Eine kleine Geste hat gereicht, das ganze Ausmaß einer rumkumpelnden, männlich kultivierten Selbstgefälligkeit im politischen Daily Business in Deutschland zu zeigen: Bei der Generaldebatte im Bundestag am 23. März diskutierten die Abgeordneten über das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz forderte, das Geld nicht für „feministische Außenpolitik“ auszugeben. Ähnlich hatte sich zuvor bereits CSU-Politiker Alexander Dobrindt geäußert.
Anschließend trat Annalena Baerbock ans Mikrofon. Merz’ Aussage breche ihr das Herz, erklärte die Außenministerin. Und Merz nutzte diesen Moment, um sich theatralisch ans Herz zu fassen – und damit ihre ganze Rede zu veralbern. Hätte er gewusst, worauf Baerbock im Anschluss zu sprechen kommen würden, hätte er sich diese Geste wohl (hoffentlich) gespart.
Denn Baerbock erklärte, sie sei eine Woche zuvor bei den „Müttern von Srebrenica“ gewesen. Das ist eine Opfervereinigung von Überlebenden des Völkermords von Srebrenica, bei dem bosnisch-serbische Milizen im Juli 1995 Tausende Menschen ermordeten. Die Mütter, so Baerbock, hätten ihr von den damaligen systematischen Kriegsvergewaltigungen erzählt – und wie sich diese bis heute in ihr Leben schreiben. Aber: Vergewaltigung wurde damals nicht als Kriegswaffe anerkannt.
„Deswegen gehört zu einer Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts auch eine feministische Sichtweise. Das ist kein Gedöns“, erklärte Baerbock.
Und sie hat Recht.
Ob in Bosnien oder Syrien, im Kongo, oder Südsudan: In Kriegen und bewaffneten Konflikten werden Frauen gezielt missbraucht, vergewaltigt, verschleppt, verstümmelt und versklavt. Es gibt unzählige Zeugenaussagen aus aller Welt, die die Grausamkeit und die Systematik dieser Gewalt offenbaren. Auch in der Ukraine mehren sich derzeit die Berichte über Vergewaltigungen. Gegenüber der New York Times sagte die ukrainische Anwältin Kateryna Busol: „Mir wurden Vorfälle von Gruppenvergewaltigungen, Vergewaltigungen vor Kindern und von sexueller Gewalt nach der Tötung von Familienmitgliedern geschildert.“
In diesem Bericht der Times erzählt eine Ukrainerin, wie zwei russische Soldaten zuerst ihren Mann erschossen und sie anschließend mehrfach vergewaltigten – während ihr junger Sohn im Nebenraum ausharrte. „Beide haben mich nacheinander vergewaltigt. Es war ihnen egal, dass mein Sohn im Heizungsraum nebenan weinte. Sie sagte, ich solle rübergehen, ihn zum Schweigen bringen und zurückkommen. Die ganze Zeit über hielten sie mir die Pistole an den Kopf und haben sich über mich lustig gemacht“, berichtet die Frau unter dem Pseudonym Natalya.
Sexualisierte Gewalt ist eine Kriegswaffe
Das ist kein Gedöns. Und das ist auch nicht einfach das bedauerliche Nebenprodukt eines grausamen Angriffskrieges. Es hat System. Und es dient einem Zweck.
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2008 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1820. Darin stellt das Gremium fest, „dass Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine die Tatbestandsmerkmale des Völkermords erfüllende Handlung darstellen können.“
Dass sexualisierte Gewalt nun auch international als Kriegswaffe anerkannt wird, ist auch den „Müttern von Srebrenica“ zu verdanken, die die massenhaften Vergewaltigungen seit den Neunzigerjahren öffentlich thematisierten. Und unermüdlich für Konsequenzen kämpften. Zuvor – und das ist leider meist bis heute so – folgten küchenpsychologische Erklärungen für Kriegsvergewaltigungen oft dem selben Schema: Außer Kontrolle geratene, berauschte Männer hätten ihre „Triebe“ einfach nicht unter Kontrolle.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn die Verantwortung bei animalischen Einzelpersonen liegt, braucht es kein weiteres Nachdenken über die Verantwortung der Gruppe – und über das System dahinter.
Das ist einfach. Und es ist Schwachsinn. Denn Kriegsvergewaltigungen folgen einer Logik. Das hat unter anderem die Sozialwissenschaftlerin Ruth Seifert nach den Massenverbrechen der 1990er Jahre in den Jugoslawienkriegen erforscht.
Während sexualisierte Gewalt in der Regel der „Aufrechterhaltung eines Macht- und Herrschaftsverhältnisses zwischen den Geschlechtern“ diene, schreibt Seifert in ihrem Aufsatz „Vergewaltigung im Krieg“, kämen in Kriegszeiten weitere Funktionen hinzu: „Hier dienen Vergewaltigungen der Ausgrenzung des anderen, der Zerstörung der symbolischen Grenzen der anderen Ethnie oder Nation, der kulturellen Vernichtung der anderen Gruppe und der Herstellung einer Hierarchie unter den männlichen Kriegsgegnern“, schreibt sie.
Seiferts Argument ist im Grunde, dass die Attacke auf den weiblichen Körper mit Bedeutung aufgeladen ist: Sie gleicht einem symbolischen Vernichtungsfeldzug gegen die gegnerische Gruppe. Und dieser Vernichtungsfeldzug vereint gleich mehrere kulturzerstörende Funktionen in sich.
Kriegsvergewaltigungen erfüllen vier Funktionen.
Erstens: Kriegsvergewaltigungen isolieren die Betroffenen
Das Stigma der Tat bleibt am Opfer haften, nicht am Täter. Denn sexualisierte Gewalt ist ein Tabu. Die meisten Betroffenen schweigen aus Scham. Und ihr Umfeld tut das Gleiche. Das macht die Verbrechen nicht nur unsichtbar, die Betroffenen werden auch allein gelassen und ausgegrenzt. Das gilt insbesondere dort, wo die vermeintliche „Reinheit“ von Frauen eine große Rolle spielt. Oft genug wird den Betroffenen dann auch noch die die Schuld am Geschehenen zugeschrieben, ihr Umfeld ächtet, isoliert und missachtet sie. Deshalb sind systematische Vergewaltigungen als Kriegswaffe so effektiv: Sie verletzten die Einzelperson – und zerstören gleichzeitig die ganze Gruppe.
Zweitens: Körper sind Symbole
Das gilt auch im Krieg. Ein einfaches Beispiel: Ein Soldat, der bereit ist, für seine Gruppe zu töten und zu sterben, repräsentiert diese Gruppe mit seinem Körper. Er stellt das eigene Fleisch und Blut den Dienst der Gemeinschaft mitsamt ihrer Ideen und Ideologien. Durch die Attacke auf den Soldaten wird deshalb – logischerweise – auch seine Gruppe angegriffen. Seine Vernichtung dient der Vernichtung des Gegners.
Seifert sagt: Auch der weibliche Körper ist in der Symbolwelt des Krieges mit Bedeutung aufgeladen. Denn Frauen sind meist diejenigen, die sich in Kriegszeiten um Familie und Gemeinschaft kümmern: Will man eine Kultur vernichten, dann ist die Position der Frau – und ihre zentrale Rolle in Familie und Gemeinschaft – ein wichtiges Angriffsziel. Sie symbolisiert gewissermaßen Volk und Nation. Die systematische Vergewaltigung von Frauen einer bestimmten Gruppe müsse man demnach auch als „symbolische Vergewaltigung des Volkskörpers“ verstehen. Also als Attacke auf die ganze Gruppe.
Drittens: Vergewaltigungen verbünden die Angreifer
Sexualisierte Gewalt gegen Frauen schafft laut Seifert auch eine Art „Solidargemeinschaft“ unter den Attackierenden.
Das gemeinsame Verbrechen, die Zeugenschaft und das Mitwissen schweißt zusammen. Der Angriff trägt zur Etablierung der eigenen Gruppenidentität unter den Tätern bei.
Viertens: Kriegsvergewaltigungen zielen auch auf die Männlichkeitsidentität der Gegner
Das Gefühl, die „eigenen“ Frauen nicht beschützen zu können, soll demütigen und entmännlichen. Zeigt man den gegnerischen Männern so die eigene Unterlegenheit auf, schwäche das die Kampfmoral, so die Annahme. Das bedeutet: Männer kommunizieren im Krieg mitunter über die Körper verwundeter und vergewaltigter Frauen. Das ist auch wichtig, um öffentliche Vergewaltigungen zu verstehen: Sie sollen den Männern des Feindes die eigene Machtlosigkeit und Unterlegenheit aufzeigen.
Sexualisierte Gewalt in Kriegen und Konflikten dient also der kollektiven Erniedrigung des Feindes. Sie verletzt und verstümmelt, traumatisiert und isoliert Einzelne – und zielt gleichzeitig auf die Demütigung einer ganzen Gruppe. Und letztlich der Vernichtung einer gesamten Kultur.
Klar ist: Je nach Situation unterscheiden sich die Strategien und Funktionen. Die Geschlechterordnung in Friedenszeiten spielt dabei genauso eine Rolle wie die Art des Krieges.
Aber klar ist auch: Feministische Sicherheitspolitik ist kein realitätsfernes Projekt eines Soziologie-Hauptseminars. Es ist der Versuch, geschlechtsbezogene Unterschiede in Kriegen und Konflikten anzuerkennen und mitzudenken – um alle Menschen entsprechend ihrer Bedürfnisse vor Gewalt zu schützen.
Nein. Das ist kein Gedöns.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert