Es war ein Moment von großer Symbolkraft: Beflügelt von den hohen Preisen für Öl, Gas und Diesel löste der saudi-arabische Ölkonzern Aramco vor wenigen Wochen die US-Techfirma Apple als wertvollste Firma der Erde ab. Die alte Wirtschaft, die hauptsächlich mit der Verarbeitung von Molekülen beschäftigt ist, dominiert wieder.
Wortwörtlich über Nacht hat der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Angriffskrieg die Welt-Energie-Karte neu gezeichnet. Schiffsrouten, auf denen jahrzehntelang zuverlässig Öl transportiert wurde, sind verwaist. Die deutsche Bundesregierung arbeitet an Prioritätenlisten, sollte das Gas im Land rationiert werden müssen. Gaspipelines und -terminals werden neu geplant, genauso wie neue Batteriespeicher, Windräder und Solarkraftwerke. Deutschlands grüner Wirtschaftsminister Robert Habeck hält ein Embargo auf russisches Öl für handhabbar, will russische Importe bis Mitte des Jahres halbieren; das letzte russische Gas soll Ende 2024 fließen. Und in allen Ecken der Welt hat wieder die Suche nach Öl begonnen, nach dem Rohstoff, von dem sich die Welt in der Klimakrise eigentlich verabschieden muss.
In diesem Text nehme ich dich in sieben Stationen mit auf eine Reise um die (Energie-)Welt. Ich zeige dir kleine Länder, die plötzlich Öl-Großmächte werden, riesige Schiffs-Staus vor der chinesischen Küste und erkläre, warum manche Öl-Händler gerade wie Barkeeper denken müssen.
Deutschland: Wohin reist Habeck als Nächstes?
Vor dem Krieg bezog Deutschland 55 Prozent seines Gases und 35 Prozent seines Öls aus Russland. Diese Quoten sind inzwischen deutlich gesunken. Nach Kriegsbeginn reiste Habeck nach Norwegen, das danach versprach, Wartungsarbeiten aufzuschieben und Genehmigungen zu verlängern, um seine Gasproduktion hochzufahren. Habeck reiste nicht in die Niederlande, die schicken aber auch ohne persönlichen Besuch bald mehr Gas nach Deutschland. Die deutsche Genehmigung, ein Gasfeld in der Nordsee zu erschließen, gabs direkt zurück. Das so erschlossene Gas kommt über vorhandene Pipelines nach Deutschland; so schließt sich der neue Gas-Energiekreis(lauf).
Gleichzeitig werden in den nächsten Jahren an der deutschen Küste schwimmende Erdgas-Tankstellen festmachen, mit denen Deutschland auch Flüssiggas aus der ganzen Welt importieren kann. Das war der Hintergrund für Habecks Besuch in Katar, wo er politische Rückendeckung für neue Gasverträge zwischen der deutschen Wirtschaft und den Emiraten zusicherte.
Beim Öl fällt alles etwas leichter. Denn Öl lässt sich leichter über die Meere transportieren als Gas, das dafür erst mit hohem Energieaufwand verflüssigt werden muss und deswegen eher über Pipelines transportiert werden muss. Große Teile des deutschen Öl-Bedarfs konnten schon vor Kriegsbeginn theoretisch aus anderen Ländern als Russland gedeckt werden. Ein Teil allerdings, ein sehr sensibler, blieb übrig: eine Raffinerie in Brandenburg versorgt die Hauptstadt Berlin mit Diesel, Benzin und Kerosin. Die Anlage in Schwedt gehört dem russischen Staatskonzern Rosneft und wurde bisher zu 100 Prozent mit Öl aus Sibirien über die „Druschba“-Pipeline versorgt. Sollte es zu einem Embargo kommen, würde der polnische Hafen Gdansk Öl aufnehmen, das über die Meere kommt und dann über eine Stichleitung zur Druschba-Pipeline nach Deutschland in diese Raffinerie leiten – die dann mutmaßlich auch verstaatlicht werden würde.
Griechenland: Liebe Nachbarn, braucht ihr Gas?
Griechenland hat viel Küste. Das heißt in unserer neuen Energie-Welt: Griechenland hat viel Platz für schwimmende Flüssiggas-Terminals. Mehrere von ihnen sind in dem Mittelmeerland nun in Planung – genauso wie eine Erweiterung einer Gaspipeline, die aus Aserbaidschan kommt. Diese Pipeline rettet schon jetzt Teile Europas. Denn nachdem sich Bulgarien im April 2022 geweigert hatte, russisches Gas in Rubel zu bezahlen, stellte Russland die Gaslieferungen kurzerhand ein. Versorgt wird das Land nun über Griechenland mit aserbaidschanischem Gas. Ein Novum in der Geschichte: Noch nie war Griechenland für die Energiesicherheit eines anderen Landes verantwortlich. Das Land wird damit für die EU wichtiger, sind doch viele der Nachbarn noch keine EU-Mitglieder. Und die Verantwortung wird noch steigen, sollten die schwimmenden Erdgas-Tankstellen gebaut werden.
Russland: Liebe Welt, wer braucht Öl?
Öffentlich würde Putin nicht darüber sprechen, wie es um die Ölproduktion im Land steht. Und dennoch kann die Welt eine Ahnung davon bekommen: durch Satellitenaufnahmen von den sibirischen Ölfeldern. Auf denen kann man beobachten, wie viel Methan verfeuert wird. Methan ist ein (extrem klimaschädliches) Nebenprodukt der Ölförderung. Die Aufnahmen legen nahe, dass die russische Ölproduktion seit Kriegsbeginn um circa zehn Prozent gesunken ist. Dennoch fördert das Land natürlich weiterhin viel Öl. Bis vor dem Krieg nahm Europa circa 1,8 Millionen Fässer Öl pro Tag aus Russland ab. Dafür braucht das Land neue Märkte – und hat sie vor allem in Asien gefunden.
Dieser Text ist Teil meines Zusammenhangs Das ist die neue Weltordnung nach dem Ukraine-Krieg. Ich werden auch noch einen Blick auf die Rohstoffe werfen, die für die Energiewende nötig sind. Wenn du den nächsten Teil nicht verpassen willst, abonniere hier meinen Newsletter.
Im März kam es zu einer denkwürdigen Weltpremiere. Im Eismeerhafen Murmansk, im hohen Norden Russlands nahe der finnischen Grenze, legte ein Öltanker ab, der einen Monat später in der tropischen Hitze Indiens seine Ladung löschte. Das Öl, das früher nach Europa ging, geht heute fast zur Hälfte nach Indien, ein Teil auch nach China und bei einem anderen Teil weiß man es nicht. Darüber sprechen wir noch.
Theoretisch könnte Russland ein Öl-Embargo Europas also gut verkraften, zumal die Ölpreise mit über 100 Dollar weiterhin sehr hoch sind. Allerdings bekommt Russland sein Öl gerade nur mit einem großen Rabatt verkauft; eine Folge der Sanktionen, die die Zahl der potentiellen Abnehmer drastisch verringert haben. Bis zu 20 Dollar unter Weltmarktpreis. Außerdem muss das Öl ja aus Russland in die weite Welt kommen. Mit Tankern, klar, aber sehr viele Öltanker stehen gerade im Stau vor den Küsten Chinas oder sind bis zu viermal solange auf hoher See unterwegs, um russisches Öl zu den Kunden zu bringen. Die meisten von ihnen mit Öl aus dem Iran und Venezuela an Bord, dümpeln in den Gewässern vor Shanghai und anderen chinesischen Großstädten, weil die Nachfrage in China durch den rabiaten Corona-Lockdown von heute auf morgen zusammengebrochen ist.
Saudi-Arabien, Iran und die Emirate: War was?
In den Ölstaaten des Nahen Ostens dürfte man zufrieden sein. Eine Situation wie heute hatten die Diktatoren der Region lange nicht mehr: extrem hohe Ölpreise bei noch guter globaler Nachfrage. Natürlich könnten die Produzenten dort ihre Förderung erhöhen, so das Angebot ausweiten und den Ölpreis senken. US-Präsident Joe Biden hatte vor allem Saudi-Arabien darum gebeten. Aber das Land lehnte ab. Aus seiner Sicht verständlich.
Sie können jetzt mit der ganzen Welt Geschäfte machen. Europa und der Westen spielen schon lange nicht mehr die große Rolle wie einst. China und Indien sind die wichtigsten Kunden. Und auch zu Russland unterhalten die arabischen Ölstaaten gute Beziehungen – trotz des Krieges und der Sanktionen. Sie beraten sich gemeinsam, wenn es darum geht, die Produktionsmenge zu steuern. Und kaufen sich sogar gegenseitig Öl ab. Raffinieren in den Vereinigten Arabischen Emiraten haben russisches Öl gekauft, um es weiterzuverarbeiten zu Diesel, Benzin und den anderen Produkten. Im Raum steht auch, dass die Ölstaaten vom Golf den russischen Rabatt nutzen, um selbst mehr exportieren zu können. Sie kaufen billigeres russisches Öl, verarbeiten es für den eigenen Bedarf und verkaufen ihr eigenes teurer auf dem Weltmarkt.
Ein Land der Region allerdings muss hier ausgeklammert werden: der Iran. Seit er ein Atomwaffenprogramm begonnen hat, ist das Land kein normaler Ölproduzent mehr. Denn, um den Iran am Bau einer Atomwaffe zu hindern, hat der Westen scharfe Sanktionen erlassen, die auch den Ölsektor des Landes betreffen.
Eigentlich sollten diese Sanktionen bereits Geschichte sein, aber das Abkommen, in dem das geregelt wurde, hatte wiederum Donald Trump kurz nach Amtsantritt gekippt. Was nun zu folgender Situation führt: Der Iran hat viel Öl, könnte laut eigener Aussage die Produktion gar verdoppeln, gleichzeitig allerdings kann der Westen das ohne eine Neuauflage des Abkommens nicht gutheißen.
Direkt nach Beginn des Ukraine-Krieges hatte US-Präsident Joe Biden Unterhändler nach Teheran geschickt, um die Chancen auf einen Deal auszuloten. Aber beide Seiten kamen in den Verhandlungen nicht voran – auch weil die hohen Ölpreise Iran so oder so genügend Einnahmen geben. Hauptabnehmer für sein Öl sind China und Venezuela. Venezuela hält zwar die größten Ölreserven der Erde, braucht aber trotzdem iranisches Öl, um sein eigenes, sehr zähes dickflüssiges Öl damit zu mischen und weltmarktfähig zu machen.
Lettland – oder: Wann ist russischer Diesel eigentlich russischer Diesel?
In dem lettischen Städtchen Ventspils stehen große Ölanlagen, die besonders von der britisch-niederländischen Firma Shell geschätzt werden. In diesen Anlagen soll der Konzern russischen Diesel und andere, zuvor bearbeitete Produkte verarbeiten. Und das, obwohl Shell angekündigt hatte, sich aus Russland zurückziehen. Um das weiterhin behaupten zu können, werden sie zu Barkeepern und mischen den russischen Diesel mit Diesel aus anderer Produktion, und zwar im Verhältnis: 49,99/50,01, die Minderheit stammt aus Russland, die Mehrheit von woanders her. So kann Shell behaupten, dass es kein russischer Diesel sei. Unter Öl-Händlern wurde die Praxis als „Lettische Mischung“ bekannt, was etwas unfair ist, weil der Diesel natürlich quasi überall gemischt werden könnte, auch auf hoher See von Schiff zu Schiff.
Dass so etwas passiert, stützt die These, dass Europa am Ende doch russisches Öl konsumiert – über Umwege eben. Genährt wird diese These von jener Tatsache, die ich bereits weiter oben erwähnte: Die Weltöffentlichkeit weiß nicht, wohin circa ein Drittel von Russlands Ölexporten im Westen geht. Die Europäische Kommission hat das Problem erkannt und ein neues Sanktionspaket vorgelegt, das explizit auch solche Praktiken wie die von Shell unterbinden soll.
Plötzlich Energie-Großmacht: Weißt du, wo Guyana liegt?
Von den Verwerfungen auf dem Energiemarkt profitieren auch Länder, die sonst nicht in den Schlagzeilen auftauchen. Es sind die kleinen Ölproduzenten, die nun ihre Produktion hochfahren können. Länder wie Ghana in Westafrika oder eben Guyana, ein Nachbarland Venezuelas, das bis vor wenigen Jahren kaum Öl förderte und wo innerhalb der letzten sieben Jahre mehr als 30 neue Vorkommen gefunden wurden. Rechnet man die Ölmenge zusammen, die in diesen Vorkommen liegt, steigt Guyana plötzlich zu einer der Top-20-Ölmächte des Planeten auf. Auch andere Länder wie Angola, Kongo oder Algerien werden plötzlich für Europa wichtiger. Der italienische Premierminister Draghi reiste jeweils dorthin, um die Gasversorgung seines Landes von Russland unabhängig zu machen. Italien ist neben Deutschland der größte Abnehmer von russischem Gas.
Endstation: Was bleibt?
Durch den Ukraine-Krieg und die darauf folgenden Sanktionen muss ein Europa, das sich eigentlich auf den Green New Deal, auf die große Energiewende, eingeschworen hat, plötzlich auch wieder auf Öl und Gas konzentrieren. Es baut eine neue fossile Infrastruktur, die noch auf Jahrzehnte hinaus das Klima erhitzen wird. Gleichzeitig sind die ölproduzierenden Länder mächtig wie nie. Produzierten sie mehr, würde der Ölpreis sinken – und damit auch die Inflation in den westlichen Ländern eingedämmt werden, die auch durch die sehr hohen Energiepreise getrieben wird. Was sie am Ende tun, darauf hat der Westen allerdings keinen Einfluss. Allein die USA könnten als größter Ölproduzent der Erde ihre Förderung weiter ausbauen und damit auch die Preise nach unten kriegen. Das wäre allerdings auch wieder ein Pakt mit dem Teufel: Denn niedrigere Ölpreise heute bedeuten mehr Klimakatastrophen morgen. Deswegen zögert die US-Regierung noch mit diesem Schritt.
Dieser Konflikt allerdings, also der zwischen langfristig wichtigem Klimaschutz und kurzfristig wichtigen Energiepreisen, dürfte den Westen noch ein paar Jahre beschäftigen (natürlich ist er nicht neu, doch der Krieg in der Ukraine und die neue Energie-Weltkarte machen ihn relevanter denn je). Genauso wie die Folgen der Öl- und Gas-Milliarden, die da gerade in die Autokratien der Welt überwiesen werden. Manche Länder wie Katar hatten dieses Geld in der Vergangenheit genutzt, um sich eine Fußball-WM zu kaufen. Andere wie Saudi-Arabien finanzierten damit Religionsschulen im Ausland und legten den Grundstein für islamistischen Terrorismus. Wieder andere wie Wladimir Putin zogen, sich von hohen Ölpreisen ermächtigt fühlend, in den Krieg.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger