Ich bins, Isolde. Nach 116 Tagen des russischen Angriffskriegs hat Bundeskanzler Olaf Scholz das Land am Wochenende endlich besucht und ein Versprechen mitgebracht: Die Ukraine soll EU-Beitrittskandidat werden. Ich erkläre dir, was das bedeutet und warum manche EU-Länder das kritisch sehen. Außerdem geht es diese Woche um von Russland besetzte Gebiete in der Ukraine, die Russland mutmaßlich annektieren will.
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Was ist gerade wichtig?
Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Regierungschef Mario Draghi, Bundeskanzler Olaf Scholz und der rumänische Präsident Klaus Iohannis in Anzug und Krawatte Kyjiw besuchten, schafft Putin in der Ukraine einfach Fakten. Russland plant offenbar, sich besetzte Gebiete in der Ukraine einzuverleiben. Damit macht Putin Verhandlungen mit der Ukraine unmöglich, denn Wolodymyr Selenskyj hat bereits klargestellt, dass die Ukraine keine Gebiete an Russland abgeben will. Außerdem könnten Annexionen erhebliche Auswirkungen auf den Ausgang des Krieges haben.
Was hat Russland mit den besetzten Gebieten vor?
Russland will wohl die besetzten Gebiete Cherson und Saporischschja mit den selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zu einem russischen Föderalbezirk zusammenlegen. Das berichtete die russische regimekritische Onlinezeitung Meduza unter Berufung auf drei Quellen, die Wladimir Putin nahestehen. Den Quellen zufolge soll es in den Gebieten Scheinabstimmmungen darüber geben. Als mögliches Datum werde der 11. September diskutiert, an dem in Russland auch Gouverneurswahlen stattfinden.
Russland bereitet die mutmaßliche Annexion bereits vor. In den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk wurden mehrere Regierungsmitglieder durch russische Beamte ausgetauscht, etwa Witalij Chozenko. Der neue Regierungschef von Donezk arbeitete bisher im russischen Ministerium für Industrie und Handel. Stellvertretender Premierminister von Luhansk ist jetzt Wladislaw Kusnezow, der zuvor Vize-Gouverneur des russischen Bezirks Kurgan war.
In den besetzten Gebieten Cherson, Saporischschja und Melitopol gibt Russland seit Wochen Pässe aus. Putin hat extra einen Erlass geändert, um die schnelle Einbürgerung der dortigen Bevölkerung zu erleichtern.
Laut einer Untersuchung des Institute for the Study of War könnte Putin erklären, dass die russische Atomwaffen-Doktrin auch für annektierte Gebiete gilt. Das heißt, er würde diese Gebiete auch mit Atomwaffen gegen einen Angriff verteidigen. Das würde Rückeroberungen durch die Ukraine sehr riskant machen. Derzeit sind Donezk und Luhansk die am heftigsten umkämpften Gebiete.
Die Frage der Woche
KR-Leserin Sabine fragt: „Welche Vorteile und Verpflichtungen sind mit dem Status des EU-Beitrittskandidaten verbunden? Was spricht dagegen, der Ukraine diesen Status zu verleihen? Haben die bisherigen Mitglieder irgendwelche Nachteile dadurch?
Vergangenen Freitag hat sich die EU-Kommission dafür ausgesprochen, dass die Ukraine Beitrittskandidat der Europäischen Union werden soll. Die gleiche Empfehlung sprach die EU auch für die Republik Moldau aus. Damit die beiden Länder wirklich den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommen, müssen die 27 Mitgliedsländer diese Woche zustimmen. Olaf Scholz kündigte in Kyjiw an, sich dafür auszusprechen.
Wenn sich alle EU-Mitgliedstaaten für die Kandidatur entscheiden, stehen viele Jahre der Reformen und Verhandlungen an. Beitrittsländer müssen die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ erfüllen, zum Beispiel eine stabile Rechtsstaatlichkeit aufweisen oder eine funktionierende Marktwirtschaft. Für diesen Prozess ist nicht nur der Beitrittskandidat alleine verantwortlich: Auch die EU unterstützt das Land, hilft beispielsweise bei der Übernahme des EU-Rechts und schickt Geld. Von der Antragstellung bis zum tatsächlichen Beitritt vergehen durchschnittlich neun Jahre.
Manche Mitgliedsländer halten die Entscheidung zwar grundsätzlich für richtig, melden aber trotzdem Bedenken an. Portugal beispielsweise hält den Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine für verfrüht und rein symbolisch. Auch Länder wie Griechenland oder Zypern sind skeptisch, weil sie befürchten, dass sie weniger Fördergelder bekommen, wenn noch weitere finanzarme Länder der EU beitreten.
Viele Skeptiker:innen verweisen auch auf die Korruption in der Ukraine oder die fehlende Rechtsstaatlichkeit. Beispielsweise warnte die EU-Parlamentspräsidentin Katarina Barley vor überstürzten Beitritten. „Wer einmal in der EU ist, kann nicht ausgeschlossen werden“, sagte sie. Dass das problematisch sei, sehe man derzeit am Beispiel Ungarns.
Befürworter:innen hingegen verweisen darauf, dass die Ukraine bereits große Fortschritte gemacht habe und ein Beitritt mehr sei als Symbolik. Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien, sagte in einem Interview, dass die Ukraine damit eine echte Perspektive für die Zeit nach dem Krieg habe. „Mit dieser Perspektive verbindet sich ein großer Anreiz für Reformen und den Wiederaufbau nach diesem Krieg.“
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Die Links der Woche
Viele Länder auf dem afrikanischen Kontinent sind Russland gegenüber positiv eingestellt. Das hängt mit antiwestlichen Gefühlen zusammen, die eine Folge des europäischen Kolonialismus sind. Außerdem richtet sich russische Desinformation auch gezielt an die Bevölkerung in Afrika. Der Guardian hat diesen Zusammenhang in einem Artikel beschrieben und dafür auch mit einem Studenten aus Kongo gesprochen, der jetzt auf der Seite der russischen Armee kämpft.
Wo die deutsche Bundeswehr in Zukunft kämpft, beschreibt mein Kollege Tarek Barkouni in diesem Text. Er setzt sich seit mehreren Wochen in dieser Serie damit auseinander, wie das Sondervermögen die Bundeswehr verändern wird.
Die Hoffnung der Woche
Ralf Fücks ist in die Ukraine gereist und hat diese Frauen getroffen, die Essen für Soldat:innen kochen. Fücks ist Direktor der Denkfabrik „Zentrum Liberale Moderne“ und langjähriger Leiter Heinrich-Böll-Stiftung.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert