Am 31. Dezember 1993 veröffentlicht die Tageszeitung Neues Deutschland die Kurzbesprechung zu einer Fernsehdokumentation im WDR. Es geht darin um deutsche Firmen, die in Russland investieren wollen und deshalb nach St. Petersburg gereist sind. Zu diesem Zeitpunkt ist das neue Russland erst zwei Jahre alt, es ist der Fortsetzerstaat der Sowjetunion. Der russische Präsident Boris Jelzin versucht sich an einer marktwirtschaftlichen Öffnung seines Landes. Es herrscht Aufbruchsstimmung.
An die Stelle der Sowjetunion ist die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) getreten, bestehend aus Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan. Der Kalte Krieg ist allgemein für beendet erklärt worden. Das bis dahin größte Land der Erde, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz: UdSSR, ist in einen Fortsetzerstaat und mehrere Nachfolgestaaten zerfallen. Dazu die drei unabhängigen baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen, die mit der GUS nichts zu tun haben wollen. Wie genau es nun politisch, gesellschaftlich, militärisch und wirtschaftlich weitergeht, steht in den Sternen. Der deutsche Generalkonsul und die Vertreter ausgesuchter deutscher Unternehmen wittern jedenfalls die Chance auf ein gutes Geschäft.
Laut dem Bericht im Neuen Deutschland sitzen die Wirtschaftsvertreter, unter anderem von Dresdner Bank, BASF und Alcatel, an diesem Silvesterabend im ehemaligen DDR-Generalkonsulat in St. Petersburg und hören dessen zweitem Bürgermeister bei seinem Vortrag zu. Ob sich die hohen Herren darüber gewundert haben, dass nur der zweite Bürgermeister zu ihnen spricht, ist nicht überliefert. Er sei derjenige, der für die Außenbeziehungen St. Petersburgs verantwortlich ist.
Dieser zweite Bürgermeister äußert in seinem Vortrag ganz offen, dass ihm eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild vorschwebt. Er unterscheidet zwischen „notwendiger“ und „krimineller“ Gewalt. Notwendig ist Gewalt für ihn, wenn sie private Kapitalinvestitionen schütze. Kriminell, wenn man mit ihr die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse herbeiführen wolle. Der zweite Bürgermeister erklärt zudem seine ausdrückliche Unterstützung für den Fall, dass Boris Jelzin das Militär zur Errichtung einer Diktatur anweisen wolle. Als Vorbild dient ihm der chilenische Gewaltherrscher Augusto Pinochet. Die deutsche Delegation, das wiederum ist im Zeitungsartikel deutlich vermerkt, reagiert auf diese verstörende Rede mit freundlichem Beifall.
Dieser Bürgermeister, das mag an dieser Stelle nicht mehr überraschen, ist Wladimir Putin.
Ich habe beim Neuen Deutschland, für das ich früher eine Kolumne geschrieben habe, angerufen, weil ich nicht glauben konnte, dass dieser Artikel echt ist. Ist er aber. In gewisser Weise ist der gesamte Fortgang der postsowjetischen Welt, die russische Innenpolitik, die russische Außenpolitik, das Machtstreben Putins und das deutsche Versagen im Umgang mit ihm in dieser kurzen Zeitungsmeldung angelegt.
Wie Putin Stärke versteht? Militärisch!
Die Geschichte der späten Sowjetunion und des frühen Russlands ist geprägt von deren Schwäche. Im Jahr 1986 ereignet sich die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl und legt den technologischen Rückstand und die politischen Verwerfungen innerhalb der Sowjetunion offen. Im Jahr 1989 geht der zermürbende Kampf in Afghanistan verloren und die hochgerüstete Sowjetunion muss sich militärisch den Mudschaheddin geschlagen geben. Durch die hohen Militärausgaben, die Abhängigkeit vom Ölpreis und eine vollkommen ineffiziente Wirtschaft bleiben in den Läden viele Regale leer. Es grassieren Korruption und Alkoholismus.
Doch es gibt Hoffnung: Die von Michail Gorbatschow angestoßenen Reformen Perestroika (Umbau) und Glasnost (Transparenz) sollen die sowjetische Wirtschaft modernisieren, ausländisches Kapital zuführen und freie Kritik innerhalb und außerhalb der KPdSU ermöglichen. Anstatt aber die Sowjetunion zu stabilisieren, beschleunigen sie Reformbestrebungen und Unabhängigkeitsbemühungen. Im Jahr 1991 wird Gorbatschow vor laufender Kamera von Boris Jelzin entmachtet, der erst die KPdSU innerhalb des russischen Teils der Sowjetunion verbietet und später deren Ende besiegelt.
Die Sowjetunion ist tot. Russland ist schwach. Boris Jelzin ist der neue starke Mann.
Das allerdings bleibt Jelzin nicht lange. Auch er versucht sich an Reformen, öffnet Russland gegenüber der Welt und dem freien Markt. Als er Teile der Wirtschaft privatisiert, profitieren vorrangig skrupellose russische Unternehmer, die während der Sowjetzeit durch den Schmuggel und Handel illegaler West-Produkte zu Geld gekommen sind. Sie kaufen nun wertvolle Staatsunternehmen auf und machen sich das Chaos der postsowjetischen Ära mithilfe von Schmiergeld- und Schutzgeldzahlungen zunutze. Es ist die Geburtsstunde der gut vernetzten und politisch einflussreichen Oligarchen.
So bleibt Russland auch unter Boris Jelzin schwach. Auf die Verfassungskrise folgt die Rubelkrise, die Inflation ist kaum zu bändigen. Zwischenzeitlich droht die russische Teilrepublik Tschetschenien mit Abspaltung. Im Jahr 1998 ist Russland zahlungsunfähig. Kurze Zeit später folgt die Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO.
All dies findet Wladimir Putin vor, als er im Jahr 1999 von Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannt wird.
Putin hat den Untergang gleich mehrerer Staaten miterlebt. Im Jahr 1989 wird er im Rahmen seines deutschen Auslandseinsatzes Zeuge, wie ostdeutsche Demonstranten die DDR zu Fall bringen. Zwei Jahre später geht seine sowjetische Heimat unter, nun steht auch sein Fortsetzerstaat Russland am Abgrund. Putin hat gesehen, wie Staatsführungen scheitern. Er selbst möchte es fundamental anders machen.
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Im Jahr 2000 tritt Jelzin zurück. Putin wird Staatspräsident. Und der hat Glück. Hohe Gas- und Ölpreise führen zu ökonomischem Aufschwung. Seine Wirtschaftsreformen locken ausländische Investoren ins Land. Allein deutsche Unternehmen beschäftigen aktuell 280.000 Menschen in Russland. Neben den wirtschaftlichen Reformen treibt Putin vor allem einen Umbau des Staatsapparates und den Ausbau des Militärs voran. Er entwickelt die sogenannte Vertikale der Macht. Man kann sich diese Entscheidungsstruktur buchstäblich wie einen Strich auf einem Blatt Papier vorstellen: Oben ist Putin, der eine Direktive erlässt. Diese Direktive wandert ohne Zwischenschritte und Kontrollinstanzen nach unten, bis sie an das untere Ende des Strichs gelangt, wo die Direktive ohne Verzug und Veränderung ausgeführt wird. Möglicherweise wäre das passendere Wort dafür nicht „Direktive“, sondern „Befehl“. Und auch „Staatsapparat“ ist ein eher freundlicher Begriff. Politologen sprechen im Umgang mit Putin von „gelenkter Demokratie“. Die ersten Stimmen nehmen bereits das Wort „Militärdiktatur“ in den Mund, womit wir wieder am Anfang wären.
Putins erster Krieg: Einmarsch in Tschetschenien
Als Putin an die Macht kommt, tobt der Jugoslawien-Krieg, tschetschenische Separatisten greifen die russische Republik Dagestan an und eine Serie von Bombenanschlägen auf russische Wohnhäuser erschüttert das gesamte Land. Putin nimmt dies noch im Jahr seines Amtsantritts zum Anlass, den tschetschenischen Separatisten, die er für die inneren Unruhen verantwortlich macht, den Krieg zu erklären. Zum zweiten Mal also nach 1994 befindet sich Russland mit Tschetschenien im Krieg. Putin lässt sich während des Militäreinsatzes in einem Kampfjet ablichten, mit dem er die Stadt Grosny besucht. Seine Beliebtheitswerte steigen, auch wenn es zehn Jahre dauert, bis Russland in Tschetschenien die Hoheit erringt und den russlandtreuen Vasallen Ramsan Achmatowitsch Kadyrow installiert.
Am 25. September 2001, acht Jahre nachdem der zweite Bürgermeister Putin zu deutschen Wirtschaftsvertretern sprach, spricht nun der russische Staatspräsident Putin zum deutschen Parlament. Er spricht in fließendem Deutsch. Ihm gegenüber sitzt Bundeskanzler Gerhard Schröder. Eine Reihe weiter hinten sitzt der damalige Fraktionsführer von CDU/CSU Friedrich Merz und noch eine Reihe weiter hinten die damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel.
In seinen Reden beschwört Putin Russlands territoriale Integrität
Putins Rede ist eine Art Liebesbekundung an Deutschland. Putin spricht über die deutsche Kultur, die Schönheit der deutschen Sprache und würdigt den „Geist der Freiheit und des Humanismus“. Er spricht viel über die europäische, deutsche und russische Geschichte, erwähnt die ersten Germanen in Russland. Als er die besondere Rolle der Frauen in der russischen Geschichte erwähnt, erntet er „Heiterkeit und Beifall“ vom deutschen Publikum. Aber an einer Stelle wagt er einen Bruch. Er sagt:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“
In freundlichen Worten fordert Putin an dieser Stelle nichts weniger als die Abwendung Europas von den USA und eine Hinwendung zu Russland. Dass er unverblümt von „territorialen Ressourcen“ und „Verteidigungspotenzialen“ spricht, erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse als düsteres Vorzeichen.
An anderer Stelle verbindet er die Separatisten in Tschetschenien gedanklich mit den Terroristen des 11. Septembers. Er spricht über internationalen Terrorismus, Fundamentalismus und das sogenannte Kalifat. Es ist nicht besonders schwer zu entschlüsseln, was Putin mit diesen Worten bezweckt: Russland unterstützt Europa im Kampf gegen den islamistischen Terror, sofern Europa Russland in seinem Krieg gegen Tschetschenien beisteht.
Er spricht auch über das schwierige Verhältnis zur NATO. Über die Forderungen an Russland, über seinen Wunsch nach einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Er klingt besonnen und zuversichtlich. Der Kalte Krieg sei vorbei, das „lebendige Herz Russlands“ sei für eine „vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet“.
Sechs Jahre später, bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007, ist es vorbei mit dem geöffneten lebendigen Herzen. Putin macht bereits zu Beginn seiner Rede deutlich, dass er keine Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten nehmen werde. Er unterstellt den USA das Streben nach ungezügelter Macht und eine Verachtung für das Völkerrecht. Die militärischen Stellungen der NATO in Osteuropa würden Russland förmlich dazu zwingen aufzurüsten, um sich gegen die Provokationen des Westens zu verteidigen. Im Kalten Krieg habe immerhin ein „Kräftegleichgewicht zwischen den Weltmächten“ geherrscht, das den Frieden gesichert habe. Das Modell einer monopolaren Weltmacht sei nicht weiter hinnehmbar. Es klang wie eine Warnung. Heute wissen wir: Es war eine Drohung.
Man muss aufpassen, dass die Küchenpsychologie nicht die Oberhand gewinnt, wenn man versucht Putin und seine Motive zu ergründen. Zweifelsfrei aber lässt sich feststellen, dass sich Wladimir Putin in seinen Entscheidungen von einer Demonstration der Stärke leiten lässt.
Stärke, das muss man in diesem Zusammenhang möglicherweise hervorheben, versteht Putin als „Hard Power“. Ein Konglomerat aus militärischer Truppenstärke, territorialer Größe und Wirtschaftskraft. Ein Führungsprinzip nach Befehl und Gehorsam, das nach althergebrachter Denkart Einfluss und Macht verleiht. Der Westen hingegen hat sich, zumindest vordergründig, lange Zeit um die sogenannte „Soft power“ bemüht. Weltpolitische Konflikte sollten mit Handel und Wirtschaftsbeziehungen gelöst werden. Es sollte geredet anstatt geschossen werden. Die Idee, dass mit dem Ende des Kalten Kriegs zwischen Russland und dem Westen nun Transparenz, Öffnung, Annäherung und Kompromiss möglich sein würden, war lange Zeit die vorherrschende Erzählung. Nur war es eben vor allem die Erzählung des Westens – nicht die von Wladimir Putin.
Putin, das wird spätestens mit seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz überdeutlich, hält alles das für Schwäche. Putin sucht keine Verständigung, sondern provoziert und demonstriert militärische Schlagkraft. Der Tschetschenienkrieg scheint ihm Recht zu geben – im eigenen Land wächst der Rückhalt. Nicht nur steigen seine Beliebtheitswerte, er kann mithilfe seiner militärischen Interventionen auch seinen Einfluss im Staatsapparat festigen.
Im Jahr 2002 bezeichnet die UN die tschetschenische Stadt Grosny als die am schwersten zerstörte Stadt der Welt. Die Zahl der Todesopfer in den beiden Tschetschenienkriegen wird zwischen 100.000 und 200.000 geschätzt. Experten bezeichnen diese Kriege als die „schlimmsten Gewaltereignisse im postsowjetischen Raum“. Der unerbittliche Umgang Russlands mit den Unabhängigkeitsbemühungen seiner autonomen Republiken wie beispielsweise Tschetschenien, Dagestan oder Tatarstan steht im direkten Gegensatz zu seinem Umgang mit den Separatisten in den Nachbarländern.
Putin rückt vor: Georgien, die Krim, die Ost-Ukraine und schließlich das ganze Land
Nachdem sich Anfang der 1990er Jahre die beiden georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien von Georgien lossagen und ihre Unabhängigkeit erklären, unterstützt Russland die Separatisten finanziell, politisch und militärisch. Anfang der 2000er Jahre gibt Russland russische Pässe an die Bewohner der abtrünnigen Gebiete aus, bis im Jahr 2008 nahezu alle Abchasen und Südosseten die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Auf den Versuch Georgiens die Grenzgebiete militärisch zurückzuerobern, erklärt der damalige russische Präsident und Putin-Vertraute Dmitrij Medwedew, dass Russland seinen Staatsbürgern beistehen werde. Was er damit meint, verdeutlicht er zwei Sätze später. Der Tod russischer Mitbürger soll nicht ungestraft bleiben. Und die Schuldigen sollen bestraft werden. Putin setzt es in die Tat um: Russland beginnt militärisch gegen Georgien vorzugehen und bringt nach nur wenigen Tagen Abchasien und Südossetien unter seine Kontrolle. Am 26. August 2008 erkennt Russland Abchasien und Südossetien als eigenständige Republiken an.
Das Muster ist mittlerweile klar: Unterstützung der Separatisten, Ausgabe russischer Pässe, „humanitäre Intervention“ zur Rettung russischer Staatsbürger, Anerkennung der Separatistengebiete. Ein Vorgehen, das sich bewährt – und in der Ukraine wiederholt.
Im Jahr 2014 weigert sich die ukrainische Regierung unter ihrem pro-russischen Präsident Viktor Janukowitsch überraschend, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben. Daraufhin finden überall im Land Massenproteste statt, die von ukrainischen Sondereinheiten blutig niedergeschlagen werden. Der Druck der sogenannten Maidan-Proteste führt trotz aller staatlichen Repression zum Rücktritt der gesamten Regierung und zur Flucht des ukrainischen Präsidenten nach Russland. Doch auch unter der neuen Regierung unter Petro Poroschenko wird es nicht ruhiger. Stattdessen brechen wenig später auf der Krim-Halbinsel Unruhen aus. Anhänger der neuen ukrainischen Regierung, mehrheitlich Krimtataren, stoßen dort mit Russen, Russischstämmigen und pro-russischen Demonstranten zusammen. Im Streit über EU-Anbindung, Unabhängigkeit und Anschluss an Russland kommt es zu Verletzten und Toten. Der Präsident des Krim-Parlaments reist nach Russland, um sich russische Unterstützung zu erbitten.
Russland startet daraufhin den altbewährten Plan: Die Regierung entsendet Soldaten, vergibt russische Pässe und befeuert ein Referendum, mit dessen Hilfe sich der pro-russische Teil der Krim von der Ukraine lossagt.
Dieser Text ist Teil des Zusammenhangs: „Krieg in der Ukraine: Wie konnte das passieren?“
Und was macht der Westen? Der Weg zum Referendum, die russische Militärintervention, mit dem das Referendum „abgesichert“ wird, das Referendum selbst und auch das positive Ergebnis, das die Abspaltung von der Ukraine fordert, werden international scharf verurteilt. Die Europäische Union erlässt Sanktionen und friert die Vermögenswerte russischer Politiker und Geschäftsleute ein. Die USA reagieren mit Einreiseverboten. Die G8 schließen Russland aus ihrer Mitte aus und tagen fortan als G7. Mehrere Länder verbieten Import- und Exportgeschäfte mit der Krim.
Doch Russland bleibt bei seinem Narrativ. Die Regierung spricht von der „Selbstbestimmung des Krim-Volks“. In einer Pressekonferenz zeigt sich Putin besorgt über die „Orgien der Nationalisten, Extremisten und Antisemiten in der Ukraine“. Die Menschen seien „wegen dieser Gesetzlosigkeit bekümmert.“ Es dauert nicht lange, bis Russland die Krim als Teil des russischen Staatsgebietes anerkennt.
Unterstützung der Separatisten, Ausgabe russischer Pässe, „humanitäre Intervention“ zur Rettung russischer Staatsbürger, Anerkennung der Separatistengebiete. Es ist Russland wieder gelungen.
Annexion durch Kultur: Russische Pässe und russische Schulbücher
Auch in den Volksrepubliken Donezk und Luganzk unterstützt Russland mit Hilfe seiner Geheimdienste separatistische Bewegungen. Auch hier werden im Jahr 2014 rechtswidrige Referenden über eine mögliche Unabhängigkeit von der Ukraine durchgeführt. Auch hier befördert Russland mit verdeckten Militäraktionen und halboffener Unterstützung der Separatisten die Unabhängigkeitsbestrebungen. Als in Donezk und Lugansk Russen an der Spitze der selbsternannten Volksrepubliken stehen, beginnen die Schulen damit, aus russischen Schulbüchern zu unterrichten, Geschäfte nehmen nun vorrangig den russischen Rubel an. Ab dem Jahr 2019 werden russische Pässe an die Einwohner verteilt.
Russland schafft sich Platz. Staat um Staat, Gebiet um Gebiet tastet und bombt Wladimir Putin sich näher an den Westen heran – und wirft dem Westen dabei vor, immer näher an ihn heranzurücken. Putin spricht von Selbstverteidigung gegen einen westlichen Aggressor. Man kann es kaum deutlicher feststellen: Das Gegenteil ist der Fall.
Am 21. Februar 2022 erklärt Wladimir Putin der Welt, dass die ukrainische Armee Terroranschläge auf die russische Bevölkerung in der Ost-Ukraine geplant habe, dass ein ukrainischer Militärschlag drohe, dass es nun darum gehe, die Zivilbevölkerung zu schützen. Zeitgleich werden öffentlichkeitswirksam Menschen aus Donezk und Luhansk in Bussen nach Russland „evakuiert“. Wenig später marschiert das russische Militär offen in die abtrünnigen Gebiete ein. Die russische Staatsführung erklärt nun, dass man einen „Genozid“ an russischen Staatsbürgern abwenden müsse und schwadroniert von „drogenabhängigen Nazis“, die es zu bekämpfen gelte, was angesichts des nüchtern auftretenden jüdischen Präsidenten der Ukraine mindestens als kreative Aussage gelten kann.
14.000 Menschen sind durch die gewaltsame Annexion der Krim und in den kriegerischen Handlungen in der Ost-Ukraine getötet worden. Viele weitere werden nun durch den russischen Angriffskrieg folgen. Ähnlich wie im tschetschenischen Grosny, dem georgischen Tiflis und dem syrischen Aleppo, wo die russischen Streitkräfte an der Seite des syrischen Machthabers Assad kämpfen, stehen nun in besonderem Maße zivile Einrichtungen, Wohnhäuser, Krankenhäuser und sogar Geburtskliniken unter Beschuss. Es ist ein unerbittlicher, unbarmherziger Krieg, bei dem russische Streitkräfte Zivilisten, Flüchtlinge, Journalisten, Frauen, Männer und Kinder in Beschuss nehmen. Beinahe so, als wolle Wladimir Putin die ukrainische Zivilbevölkerung für ihren Widerstand bestrafen.
Im Gegensatz zum Krieg in Georgien findet dieser militärische Überfall sein Ende nicht nach wenigen Tagen. Die ukrainischen Streitkräfte verteidigen ihre Stellung, kämpfen für ihre Heimat und wehren sich mit unerschütterlicher Moral gegen den russischen Angriff.
In dem bemerkenswerten Essay „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“, das auf der Webseite des Kremls auf Russisch, Ukrainisch und Englisch zu lesen ist, legt Wladimir Putin seine Idee eines großrussischen Reiches dar und erklärt die Verbundenheit von Russen und Ukrainern.
Es ist ein Text voller Geschichtsklitterung, verdeckten und offenen Drohungen und entspricht in weiten Teilen dem, was man heute gemeinhin als „Schwurbelei“ bezeichnen würde. Aber auch dieser Text deutet an, was der Zeitungsartikel im Neuen Deutschland bereits offenbarte: Der Mensch Wladimir Putin ist bereit, Militärdiktatur und Menschenrechtsverletzungen zu befördern, wenn diese seinen Interessen dienen. Wenn sich dadurch Stärke und Macht demonstrieren lassen, wenn sich die Position der Schwäche vermeiden lässt. Putin träumt von einer imperialistischen Herrschaft unter seiner Führung.
Wollte man eine „Sendung mit der Maus“ über die illegitime Erweiterung des eigenen Staatsgebietes produzieren, müsste man nur das russische Vorgehen in Georgien und der Ukraine abfilmen. Man könnte darstellen, wie das größte Land der Welt sich aufmacht, sein Staatsgebiet noch weiter zu vergrößern, unter Missachtung des Völkerrechts, internationaler Verträge und aller diplomatischen Bemühungen. Im Gegensatz zu den autonomen Republiken Russlands sind Georgien und die Ukraine souveräne und unabhängige Länder mit unumstößlicher territorialer Integrität. Trotz aller Konflikte im Innern, gibt es keinen einzigen Grund für Russland, in diese Länder einzumarschieren beziehungsweise Gebiete innerhalb dieser Länder zu überfallen. Dass Wladimir Putin es dennoch tut, sollte nach dieser Lektüre nicht mehr verwundern.
Putins außenpolitisches Wirken zeugt in allen Facetten davon, dass dieser Mann das geopolitische Ungleichgewicht und den Unfrieden als Mittel seiner Politik versteht. Die brutale russische Militärintervention in Syrien, die zahlreichen Desinformationskampagnen, die Manipulation westlicher Wahlen, die Vergiftung von Dissidenten, der Abschuss eines zivilen Flugzeugs der Malaysia Airlines, all dies scheint einem einzigen Motiv zu entspringen: die Welt zu erschüttern, den Westen zu destabilisieren – und aus alledem gestärkt hervorzugehen.
Man könnte das Selbstbild Putins auch mit anderen Worten beschreiben: Wladimir Putin ist ein starker Mann. Zumindest glaubt er das.
Redaktion: Lisa McMinn; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger