Hier ist Isolde, und wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Lust mehr, über Nazi-Ideologien in der Ukraine zu schreiben. Aber Andrij Melnyk hat ein, nun ja, skandalöses Interview gegeben. Darum geht es heute. Außerdem erkläre ich dir, welche Waffen aus Deutschland wirklich in der Ukraine angekommen sind.
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Was ist gerade wichtig?
Er ist oft undiplomatisch und polterig: der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk. Vergangene Woche war er in der Interview-Sendung „Jung & Naiv“ zu Gast. Dort verteidigte er Stepan Bandera, einen ukrainischen Nationalisten und Partisanenführer. Bandera ist eine umstrittene Persönlichkeit, dessen Anhänger:innen für Massenmorde an Jüd:innen und Pol:innen in den 1940er Jahren verantwortlich waren. Melnyk aber behauptete: „Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen.“ Mehreren Nachfragen, die sich auf die faschistische Gesinnung Banderas bezogen, wich Melnyk aus. Das Interview löste international Empörung aus: Die israelische Botschaft in Deutschland warf Melnyk Verharmlosung des Holocaust vor, das polnische Außenministerium nannte die Aussagen „inakzeptabel“.
Wer war Bandera – und warum ist das überhaupt wichtig?
Bei der Debatte um Stepan Bandera geht es um mehr als die Frage, ob Bandera für die Massenmorde verantwortlich war. Es geht auch um die Ukraine als Nation, um die Unabhängigkeit von der Sowjetunion und die Abgrenzung von russischer Propaganda.
Bandera war der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die einen unabhängigen ukrainischen Nationalstaat gründen wollte. Die Ideologie der OUN war geprägt von Antisemitismus und Feindschaft gegenüber Polen und der Sowjetunion. Besonders die Sowjetunion war für die OUN ein Feind, denn sie fürchtete eine „Russifizierung“. Auch der Holodomor, also die von der Sowjetunion herbeigeführte Hungersnot in den 1930er Jahren, prägte diese Feindschaft.
Die OUN arbeitete unter Bandera ab 1941 mit der deutschen Wehrmacht zusammen. Die Nationalist:innen sollten für die Wehrmacht aus den sowjetischen Gebieten Informationen liefern und einen Aufstand vorbereiten. Umgekehrt hoffte die OUN, mit deutscher Hilfe eine unabhängige Ukraine gründen zu können. Am 30. Juni 1941 erklärte die OUN die Gründung eines ukrainischen Staates. Das ging den Deutschen aber zu weit: Sie verhafteten Bandera und deportierten ihn in eine Sonderabteilung des KZ Sachsenhausen.
Im Namen der OUN wurden Tausende Menschen brutal ermordet. 1941 tötete der militärische Arm der OUN mehrere tausend Menschen, die sie für Unterstützer:innen der Sowjetunion hielten, vorwiegend Jüd:innen. 1943/44 ermordeten sie zwischen 60.000 und 100.000 Pol:innen in Wolhynien und Ostgalizien. Bandera war an diesen Massakern nicht direkt beteiligt, denn zu dem Zeitpunkt war er bereits inhaftiert. Allerdings hatte er die Ideologie der OUN geprägt: Zu seinen Zielen gehörte die Errichtung eines ethnisch homogenen ukrainischen Staates. Seine Anhänger:innen, die an den Massakern beteiligt waren, sahen ihn nach wie vor als ihren Anführer.
Das sind die Fakten, die unter Historiker:innen unumstritten sind. Andrij Melnyk sollte das wissen und sich davon distanzieren. Ausführlichere Informationen dazu gibt es übrigens bei Ukraine-Analysen oder beim Wissenschaftsportal Lisa. Aber die Debatte um Stepan Bandera geht noch viel tiefer.
Die Sowjetunion und das heutige Russland zeichnen ein vereinfachtes Bild von Bandera. Sie stellen ihn als Nazi-Kollaborateur dar, als Symbol für den Faschismus. Das ist nicht ganz richtig, schließlich ging es Bandera vor allem um die Errichtung eines ukrainischen Staates. Aber diese Vereinfachung zieht sich bis in die heutige russische Propaganda: Das russische Staatsfernsehen spricht nämlich noch immer von „Banderowzy“, wie die Anhänger:innen von Bandera genannt werden. Und die, so stellt es das Fernsehen dar, hätten in der Ukraine das Sagen. Das ist eine der Erzählungen, mit denen Russland seinen Angriffskrieg rechtfertigt.
Das Narrativ, es gebe Neonazis in der Ukraine, die beseitigt werden müssten, nutzt Russland seit Jahren. Wie genau diese Propaganda funktioniert, habe ich übrigens schon einmal auf Krautreporter.de beschrieben. Das ist eine Erklärung dafür, weshalb auch Andrij Melnyk in dem Interview auf russische Narrative verweist.
Eines muss ich festhalten: Bandera-Anhänger:innen haben Massenmorde begangen – ihn zu verehren, ist falsch. In der Ukraine selbst ist Bandera umstritten. Während manche ihn als Helden verehren, lehnen ihn andere ab. Doch gerade jetzt, wo sich die Ukraine als Nation gegen Russland zur Wehr setzen muss, scheinen die nationalistischen Ideen Banderas wieder aktuell zu sein. Für einige Ukrainer:innen steht Bandera für die Unabhängigkeit von einer russisch geprägten Imperialmacht. Es geht ihnen also nicht um Schuldzuweisungen – sondern um die ukrainische Unabhängigkeit von Russland. Auch bei Botschafter Melnyk scheint das so zu sein.
Das ukrainische Außenministerium hat sich von Melnyks Aussagen bereits distanziert. Es ist wichtig, dass die Ukraine diskutiert, wie sie mit dem historischen Erbe Banderas umgeht. Stattfinden kann diese Diskussion aber nur in Friedenszeiten – und nur in einem demokratischen Land.
Die Frage der Woche
KR-Leserin Claudia fragt: „Was ist mit den Waffen passiert, die Deutschland der Ukraine versprochen hat? Sind diese vor Ort schon angekommen?“
Monatelang hat die Bundesregierung die Öffentlichkeit mit unklaren Versprechungen und komplizierten Ringtausch-Waffenlieferungen verwirrt. Jetzt ist endlich klar, welche Waffen Deutschland der Ukraine schon geliefert hat und noch liefern will. Auf dieser Seite veröffentlicht die Bundesregierung eine Liste, die laufend aktualisiert wird. Unter den gelieferten Waffen sind zum Beispiel 100.000 Handgranaten und 28.000 Helme, aber auch sogenannte schwere Waffen, wie etwa sieben Panzerhaubitzen. Zu den Waffen, die noch geliefert werden sollen, gehören sieben Gepard-Panzer.
Ist das jetzt viel oder wenig? Der Militärexperte Carlo Masala schrieb auf Twitter dazu: „Wenn alles, was auf der Liste noch als ‚zugesagt‘ steht, ‚relativ schnell‘ geliefert wird, ist die Bilanz nicht schlecht.“ Das bedeutet aber nicht, dass die Ukraine nun bestens ausgerüstet ist. Im Donbass tobt gerade eine „Materialschlacht“ und der ukrainischen Armee droht die Munition auszugehen.
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Der Link der Woche
Seit 2014 ist sie immer wieder in den Schlagzeilen: die von Russland annektierte Halbinsel Krim. In einer Podcast-Folge von Kyiv Independent sprechen die Reporterinnen auf Englisch über Zensur und Einschüchterung auf der Halbinsel. Sie führen Interviews mit Menschen von der Krim und erklären viel über den Widerstand der Krimtatar:innen, die besonders stark von Repressionen betroffen sind. Außerdem erzählen sie, was sie selbst mit der Krim verbindet. Eine wichtige Perspektive auf die Halbinsel, denn in der deutschen Debatte geht es oft nur um Völkerrecht oder darum, wie „russisch“ die Krim ist.
Die Hoffnung der Woche
Die Macher:innen der deutschen Micky Maus haben eine Sonderausgabe auf Ukrainisch produziert. Die 5.000 kostenlosen Exemplare sollen geflüchteten Kindern aus der Ukraine ein Stück Vertrautheit geben.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger