Ein großes Kriegsschiff mit türkischer Beflaggung liegt an einer Mittelmeerinsel an.

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Der griechisch-türkische Inselstreit, verständlich erklärt

Über die Urlaubsinseln Rhodos und Kos fliegen seit Wochen Kampfjets. Wird aus dem Säbelrasseln über dem Mittelmeer bald ein Krieg? Und wem gehören die Inseln wirklich?

Profilbild von Lukas Weyell

Auf unserer Startseite stellen wir euch die Frage: Was sollen wir als Nächstes recherchieren? Am 13. Juni erreichte uns eine Mail von unserer Leserin Mia. Sie schrieb: „Könnt ihr vielleicht auch so einen Einfach-erklärt-Artikel darüber machen, was gerade zwischen der Türkei und Griechenland los ist?“ Klar, Mia, können wir!


Gibt es bald Krieg im Mittelmeer?

Die Lage ist bedrohlich. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat im Mai den Kontakt zu seinem griechischen Kollegen Kyriakos Mitsotakis abgebrochen. Er sagt, der griechische Ministerpräsident existiere für ihn nicht mehr.

Warum ist Erdoğan da so hart?

Eine vertrackte Angelegenheit… Es ging um griechische Jets, die türkisches Territorium überflogen haben und türkische Jets, die griechischen Luftraum verletzt haben sollen. Militärische Drohgebärden also. Dabei hatten sich beide Länder im März eigentlich darauf verständigt, ihre politischen Konflikte bilateral zu lösen. Hinter all dem Hin und Her steckt aber eigentlich ein ganz anderer, ein historischer Streit.

Nämlich?

Es geht um Territorium im Mittelmeer: die Dodekanes-Inseln.

Kenne ich nicht.

Doch, bestimmt. Möglicherweise hast du dort sogar bereits Urlaub gemacht. Rhodos und Kos gehören nämlich zur Gruppe der Dodekanes-Inseln. Auf 18 dieser Inseln leben Menschen, dazu kommen hunderte kleinere Inseln, Felseninseln, Felsen und Riffe. Sie alle unterstehen der griechischen Regierung, ein paar wenige sind Privatinseln, die meisten aber sind unbewohnt.

Auf der Karte sind die umstrittenen Inseln zu sehen, die sich zwischen Griechenland und der Türkei im Mittelmeer befinden.

Die umstrittenen Inseln, hier orange einfärbt, liegen in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei. Peter Hermes Furian/Getty Images

Um Cluburlaub auf Kos geht es Erdoğan vermutlich nicht.

Nein. Er beansprucht die Inseln für die Türkei. Tourismus spielt dabei keine Rolle – es geht vielmehr um Geld. Um die Inseln herum gibt es wichtige Erdgasvorkommen. Außerdem geht es um die Rechte, dort Fischfang zu betreiben.

Es geht also um wirtschaftliche Interessen?

Auch, aber nicht nur. Wie so oft bei solchen Konflikten spielen auch Nationalismus und Sicherheitsinteressen eine Rolle. Erdoğan ist sogar der Meinung, die Griechen verletzten internationales Recht, weil sie Soldat:innen auf den griechischen Inseln in der Ostägäis stationiert haben.

Und die Griechen?

Die sagen, sie brauchen die drei vorhandenen Militärposten, weil die Türkei Landungsschiffe an ihrer Westküste stationiert habe. Wären dort keine griechischen Soldat:innen, so die Argumentation, nähme Erdoğan sich die Inseln einfach.

Also Säbelrasseln auf beiden Seiten. Oder ist da was dran?

Naja: Die Türkei hat erst im Mai ein Manöver im Mittelmeer abgehalten. Rate mal, was dort geübt wurde.

Wie man eine Insel erobert?

Exakt. Amphibische Landemanöver auf Mittelmeerinseln. Es gibt für Griechenland also guten Grund, Angst vor einem türkischen Angriff zu haben.

Wem gehören die Inseln denn nun?

Dazu müssen wir mehr als 2.000 Jahre in der Geschichte zurückgehen. In der Antike gehörten die Dodekanes-Inseln zur griechischen Einflusssphäre, genau wie große Teile der heutigen türkischen Westküste. Im Mittelalter gehörten die Inseln, ebenso wie Griechenland und die heutige Türkei zum Byzantinischen Reich. Griechische Nationalist:innen betrachten Byzanz noch immer als Ursprung des griechischen Nationalstaates.

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Einige Jahrhunderte lang gehörten die Inseln dann zum Osmanischen Reich, einem Imperium und wie wiederum türkische Nationalist:innen sagen: dem Ursprung der heutigen Türkei. Als das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel, witterten die Griechen ihre Chance. Sie wollten ihr Staatsgebiet um die Teile der Türkei erweitern, die im Mittelalter und der Antike griechisch waren. Griechische Nationalist:innen nennen diese Idee von einem Großgriechenland Megali Idea.

Und dann kam es zum Krieg?

Genau, die griechische Armee besetzte 1919 die Westküste der heutigen Türkei und versuchte, bis nach Ankara zu kommen.

Das hat nicht geklappt, nehme ich an, sonst wäre die Türkei heute griechisch.

Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der heutigen Türkei, sammelte Truppen und schlug den griechischen Angriff zurück. Es kam zum Friedensschluss und die Türkei und Griechenland bekamen ungefähr die Grenzen, die sie heute haben.

Also hat man sich doch geeinigt. Wenn es bereits einen Vertrag gibt, warum dann heute der Konflikt?

Es gibt zu viele Verträge – und teilweise widersprechen sie sich. Außerdem interpretiert jede Seite die Verträge zu ihren Gunsten.

1922 nach dem Krieg zwischen der Türkei und Griechenland wurde der Vertrag von Lausanne in der Schweiz geschlossen. Dabei wurden Grenzen gezogen und Menschen umgesiedelt. Muslimische Bewohner:innen Griechenlands wurden in die Türkei umgesiedelt, christlich-orthodoxe Bewohner:innen aus der Türkei nach Griechenland. So wollte man sichergehen, dass es nicht wieder zu einem Krieg kommt.

Und die Inseln?

Die Dodekanes-Inseln in der Ostägäis wurden Italien zugesprochen. 1936 kam der Vertrag von Montreux hinzu, der regelte, dass die besagten Inseln entmilitarisiert werden müssen. Es dürfen dort also keine Truppen stationiert werden.

Bei Italien blieb es aber nicht.

Richtig. Italien verlor den Zweiten Weltkrieg an Deutschlands Seite. Als Teil der Achsenmächte musste Italien Teile seines Territoriums abtreten. Im Jahr 1947 wurden die Inseln deshalb Griechenland zugesprochen und der dritte internationale Vertrag über die Inseln wurde abgeschlossen: der Vertrag von Paris.

Und heute?

Gibt es Streit. Die griechische Seite erklärt, die Entmilitarisierung der Inseln gelte für sie nicht, weil die Inseln zum Zeitpunkt des Vertrags noch zu Italien gehört hätten. Erdoğan hingegen sagt, die griechische Regierung verstoße gegen internationales Recht, weil sie Soldat:innen stationiere. Die Türkei will daher den Vertrag von Lausanne rückgängig machen und neu verhandeln.

Damit die Inseln türkisch werden.

Genau.

Das ist also ein uralter Konflikt. Warum sollte es ausgerechnet jetzt zum Krieg kommen?

Das hat verschiedene Gründe. Expert:innen vermuten, dass Erdoğan den Konflikt absichtlich eskaliert, um sich bei den eigenen Wähler:innen beliebt zu machen. Nächstes Jahr wird in der Türkei gewählt. Und die wirtschaftliche Lage im Land ist nicht gut.

Liegt das an der Inflation, wie bei uns?

Ja. Denn, die liegt dort aktuell bei über 70 Prozent und das sorgt mittelfristig auch dafür, dass Urlaub in der Türkei immer teurer und weniger attraktiv wird. Tourismus ist aber ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für das Land.

Das Säbelrasseln im Mittelmeer könnte also eine Show sein, für Erdoğans Wähler:innen?

Er kramt einen uralten Konflikt aus der Mottenkiste und präsentiert sich als starker Mann. Außerdem kann er damit hohe Militärausgaben rechtfertigen. Das ist aber nur eine mögliche Interpretation.

Welche gibt es noch?

Der Ukraine-Krieg hat die Machtbalance innerhalb der Nato verschoben. Ein Großteil der Militärhilfe, die von den USA in die Ukraine geliefert wird, geht über Militärbasen in Griechenland. Die USA umwerben Griechenland als Partner im Mittelmeer, weil die Türkei zunehmend unzuverlässig geworden ist und mit Russland kooperiert, beispielsweise im Syrien-Krieg.

Erdoğan ist eifersüchtig?

Vereinfacht: Ja. Die USA sind ein starker Partner und die Türkei hätte gerne mehr Waffen von ihnen. Das will aber Griechenland nicht. Im Mai war der griechische Ministerpräsident Mitsotakis in Washington und hat davor gewarnt, die Türkei mit neuen Kampfjets zu versorgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Griechenland diese Jets bekommt. Damit hätte die griechische Luftwaffe einen Vorsprung gegenüber der türkischen.

Das klingt nach einem Wettrüsten.

Ganz genau. Schon im Spätsommer 2020 lagen sich im Mittelmeer türkische und griechische Kriegsschiffe gegenüber und es drohte ein Krieg. Seitdem rüsten beide Seiten massiv auf.

Kommt jetzt ein Krieg oder nicht?

Das ist schwer zu sagen. Einiges an der Situation erinnert an den Ukraine-Krieg. Zum Beispiel Erdoğans Rhetorik. Er sagte: „Wir warnen Griechenland erneut, besonnen zu sein und von Träumen, Rhetorik und Handlungen abzusehen, die es zu Ergebnissen führen könnten, die es bereuen wird – wie es vor einem Jahrhundert geschehen ist.“ Damit meint Erdoğan die Niederlage im türkisch-griechischen Krieg 1922, davon habe ich dir bereits erzählt. Aber es gibt auch einige Gründe, die dagegen sprechen, dass es zum Krieg kommen könnte:

Beide Länder sind in der Nato. Die anderen Mitglieder werden alles daran setzen, dass der Konflikt nicht eskaliert. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat es bisher vermieden, Partei zu ergreifen und erklärte nur, beide Seiten sollten sich zurückhalten. Ein Krieg im Mittelmeer wäre zum aktuellen Zeitpunkt ein echtes Problem für das Bündnis. Auch, weil die Militärhilfe für die Ukraine über Häfen in Griechenland läuft. Das bedeutet: Russland würde von einem Krieg profitieren. Außerdem schwächt es natürlich das Verteidigungsbündnis, wenn zwei Mitglieder im offenen Konflikt miteinander stehen.

Dazu kommt: Bisher schauen die USA dem Treiben zu. Aber beide Länder, die Türkei und Griechenland, wollen US-amerikanische Waffenlieferungen. Die USA könnten also ihren Einfluss geltend machen und ein Machtwort sprechen.

Was macht eigentlich Deutschland?

Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Türkei zur Zurückhaltung aufgerufen und wurde dafür heftig von der türkischen Regierung kritisiert. Außenministerin Annalena Baerbock wollte Anfang Juni eigentlich beide Länder besuchen. Sie hatte sich allerdings in Pakistan Corona eingefangen und musste die Reise abbrechen.

Muss ich mir nun Sorgen machen – oder noch nicht?

Es kann gut sein, dass sich die Lage bald wieder beruhigt. So war es zumindest in der Vergangenheit, wenn sich der alte Konflikt mal wieder hochgeschaukelt hat. Die griechische Seite reagiert bisher sehr besonnen und geht nicht auf die Provokationen ein.


Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Nachtrag, 30.06.2022: In einer vorherigen Version dieses Textes war von der türkischen Ostküste die Rede. Tatsächlich war die Westküste gemeint. Wir haben das korrigiert.

Der griechisch-türkische Inselstreit, verständlich erklärt

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