten in der Wohngruppe ist. Sie betreut nun nicht mehr Geflüchtete, sondern drogenabhängige junge Erwachsene. Ich bedankte mich für das Angebot und bat um Bedenkzeit. Ich entschied mich dagegen.
Erzieher:innen und das Pflegepersonal gleichen den Fachkräftemangel selbst aus
Wenn ich an Tagen wie heute mitbekomme, dass die Regierung einen Fachkräftemangel der Flughäfen unbürokratisch und galant mit einer schnellen Lösung ausgleicht, dann macht mich das fuchsteufelswild.
Es fühlt sich an wie ein neues, unmissverständliches FUCK YOU an alle Menschen, die in sozialen und Pflegeberufen arbeiten. Denn es geht nicht nur um Erzieher:innen, es geht auch um Pflegepersonal in Altenheimen und Krankenhäusern. Hier fehlen laut der Initiative Pflegenotstand bis 2030 sogar 300.000 Fachkräfte.
Bis dahin gleichen sie den Fachkräftemangel mit der eigenen Arbeitskraft aus. Und dafür werden sie auch noch schlecht bezahlt.
Das haben wir nicht verdient.
Redaktion: Lisa McMinn, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert