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Im Dezember 1968 veröffentlichte der Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin einen Essay in der Zeitschrift Science, der ihn weltberühmt machte: „The Tragedy of the Commons“ ist bis heute ein Standardwerk der Umweltbewegung.
Hardin beschreibt darin die „Tragik der Gemeingüter“: Dinge, die uns allen gehören oder die wir alle nutzen, behandeln wir meist schlecht. Er sagt: Weil der Mensch grundsätzlich egoistisch handelt, versauen wir die Umwelt. Und um die Natur – ein Gemeingut – nicht komplett zu zerstören und alle Ressourcen aufzubrauchen, existiere nur eine Lösung: Es dürfe nicht zu viele Menschen auf der Welt geben. Denn die explodierende „Überbevölkerung“, glaubt Hardin, sei schuld am katastrophalen Zustand der Welt.
Heute, 50 Jahre später, teilt unter anderem der britische Naturschützer und Filmemacher David Attenborough diese Position. Attenborough, der 2020 die durchaus sehenswerte Netflix-Doku „Mein Leben auf unserem Planeten“ veröffentlichte, engagiert sich bei der Stiftung Population Matters und sagt: „All unsere Umweltprobleme sind leichter zu lösen, wenn es weniger Menschen gibt.“
Das klingt zunächst logisch: Wenn es zu viele Menschen auf der Welt gibt, die zu viele Treibhausgase ausstoßen – und die ökologischen Grenzen unseres Planeten überlasten – müsste man einfach die Gesamtbevölkerung der Welt reduzieren. Easy. Mir ist das Argument schon am Küchentisch, in Diskussionen über Familienplanung und in Uni-Seminaren begegnet.
Das Problem ist: Das Argument ist irreführend. Es verkennt die wahren Ursachen der Klimakrise und verschiebt Verantwortung auf Einzelpersonen. Und es öffnet die Tür für Gewalt, Rassismus, Klassismus und Misogynie. Und das schon seit Jahrhunderten.
Der Mythos „Überbevölkerung“ verkennt die Ursachen der Klimakrise
Heutzutage leben mehr Menschen auf unserem Planeten als je zuvor. Vor 500 Jahren gab es bloß 500 Millionen menschliche Erdbewohner:innen, inzwischen sind es 7,9 Milliarden. Gleichzeitig sind die Ozeane verschmutzt, die Wälder brennen, das Wasser wird immer häufiger knapp und die Menschheit stößt jährlich mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre.
Aber, wie gefühlt jede:r Statistik-Professor:in in jeder Statistik-Einführungsveranstaltung so schön fachsimpelt: Eine Korrelation ist noch keine Kausalität. Ja, heute leben mehr Menschen als je zuvor auf der Erde. Aber nicht jeder Mensch stößt gleichviel CO2 aus. Nicht jeder Mensch zerstört Natur und Umwelt in gleichem Maße.
Laut dem Oxfam-Bericht „Confronting Carbon Inequality“ sind die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung für mehr als die Hälfte der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Das reichste eine Prozent wiederum hat demnach zwischen 1990 und 2015 mehr als doppelt so viel CO₂ ausgestoßen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.
Das ist ein Newsletter von Benjamin Hindrichs. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Meinungsbeiträge und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen.
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Das zeigt: Es ist nicht so wichtig, wie viele Menschen wir auf der Erde sind. Sondern wie viele Treibhausgase wir ausstoßen und wie viel fossile Energieträger wir verbrennen. Nicht eine vermeintliche Überbevölkerung befeuert die Klimakrise, sondern unser Lebensstil. Genauer gesagt, vor allem das Konsumverhalten der Bewohner:innen des Globalen Nordens.
Das bedeutet auch: Der Mythos der Überbevölkerung als Sündenbock verschiebt die Verantwortung für Umweltzerstörung und Klimakrise auf Einzelpersonen und ihre Reproduktion. Obwohl laut einer Studie nur 90 Konzerne für 63 Prozent der Kohlendioxid- und Methan-Emissionen im Zeitraum von 1751 bis 2010 verantwortlich waren. Diese müssten ihre Emissionen reduzieren, um die Klimakrise aufzuhalten. Das hätte mehr Einfluss, als wenn Menschen plötzlich aufhören, Kinder zu bekommen.
Laut einer Studie der University of Washington erreicht die Erdbevölkerung um das Jahr 2064 herum mit 9,7 Milliarden Menschen ihren Höchststand. Am Ende dieses Jahrhunderts leben der Prognose zufolge rund 8,8 Milliarden Menschen auf dem Planeten. Und um die zu ernähren, gäbe es genügend Ressourcen, wie das Umweltprogramm der Vereinten Nationen hier erklärt.
Dass das möglich ist, hat schon der Gründungsvater der Theorie, der britische Ökonom Thomas Malthus verkannt. In „An Essay on the Principle of Population“ warnte er 1789 davor, dass ein explodierendes Bevölkerungswachstum zu Verarmung und Hungerkatastrophen führen würde.
Was er übersah: Erstens ist Bevölkerungswachstum kein automatisierter oder endloser Prozess. Menschen sind mehr als paarungswillige Tiere. Ihr Fortpflanzungsverhalten hängt unter anderem von Faktoren wie Bildung und Wohlstand ab. Und von sexueller Aufklärung und dem Zugang zu Verhütungsmitteln. Zweitens sorgen Innovationen dafür, dass wir mit den Ressourcen der Erde immer mehr Menschen ernähren können.
Vielleicht waren Malthus solche Argumente aber auch egal.
Ein Mythos als Türöffner für Gewalt
1601 erließ Queen Elizabeth I. das Poor Law, das englische Armengesetz. Das sicherte Menschen in Armut Unterstützung zu. Es galt als erster großer Schritt in Richtung Sozialstaat. Und wurde 1834 maßgeblich eingeschränkt. Eine der Inspirationsquellen für die Gesetzesänderung war laut dem Evolutionsbiologen und Journalisten Matt Ridley: Thomas Malthus. Um der angeblichen Explosion der Bevölkerung entgegenzuwirken, hatte der – neben dem Wundermittel Enthaltsamkeit – vorgeschlagen, die Armenhilfen abzuschaffen. Damit arme Menschen sich weniger fortpflanzen und sich die vermeintliche Überbevölkerung reduziert.
Dieses Denken beeinflusste den Sozialdarwinismus und schuf den Nährboden für Eugenik-Verbrechen und menschenfeindliche Politik weltweit. 1927 legalisierte der Oberste Gerichtshof der USA die Sterilisierung von „unerwünschten“ Bürger:innen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sollten nicht zu groß werden. Das Ergebnis: 70.000 Zwangssterilisierungen. Die meisten Betroffenen waren Menschen mit Behinderungen, Taube, Blinde, Erkrankte, aber auch Arme, Frauen und Minderheiten. Oliver Wendell Holmes, Jr., ein „progressiver“ Richter vermeldete damals: „Three generations of imbeciles are enough“, also „Drei Generationen von Schwachköpfen sind genug.“
Das sind bloß zwei Beispiele, die zeigen, wie der Mythos der Überbevölkerung schon seit Jahrhunderten der Rechtfertigung von Gewalt dient. Das hat sich bis heute nicht geändert: Wer fordert, das Bevölkerungswachstum zu begrenzen, muss diese Forderung zu Ende denken. Ohne die Beschneidung von Rechten ist das Unterfangen unmöglich. Das gilt besonders für die Beschneidung von Reproduktionsrechten: Wer fordert, dass Menschen weniger Kinder bekommen dürften, muss bedenken, dass er der Beschneidung des Selbstbestimmungsrechts aller Menschen mit Uterus die Tür öffnet.
In der Regel treffen solche Maßnahmen jene, die sowie schon ausgegrenzt und als „unerwünscht“ markiert werden, also besonders Arme, LGBTQI*- und nichtweiße Menschen. Und Menschen mit Behinderungen. Das bringt uns zurück zum Ökologen Garrett Hardin, dem Autor des Essays „The Tragedy of the Commons“. Der war nämlich ein glühender Sozialdarwinist. Und hielt von Schwarzen und Armen – im Unterschied zu weißen Menschen – nicht besonders viel.
In seinem berühmten Essay über das vermeintliche Problem des Bevölkerungswachstums schrieb er: „If we love the truth we must openly deny the validity of the Universal Declaration of Human Rights.“ Wenn wir die Wahrheit lieben, schreibt er, müssten wir offen die Gültigkeit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ablehnen.
1974 schrieb er einen Essay mit dem Titel „Lifeboat Ethics: the Case Against Helping the Poor“. Darin fordert er, die Erde als überfülltes Rettungsboot zu betrachten und arme Menschen über Bord zu werfen, damit der Rest überleben kann. Hardin warnt, „fehlgeleitete Idealisten“ könnten „eine selbstmörderische Politik der Ressourcenteilung“ durch „unkontrollierte Immigration und Entwicklungshilfe-Gelder“ betreiben.
In diesem Sinne gründete er eine Anti-Immigrations-Stiftung in Kalifornien und setzte sich im Kongress dafür ein, keine Entwicklungshilfegelder in ärmere Weltgegenden zu schicken. Hardin, sagt das Southern Poverty Law Center, war ein überzeugter White-Supremacist, der von einem homogenen, weißen Volk träumte.
Vom heutigen Ökofaschismus war der Vordenker der Umweltbewegung also nicht weit entfernt. Immer mehr Rechtsradikale rechtfertigen Ausgrenzung und Gewalt von „Unerwünschten“ mit der angeblichen Überbevölkerung des Planeten, die die Klimakrise befeuern und die Natur zerstören würde. Die Schuldigen sind in ihren Augen: arme, behinderte oder nichtweiße Menschen, die sich angeblich zu viel fortpflanzen und zu viel konsumieren. Im extremsten Fall dient das der Rechtfertigung eines Massenmordes. Und wird – wie bei den Rechtsterroristen aus Christchurch, El Paso oder zuletzt in Buffalo – als Heldentat zur Rettung des Planeten inszeniert.
„Ich bin ein ethno-nationalistischer Ökofaschist“, schrieb der Schütze von Christchurch in seinem Pamphlet. Muslim:innen stellten in seinen Augen eine Bedrohung für den „Heimatplaneten“ der Weißen dar, weil sie angeblich eine Bevölkerungsexplosion verursachten und die Erde verschmutzten. Deshalb müsse man sie töten und so „die Umwelt retten“.
Klar, von solchen Extrempositionen sind die meisten Anhänger:innen der Theorie der „Überbevölkerung“ weit entfernt. Aber wer die Reproduktion von Menschen kontrollieren will, muss sich bewusst sein: Eine solche Forderung öffnet die Tür für Rassismus, Klassismus, Frauenfeindlichkeit und Eugenik. Und das in vielen Gewändern: Tansanias Regierung plant gerade, 150.000 Massai umzusiedeln, weil die angeblich die Umwelt zerstören würden.
Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger