Während in der Ukraine russische Granaten und Raketen Menschen töten, steht Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Bundestag und hält eine Rede, die Deutschland verändern wird. Es ist der 27. Februar 2022.
Nach 17 Minuten fällt die Zahl, die für Begeisterung im Parlament sorgt: 100 Milliarden Euro verspricht Scholz, für die Bundeswehr auszugeben.
In Deutschland wird wieder aufgerüstet.
Kurz nach der Rede telefoniere ich mit einem Freund, einem ehemaligen Offizier der Bundeswehr. Zwölf Jahre war er bei der Truppe, in Auslandseinsätzen hat er gemeinsam mit anderen Ländern Militärmanöver trainiert. Als ich ihn frage, was er von dem unerwarteten Geldsegen hält, lacht er. „Nur, weil die jetzt vielleicht 100 Panzer in den Hof stellen, kann Deutschland nicht auf einmal besser kämpfen.“
Stimmt das? Ist die Bundeswehr so heruntergekommen, dass selbst diese riesige Summe sie nicht mehr retten kann? Ist Deutschland als Bündnispartner unbrauchbar? Und sind wir vielleicht selbst schuld daran, weil wir uns jahrelang auf den Schutz anderer Länder verlassen haben, die mehr Geld in ihr Militär stecken?
Seit Beginn des Ukraine-Krieges lernen Deutsche viel Neues über die Bundeswehr. Was ein Marder ist, warum wir hunderte Leoparden besitzen und wie eine Panzerabwehrrakete funktioniert. Menschen fragen sich, ob sie in die Reserve eintreten sollen, um im Falle eines Krieges für Deutschland kämpfen zu können. Die Bundeswehr tritt – fast elf Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht – wieder zurück in den Blick der Gesellschaft. Gleichzeitig verstehen viele Menschen jetzt, im Angesicht einer Bedrohung, was eine funktionierende Armee kostet.
Kaum einsatzbereit: die deutsche Armee
In ihrem aktuellen Bericht beschreibt die Wehrbeauftragte Eva Högl, die sozusagen die Schnittstelle zwischen Armee und Bundestag ist, eine erbarmungswürdige Bundeswehr: Die Einsatzbereitschaft vieler Panzer und Transporter habe „teilweise nur knapp 50 Prozent“ betragen. Die Soldat:innen seien teilweise ohne alltägliche Ausrüstungsgegenstände wie Schutzwesten oder Winterjacken in Einsatzgebiete geschickt worden, was „völlig inakzeptabel“ sei. Generell seien nur drei Viertel der Waffensysteme bei der Bundeswehr einsatzbereit, die Kasernen in einem „desolaten“ Zustand. Gerade im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine müsse Deutschland seine Armee dringend modernisieren, damit sie für ihren „Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung“ gerüstet sei, schreibt Högl.
Dieser Text ist Teil der Artikelserie „Was du über die neue Bundeswehr wissen musst“. Im zweiten Teil frage ich Pazifist:innnen, wie sie mit der wiederentdeckten Aufrüstung umgehen. Das willst du nicht verpassen? Dann abonniere hier kostenlos meinen Newsletter.
Wie diese eingeschränkte Einsatzbereitschaft aussehen kann, hat mir ein Soldat erzählt. Der „ATF Dingo“ ist ein gepanzertes Fahrzeug der Bundeswehr, auf dem ein Maschinengewehr befestigt werden kann, das Soldat:innen wiederum aus dem Innenraum mit Joysticks bedienen. Die Soldat:innen sind so bei Gefechten geschützt. Das Problem: „Irgendjemand musste vor dem Gefecht einen halben Liter Öl auf das Magazin kippen, weil sich sonst nach drei Schuss durch Staub und Sand die Munition verhakt hat.“ So wird die gute Idee, Soldat:innen so gut es geht zu schützen, schnell zum Nachteil im Kampf.
In den Schlagzeilen macht die Bundeswehr hauptsächlich eines: scheitern
Auch in den deutschen Medien kommt die Bundeswehr nicht besonders gut weg. Die Presse beschreibt eine gescheiterte Armee, voller Rechtsextremer, ausgestattet mit kaputtem Material, die von unfähigen Politiker:innen geführt wird. Das gespaltene Verhältnis zwischen Medien und Bundeswehr hat übrigens eine so lange Tradition, dass bei der Bundeswehr Presse-Offiziere inoffiziell auch mal „Presse-Abwehr-Offiziere“ genannt wurden.
Einer, den die Bundeswehr nicht abgewehrt hat, ist der Historiker Sönke Neitzel. Er gilt in Militärkreisen als der einflussreichste Militärhistoriker, ist gut vernetzt und schafft es, aus dem Innenleben der Bundeswehr zu erzählen. Sein Buch „Deutsche Krieger“ ist ein Wälzer, in dem er die Entwicklung der deutschen Armeen seit dem Kaiserreich beschreibt. Für die jüngere Vergangenheit ist sein Fazit verheerend: „Trotz aller wohlmeinenden Worte fällt die Bundesrepublik als Motor einer europäischen Verteidigung aus.“
Wo das Problem herkommt, erklärt Pia Fuhrhop. Sie ist Wissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Stiftung berät unter anderem den Bundestag und die Bundesregierung zu Sicherheits- und Außenpolitik. Die Probleme liegen schon in den Grundlagen, sagt sie, im Weißbuch der Bundeswehr. Dort definiert Deutschland, wofür es seine Armee einsetzen will, also was sie können soll, welches Material sie braucht und was Deutschland im Rahmen der NATO einbringen will.
Nicht falsch verstehen: Das Weißbuch ist keine Einkaufs- und To-Do-Liste, in der konkrete Vorhaben stehen, sondern eine Richtlinie. Im Buch stehen zum Beispiel Sätze wie dieser: „Sicherheitsvorsorge ist nicht nur eine staatliche, sondern wird immer mehr zu einer gemeinsamen Aufgabe von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.“
Dass die Formulierungen so unkonkret sind, führt dazu, dass die Ziele und Aufgaben der Bundeswehr sehr diffus sein können und sich teilweise widersprechen, erklärt Fuhrhop: Schon lange passen Auftrag und Finanzierung der Bundeswehr nicht zusammen.
Bereits seit 2014 bekommt die Bundeswehr mehr Geld
Das bedeutet nicht, dass die Bundeswehr zu wenig Geld bekommt. „Seit 2014 hat sich der Haushalt für die materielle Ausstattung der Bundeswehr verdoppelt, ohne dass sich das irgendwie in der Einsatzbereitschaft niedergeschlagen hätte“, sagt Fuhrhop. Tatsächlich lag Deutschlands Wehretat damals weltweit auf Rang 7, noch vor Frankreich, das immerhin Atomwaffen besitzt.
Es sei richtig, anlässlich des Krieges in der Ukraine Geld in die Hand zu nehmen, um die Bundeswehr besser auszurüsten. Das reiche aber nicht: Was die Bundeswehr brauche, seien strukturelle Reformen. „Sonst kann man 100 Milliarden auch ausgeben ohne die gewünschten Ergebnisse zu bekommen“, sagt Furhop. Das liege auch daran, wie bei der Bundeswehr Waffen beschafft werden: Das laufe „dysfunktional“.
Fuhrhop vergleicht die Bundeswehr mit einem Tanker. Sie sei eine große Organisation, die, einmal auf Touren, sehr lange unterwegs ist. Zu schnelle und zu häufige Richtungswechsel könne so ein Tanker nicht durchführen.
Es scheint, dass Geld versickert, ohne dass jemand genau sagen könne, wohin.
Da sind unter anderem die Großprojekte, die erst lange dauern und sich dabei auch stetig verteuern. Ein Beispiel: Die Entwicklung und Bereitstellung des Transporthubschraubers NH90TTH hat über elf Jahre länger gedauert als geplant und dabei 32 Prozent mehr gekostet. Um ein neues Gewehr zu kaufen, musste sich das Bundesverteidigungsministerium gerade durch zwei Gerichtsverfahren quälen, weil die Ausschreibung nicht rechtens war.
Darin sieht Armin Wagner, der Oberst, ein großes Problem: Anstatt zu handeln, kämpfen viele Soldat:innen mit administrativen Fallstricken, ständig wechselnden Vorschriften und Forderungen aus der Politik. Wer in einer Dienststelle arbeite, sei ständig damit beschäftigt, darauf zu achten, dass alle immer rechtens und regelkonform handeln. Die Grundstimmung sei: „Pass auf, das könnte der Karriere schaden.“ All das führe dann dazu, dass aus der Bundeswehr eine „unselbstbewusste Armee“ werde. „Man ist in einem ständigen Entschuldigungsmodus. Mir fehlt da manchmal eine gewisse Gelassenheit“, sagt er.
Nicht nur Geld fehlt, auch Anerkennung
Aber nicht nur über fehlende finanzielle Ausstattung beschweren sich die Soldat:innen, mit denen ich gesprochen habe. Vielen fehlt ein Gefühl der Anerkennung. Sie fühlen sich von der Gesellschaft schelcht behandelt. „Soldaten sind Mörder“, schrieb Kurt Tucholsky 1931. Der Satz löste seit Gründung der Bundesrepublik regelmäßig bundesweite Debatten und Rechtsstreitigkeiten aus. Noch 2010 wurde der Journalist Thies Gleiss, der auch Linken-Politiker ist, zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er in einem Zeitungsartikel in der jungen Welt Soldat:innen mit Mörder:innen verglich. Zwar wurde er später freigesprochen, die Aussage des Gerichts aber war klar: Die Gesellschaft sollte deutsche Soldat:innen besonders respektvoll behandeln, Beleidigungen verbitten sich.
Gerne ziehen Kommentator:innen den Vergleich zu den USA, wo Veteran:innen und Uniformierten Sitzplätze im Bus freigemacht werden, sie Essen ausgegeben bekommen. Wo der Satz „Thank you for your service“ – Danke für deinen Dienst – vielen Menschen leicht über die Lippen geht.
In Deutschland ist das anders: Soldat:innen berichten immer wieder von Angriffen, verbal oder körperlich, wenn sie in Uniform unterwegs sind. Mal ist es der Schubser in der Bahn, mal die gemurmelte Beleidigung. Auch zielgerichtete gewaltsame Angriffe auf Soldat:innen, wie etwa fliegende Glasflaschen, hat es schon gegeben. Die Fronten sind klar: Hier die Soldat:innen, die sich für Deutschland opfern würden – dort die Zivilist:innen, die das nicht zu schätzen wissen.
Das Problem: Ganz so einfach ist es nicht. Man kann nicht grundsätzlich sagen, dass die Deutschen den Soldat:innen skeptisch gegenüber eingestellt sind. Im Gegenteil: Das Ansehen der Bundeswehr steigt sogar.
Es gibt nicht nur Zweifel: Viele Deutschen finden ihre Bundeswehr wichtig
Untersuchungen über einen langen Zeitraum zeigen, dass es auch große Anerkennung für die Leistungen der Bundeswehr gibt – besonders für Einsätze im Inland. Als zum Beispiel Soldat:innen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal oder bei der Bekämpfung des Corona-Virus halfen, gab es einen messbaren Anstieg des Ansehens.
In einer aktuellen Untersuchung halten gerade einmal elf Prozent der Deutschen die Bundeswehr für unwichtig. Nur acht Prozent nehmen die Bundeswehr im Alltag negativ wahr. Verlässliche Umfragedaten belegen, dass seit mehr als zehn Jahren mehr als 75 Prozent der Deutschen der Bundeswehr gegenüber positiv eingestellt sind. Das ist auch im europäischen Vergleich Durchschnitt.
Armin Wagner ist Oberst der Bundeswehr und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Auch er glaubt nicht an eine breite Ablehnung der Bundeswehr in der Bevölkerung. Es gebe aber sehr wohl einen besonderen Anspruch der Bundeswehr: „Die Soldaten wollen geliebt werden.“
Wer Soldat:in wird, muss damit rechnen, sich im äußersten Fall für Deutschland töten zu lassen oder selbst zu töten. In keinem anderen Job ist das so, außer vielleicht in Ausnahmefällen bei der Polizei. „Vielleicht sollten Soldaten gelassener werden, was die Suche nach Anerkennung und Wertschätzung angeht“, sagt Wagner.
