Die russische Regierung hat kürzlich ein neues Gesetz erlassen: Wer den Krieg in der Ukraine als solchen bezeichnet, muss mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen. Seither mussten die meisten verbliebenen unabhängigen Medien die Arbeit einstellen, Journalist:innen verlassen das Land.
Wie du vielleicht weißt, studiere ich derzeit noch. Ich bin in einem internationalen Master eingeschrieben, der Journalist:innen aus aller Welt zusammenbringt. Deshalb habe ich meine Kollegin und Kommilitonin Daria Gorschenina aus Sankt Petersburg gefragt, wie es ihr und ihrer Familie mit den Sanktionen des Westens geht, wie es um die Pressefreiheit in Russland steht und ob sie Angst um die eigene Zukunft hat.
Dasha hat in Russland unter anderem ein Medienprojekt geleitet, dass Journalist:innen in der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen schult. Aktuell lebt sie in Dänemark. Nach Russland zurückkehren wird sie erst einmal nicht – die Angst ist zu groß.
Die EU und die USA haben nach dem russischen Angriff auf die Ukraine schwere Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Wie wirkt sich das auf dich und dein Umfeld aus?
Die Sanktionen haben meine Familie und meine Freunde hart getroffen. Um ehrlich zu sein: Der Rubel-Wechselkurs bringt mich zum Weinen. Vor der Annexion der Krim hat eine Tafel Schokolade in Russland 30 bis 40 Rubel gekostet. Nach der Annexion der Krim und den daraufhin verhängten Sanktionen waren es 100 bis 120 Rubel. Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie die Preise jetzt steigen werden. Klar ist: Löhne und Renten werden auch jetzt, nach der „Spezialoperation“, nicht ausreichend angepasst werden, genauso wie das nach der Annexion der Krim nicht geschah. Meine Mutter hat angefangen, Getreide zu horten. Und wir alle haben Angst um die Zukunft unseres Landes.
Wie geht es den Russ:innen außerhalb deines persönlichen Umfeldes?
Es ist sinnlos, die russische Bevölkerung als einheitliche Masse zu betrachten. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch unterscheidet passend zwischen vier „Russlands“: Die erste Gruppe besteht ihr zufolge mehrheitlich aus Angestellten und lebt in Städten mit mehr als einer Million Einwohnern. Die Mehrheit dieses „ersten Russlands“ gehört zur Mittelschicht und hat genug Geld, um ins Ausland zu reisen. Dementsprechend teilen sie kosmopolitische Werte. Das „zweite Russland“ lebt in Kleinstädten mit durchschnittlich 300.000 Einwohnern. Das Leben dort erinnert in großen Teilen an Sowjetzeiten. Das „dritte Russland“ ist im Allgemeinen ländlich und strukturschwach geprägt, die Menschen leben in kleineren Dörfern. Und das „vierte Russland“ besteht aus Migranten und Menschen aus Kaukasien, die kaum Kontakt zu den anderen Gruppen haben. Die Proteste, die wir aktuell sehen, kommen aus der ersten Gruppe. Die anderen Gruppen sind insgesamt eher unpolitisch oder sympathisieren häufiger mit Putin.
Treffen die Sanktionen dich auch persönlich?
Ja. Meine russischen Bankkarten funktionieren im Ausland nicht mehr. Und viele europäische Banken haben aufgehört, Überweisungen aus Russland zu akzeptieren. Ich habe das Glück, dass ich von einem Stipendium der EU-Kommission lebe. Das deckt meine Studiengebühren und Lebenshaltungskosten. Ich muss mir also keine Sorgen machen. Aber wenn mir in Europa etwas zustößt, werden meine Eltern nicht in der Lage sein, mir finanziell zu helfen.
Außerdem ist es ein wirklich seltsames Gefühl, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können. Der Luftraum ist für russische Flugzeuge gesperrt. Das fühlt sich an wie ein Eiserner Vorhang 2.0. Eigentlich hatte ich vor, nach meinem Abschluss 2023 zurück nach Hause zu gehen. Meine Heimatstadt Saratow war schon vor dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine schwer erreichbar. Jetzt ist es völlig unmöglich. Ich weiß auch nicht, ob ich in der Zukunft nochmal ein Visum in Europa bekomme. Das zweite Jahr meines Masters soll eigentlich in Tschechien stattfinden, wo ich die Spezialisierung „Totalitarism and Transition“ studiere. Aber die tschechischen Behörden stellen Russ:innen keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen mehr aus. Nur weil wir Russ:innen sind. Deshalb weiß ich aktuell nicht, ob und wie ich weiter studieren kann.
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Findest du die Sanktionen gerechtfertigt?
Das Problem ist: Ich habe das Gefühl, dass die Sanktionen des sogenannten „Westens“ auf die durchschnittlichen Russen abzielen. Sie treffen den Durchschnittsbürger. Aber was ist mit den Eliten innerhalb Russlands? Ich hatte nicht das Gefühl, dass die nach der Annexion der Krim irgendetwas verloren haben – und ich habe auch jetzt nicht das Gefühl, dass das in großem Ausmaß passiert. Aber klar, ich verstehe die Logik: Wenn die einfachen Bürger:innen vor leeren Regalen im Supermarkt stehen oder nicht mehr an Medikamente kommen, die früher aus dem Ausland geliefert wurden, dann werden sie – so die Annahme – protestieren.
Diejenigen, die aktuell protestieren, werden brutal unterdrückt …
Ich denke derzeit jeden Tag über unsere kollektive Verantwortung nach. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist, dass der Konflikt begonnen hat. Wir alle wissen, dass die Befehle einzig und allein von Putin ausgehen. Aber vielleicht hätte ich irgendetwas tun können. Seit meinem 18. Geburtstag habe ich an allen Wahlen teilgenommen – und dabei immer gegen Putin und die Regierungspartei gestimmt. Früher habe ich an Protesten teilgenommen, um Alexej Nawalny zu unterstützen. Aber mit der Zeit wurde das Risiko, verhaftet zu werden, immer größer. Ich hatte Angst, meinen Studienplatz zu verlieren. Ich hatte Angst vor Vorstrafen in meinem Führungszeugnis. Ich hatte Angst, kein Visum für Dänemark zu bekommen. Ich hatte Angst, so wie jeder andere Mensch in Russland auch.
Es ist immer eine individuelle Entscheidung zu protestieren oder zu Hause zu bleiben. Und in den vergangenen Jahren bin ich zu Hause geblieben. Gleichzeitig habe ich vor einigen Jahren mein eigenes Medienprojekt gegründet, um jungen russischen Journalisten beizubringen, wie man über Menschenrechtsverletzungen berichtet. Ich habe das Gefühl, dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe, um Russland zu einem „besseren“ Ort zu machen, zu demokratisieren und den Konflikt zu „verhindern“. Aber ich hätte mehr tun können. Wir alle in Russland hätten mehr tun können. Wir sind alle mitverantwortlich für das, was aktuell geschieht.
Die russische Regierung stellt den Krieg in der Ukraine als „Spezialoperation“ dar. Wie werden die gegen das Land verhängten Sanktionen erklärt?
Es gibt keine logische Erklärung. Der russischen Propaganda zufolge verhängt der Westen, also die USA und die EU, Sanktionen gegen unser Land, weil sie nicht wollen, dass die russische Bevölkerung in Frieden lebt: Der Westen will die russische Bevölkerung nicht vor dem vermeintlichen Völkermord in der Ukraine schützen. Ich glaube: Die westlichen Sanktionen werden von der russischen Regierung unterschätzt. Die will derzeit vor allem den Eindruck vermitteln, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.
Es gibt ein neues Gesetz, das es ermöglicht, Journalist:innen für die Verbreitung von angeblichen Fake News über den Krieg ins Gefängnis zu schicken. Unabhängige Medien werden geschlossen, einige verlassen das Land. Zur gleichen Zeit wurde Facebook gesperrt. Inwieweit machst du dir Sorgen um die Meinungs- und Pressefreiheit in Russland?
Vor dem Konflikt mit der Ukraine gab es in Russland zumindest noch den Anschein von Pressefreiheit. Es gab einige unabhängige Oppositionsmedien. Nach der Verabschiedung dieses neuen Gesetzes haben alle unabhängigen Medien ihre Berichterstattung über den Konflikt eingestellt oder mussten gleich vorübergehend schließen. Die Meinungs- und Pressefreiheit in Russland ist tot.
Du arbeitest selbst als Journalistin. Hast du Angst davor, gewisse Dinge zu sagen oder zu teilen?
Als Journalistin und russische Staatsbürgerin habe ich die ganze Zeit Angst. Ich bin im vergangenen August von Russland nach Dänemark gezogen. Irgendwann wurde mir klar, was für ein Leben die Menschen in Europa führen. Sie müssen keine Angst haben. Ich habe mich daran gewöhnt. Aber als der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine begann, kehrte diese Angst, vom Staat bestraft zu werden, zurück.
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Wovor genau hast du jetzt Angst?
Ich habe Angst, dass ich ins Gefängnis komme oder für jedes falsche Wort gefoltert werde, wenn ich nach Hause komme. Deshalb habe ich beschlossen, nicht zurückzukehren, bis es einen Regimewechsel in Russland gibt. Meine Mutter sagt, ich solle vorsichtig sein. Zitat: „Dascha, wenn sie dich nicht holen, werden sie mich holen. Mit „sie“ meinen wir die Polizei oder FSB-Agenten.
Es gibt in Russland keinen Rechtsstaat mehr. Gesetze sind absichtlich vage formuliert, um die Bestrafung von Menschen zu erleichtern. Ich kann des Extremismus beschuldigt werden, wenn ich mich öffentlich über den Konflikt und das autoritäre russische Regime äußere. Ich kann als „ausländische Agentin“ eingestuft werden, wenn ich ein Stipendium der EU-Kommission erhalte und Nachrichten von oppositionellen Medien auf Instagram poste, die als „ausländische Agenten“ betrachtet werden. Ich kann des Verrats beschuldigt werden, wenn ich Spenden für die Ukraine überweise. Der Genosse Major kann sich die Strafe aussuchen.
Man mag sich jetzt fragen: Bin ich nicht einfach nur irgendeine Journalistin, die derzeit im Ausland studiert? Genau das ist der Punkt. Autoritäre Regime bestrafen Menschen willkürlich, um die Bevölkerung zu verängstigen. Deshalb habe ich große Angst um mein Leben – und um das Leben meiner Familie.
Wie denkst du über deine eigene Zukunft als Journalistin in einer solchen Medienlandschaft?
In der russischen Medienlandschaft gibt es keine Zukunft für mich. Ich bin nicht bereit, Kompromisse einzugehen und Propaganda zu verbreiten. Aber ich wollte schon immer etwas für das russische Publikum machen – und auch über Russland berichten. Als ich mich für das Erasmus-Mundus-Journalism-Programm beworben habe, habe ich angegeben, dass ich gerne ein grenzüberschreitendes, journalistisches Projekt für die europäische und die russische Gemeinschaft ins Leben rufen würde, um das Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen und demokratische Werte zu schärfen. Ich fürchte, daraus wird nichts. Russland ist in seiner Entwicklung um zehn, vielleicht 20 Jahre zurückgeworfen worden. Unsere Beziehungen zu Europa werden sich in nächster Zeit nicht verbessern. Aber aktuell bete ich einfach nur für das Ende dieses Konflikts und dass die Ukrainer uns eines Tages verzeihen werden.
Redaktion: Lisa McMinn; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion Iris Hochberger und Christian Melchert