Mehr historisches Bewusstsein der Deutschen würde helfen
Was hingegen im Umgang der Deutschen mit der Bundeswehr fehle, sei ein historisches Bewusstsein. Wagner macht das an einem Beispiel fest. 2008 ist der letzte deutsche Soldat, der im ersten Weltkrieg gekämpft hat, gestorben. Er hieß Erich Kästner, wie der gleichnamige Schriftsteller. Mit ihm starb eine Generation, die in einem Weltkrieg gekämpft hat, der als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gilt. Eine Generation, die mit eindrücklichen Schilderungen vom Leiden der Soldat:innen aus den Schützengräben heraus die deutsche Antikriegsliteratur geprägt hat. Kästner starb von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet.
Dass sein Tod überhaupt bekannt wurde, liegt an einer Reihe von Zufällen: Die Neue Zürcher Zeitung meldete den Tod von Kästner in einer kurzen Meldung, woraufhin auch andere Medien berichteten. Eine staatliche Würdigung gab es nie. Anders in Frankreich, wo der vorletzte Veteran Louis de Cazenave in einem Staatsakt beerdigt wurde. Staatspräsident Nicolas Sarkozy sagte damals: „Sein Tod ist Anlass für uns alle, an die 1,4 Millionen Franzosen zu denken, die ihr Leben in diesem Konflikt gaben, an die 4,5 Millionen Verwundeten, an die 8,5 Millionen Einberufenen.“
Der Umgang mit dem Tod von Erich Kästner zeige ein fehlendes historisches Bewusstsein, sagt Wagner. „Es geht hier nicht um Wertschätzung der Epoche als solcher, aber ein Gefühl dafür, dass wir einem historischen Kontinuum leben.“
Das bedeutet nicht, dass Deutschland demnächst wieder Militärparaden vor dem Brandenburger Tor veranstaltet oder Soldat:innendenkmäler aufstellt. Die Bilder aus dem Krieg in der Ukraine demonstrieren aber sehr deutlich, wie nah Krieg auch nach 77 Jahren Frieden in Deutschland sein kann.
Die 100 Milliarden von Scholz bedeuten vor allem: Arbeit
Wie geht es also jetzt weiter? Die Wunschliste des Militärs ist lang: Neue Schiffe, neue Flugzeuge und gepanzerte Fahrzeuge sollen her. Dafür bekommt sie demnächst sehr viel Geld.
Das ist eine gute Nachricht, sagt Fuhrhop. Nicht unbeding wegen der Neuanschaffungen. Sie erwartet viel eher eine sachlichere Diskussion: „Lange waren die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine Zahl im Schaufenster. In dieser Diskussion waren wir politisch verhaftet.“
Jetzt, wo diese zwei Prozent fürs Militär erreicht werden, ist die Diskussion vorbei und niemand kann mehr sagen, Deutschland gebe zu wenig für die eigene Verteidigung aus.
Ob wir demnächst konstruktiver über die Bundeswehr streiten, liegt auch in der Hand des Ministeriums. Fast 300.000 Mitarbeiter:innen hat die aktuelle Ministerin Christine Lambrecht. Es gibt also jede Menge Menschen, die sagen können, was falsch läuft.
Der Anspruch, der an Verteidigungsminister:innen gestellt wird, ist riesig. Es sei vermutlich das schwierigste Amt in der Regierung, sagt Wagner. „Man soll wie Georg Leber ‚Soldatenvater‘ sein. Man soll wie Helmut Schmidt der große sicherheitspolitische Denker sein.“
Das Verteidigungsministerium gilt als „Schleudersitz“ für Politiker:innen. Skandale gibt es viele. In einem der größten Apparate der deutschen Politik sind sie fast unvermeidlich. Ein „Schwarzer-Peter-Spiel“, nennt das die Politologin Fuhrhop. Regierung, Parlament, Industrie und Bundeswehr stehen sich gegenüber und schieben sich die Schuld zu, für Arbeitsgerät, das nicht oder zu spät geliefert wird. Dabei seien manche Interessen einfach unvereinbar: Beispielsweise die deutsche Verteidigungsindustrie zu schützen und gleichzeitig europäisch gemeinsame Projekte zu entwickeln.
Das Geld, das Bundeskanzler Scholz versprochen hat, bedeutet also vor allem: Arbeit. Vielleicht führt es dazu, dass zukünftig sachlicher diskutiert wird, wenn es um die Truppe geht. Und die Deutschen ihre Truppe besser verstehen lernen.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger.